Professor Mayer, was konnten Sie in Ihrer Studie zu Sprachentwicklungsstörungen bei Schulkindern herausfinden?
Wir haben die Häufigkeit und die Art sprachlicher Einschränkungen bei Schulanfänger*innen an sonderpädagogischen Förderzentren unabhängig von deren diagnostiziertem oder angenommenem sonderpädagogischen Förderbedarf ermittelt. Wir haben festgestellt, dass sprachliche Einschränkungen nicht nur bei den Kindern nachweisbar sind, für die besonderer Förderbedarf im Bereich Sprache festgestellt wurde, sondern auch bei den Kindern mit Förderbedarf im Bereich emotionale und soziale Entwicklung. Insbesondere die Werte für den Wortschatz und das Verstehen von Sprache lag bei deutlich mehr als 80 Prozent der Kinder nicht nur in einem unterdurchschnittlichen, sondern in einem therapiebedürftigen Bereich. Betroffen sind dabei sowohl monolingual deutsch aufwachsende Kinder als auch Kinder, die in der Folge eines Migrationshintergrundes noch nicht ausreichend viele Möglichkeiten hatten, die Unterrichtssprache zu erlernen. Eine Unterstützung von Sprachheilpädagogen und Sprachtherapeuten ist deshalb aus meiner Sicht notwendig, um die sprachliche Problematik zu lindern und mögliche Folgeerscheinungen zu vermeiden.
Welche Folgen haben solche Defizite bei diesen Kindern?
Erschreckend ist dieses Ergebnis deshalb, weil der Wortschatz und das Sprachverstehen zu den besten Prädiktoren für das Leseverständnis und den schulischen Lernerfolg, aber auch für eine gesunde psychosoziale Entwicklung zählen. Gelingt es nicht, diese Kinder in sprachlicher Hinsicht effektiv zu unterstützen, ist zu erwarten, dass sie im Laufe ihrer Schulzeit Lernschwierigkeiten in nahezu allen Fächern entwickeln werden. Denn Sprache ist das zentrale Medium für die Vermittlung schulischer Lern- und Bildungsinhalte. Sind Kinder bei Erklärungen durch die Lehrkraft oder bei der Informationsentnahme aus gedruckten Texten in sprachlicher Hinsicht überfordert, fehlen die Grundvoraussetzungen für die Aneignung schulischer Lerninhalte, auch wenn die kognitiven Voraussetzungen vorhanden wären.
Was bedeutet aus Ihrer Sicht das Ergebnis für den künftigen Förderbedarf dieser Kinder?
Zunächst ist es sicherlich in einem ersten Schritt notwendig, das häufige Vorkommen sprachlicher Beeinträchtigungen in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, speziell der Erzieher*innen an Kitas und der Lehrkräfte an Regelschulen, zu rücken. Es ist von besonderer Bedeutung, dass Berufsgruppen, die mit betroffenen Kindern arbeiten, dafür sensibilisiert werden, dass diese nicht nur eine unspezifische Sprachförderung oder eine sprachsensible Unterrichtsgestaltung benötigen, sondern die alltags- bzw. unterrichtsintegrierte therapeutische Unterstützung von Sprachheilpädagog*innen und Sprachtherapeut*innen.
Im Zusammenhang mit dem Auf- und Ausbau eines inklusiven Schulsystems hat die Bayerische Staatsregierung erfreulicherweise die schulische und die universitäre Sonderpädagogik gestärkt, indem zum Beispiel zusätzliche Stellen zur Verfügung gestellt wurden und in Regensburg ein dritter Standort für das Studium der Sonderpädagogik eingerichtet wurde. Andererseits sieht die Staatsregierung Handlungsbedarf insbesondere für den Bereich der sozialen und emotionalen Entwicklung. So wird zum Beispiel aufgrund des erhöhten Bedarfs an Sonderpädagog*innen derzeit eine Zweitqualifizierungsmaßnahme für Realschul- und Gymnasiallehrkräfte angeboten, die bereits ein erfolgreiches Lehramtsstudium absolviert haben. Diese zweijährige Qualifikationsmaßnahme beinhaltet ausschließlich Inhalte aus dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Internationale Studien belegen, dass soziale und emotionale Schwierigkeiten Folgeerscheinungen sprachlicher Einschränkungen sein können. Deshalb wäre es wünschenswert, wenn in diese Qualifikationsmaßnahme auch Inhalte aus dem Förderschwerpunkt Sprache integriert würden. Sprachheilpädagogische und sprachtherapeutische Unterstützungsmaßnahmen können bei betroffenen Kindern als präventive Maßnahme gegen die Ausbildung kognitiver, sozialer und emotionaler Probleme fungieren.
Professor Andreas Mayer ist Lehrstuhlinhaber für Sprachheilpädagogik an der LMU und forscht schwerpunktmäßig zur Theorie und Praxis gestörter Schriftspracherwerbsprozesse, zur Früherkennung und Prävention selbiger sowie zu den Zusammenhängen zwischen den Funktionen der phonologischen Informationsverarbeitung und der Lese- und Rechtschreibkompetenz.