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Spiegelbild der Gesellschaft

20.08.2019

Früher Hausbesetzer, heute Eventmanager: Ein Seminarprojekt an drei bayerischen Universitäten untersucht die Geschichte der Evangelischen Studierendengemeinden.

In den 1970ern unterstütze sie noch die Hausbesetzerszene und überlegte, im Notfall auch mal ein Flugzeug zu entführen. Heute treffen sich die Studenten in der Evangelische Studierendengemeinde (ESG) etwa für Themengespräche, Tanzkurse und Kochabende. Zum ersten Mal hat sich ein Seminar an drei Universitäten gleichzeitig mit der Geschichte der Evangelischen Studierendengemeinden beschäftigt. Das Seminarprojekt fand gleichzeitig an den Universitäten München, Regensburg und Augsburg statt.

„Bisher gab es kaum Forschung über die Evangelischen Studierendengemeinden“, berichtet Professor Oelke von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LMU, der das Seminar initiiert hat. „Dabei zeigen sich hier wirklich spannende Themen: Die Evangelische Studierendengemeinde ist ein Spiegelbild der Gesellschaft – und das zeigt sich auch an ihrer Geschichte.“

Auch organisatorisch war das Seminar eine Herausforderung: An drei Universitäten wurden parallel weitgehend identische Seminare geplant und gehalten, im Oktober wird ein Workshop sogar alle interessierten Studierenden gemeinsam an einen Tisch bringen. Dann kommen die Teilnehmer der Universitäten zusammen, um die Zukunft der ESG zu diskutieren. Im Fokus die Frage, welchen Weg die Studierendengemeinde einschlagen sollte. „Früher haben sich die Mitglieder ja tatsächlich getroffen, diskutiert und Aktionen geplant“, berichtet Oelke. „Aber was heißt das im Zeitalter der Digitalisierung? Trifft man sich jetzt virtuell? Diese Entscheidung sollen Studierende treffen!“. Ausgerichtet wird der Workshop in Nürnberg von evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrern der ESG, die auch die regelmäßig an Seminaren teilgenommen haben und ebenfalls Einblicke in die Geschichte der ESG gewonnen haben. Dabei unterstützt die ESG der LMU München das Seminar auch inhaltlich, indem sie etwa Flugblätter mit politischen Parolen aus ihren Archiven bereitstellt. Dieses oft noch unerforschte Material ist im Zuge des Seminars bearbeitet und ausgewertet worden.

„Die ESG hat sich verändert“ Im Zentrum der Seminare an den einzelnen Universitäten steht dagegen die Geschichte im 20. Jahrhundert. Denn die Evangelischen Studierendengemeinden bestehen, gegründet als Deutsche Christliche Studentenvereinigung, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Vom Nationalsozialismus verboten, erhielten sie nach 1945 als eine der ersten Institutionen innerhalb der Universität, aber außerhalb deren zentraler Verwaltung einen starken Zulauf. Ab den 1960ern durchlief die ESG dann eine starke Politisierung. Doch während in den 70ern die Politik an sich das große Thema war und in den 80ern die Friedensbewegung im Vordergrund stand, ist die ESG heute von der großen Bühne in den Hintergrund getreten. „Ich habe den Eindruck, dass die ESG sich im gesellschaftlichen Wandel stark verändert hat“, berichtet Oelke. Der politische Anspruch sei immer noch vorhanden, werde aber nicht mehr so vehement und ausschließlich vertreten. „Spiritualität und der Bereich gemeinsamer Freizeitgestaltung sind ebenso wichtig geworden“, resümiert der Seminarleiter.

Vielleicht auch aus diesem Grund traf das Seminar bei allen beteiligten drei Universitäten auf starkes Interesse bei den Studierenden, zudem sei es ein außergewöhnliches Thema, so Oelke, da es bereits im Studium eigene Forschungsarbeit ermögliche. Für ihn ist das Seminarprojekt Impulsgeber für eine dezidierte Beschäftigung der Geschichte der ESG. „Dabei sind die Konstanten der Studierendenarbeit über allen gesellschaftlichen Wandel des 20. Jahrhunderts erkennbar geworden: biblische Fundierung, christliche Ansprache aller Studierenden und ein offener Blick für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie die Bereitschaft, diese zu ändern." Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewann die Studierendenarbeit einen politischen Zuschnitt; daneben sei das, was innerhalb der ESG unter „Gemeinde“ verstanden wird, einem permanenten Wandlungsprozess unterworfen. Die Beschäftigung mit der Geschichte habe für die Studierenden den Blick für die Aufgaben der Zukunft geöffnet: das Verständnis einer „Gemeinde“ innerhalb der Studierendenschaft unter den digitalen Kommunikationsbedingungen neu zu bestimmen. Aus Sicht der Studierenden keine einfache Aufgabe, zumal in einer Zeit, in der der Faktor Religion zunehmend aus der Hochschulöffentlichkeit in den Bereich des Privaten verbannt zu werden scheint. „An dieser Stelle muss die zukünftige Arbeit der ESG in gegenläufiger Weise ansetzen", so Oelkes Fazit.

Die Ergebnisse des Seminars sind ab dem 1. September 2019 auf der Homepage vom Lehrstuhl Professor Oelkes zu finden: www.kg2.evtheol.uni-muenchen.de

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