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Über die Einflüsse der vernetzten Welt

06.05.2019

Das Münchner Zentrum für Globalgeschichte geht mit einem Symposium offiziell an den Start. Welche Ziele die Einrichtung hat, erläutert ihr Sprecher, der Historiker Roland Wenzlhuemer.

Was ist Globalgeschichte und was ist das Besondere daran? Wenzlhuemer: Globalgeschichte ist ein noch vergleichsweise junger Ansatz in der historischen Forschung, der sich vor allem für die Bedeutung und für die Wirkmächtigkeit globaler Verflechtungen interessiert. Globalhistoriker untersuchen, wie und warum Menschen solche Verbindungen über Kontinente hinweg aufbauen und wie ihre Lebenswelten dadurch geprägt werden. Wir vom Münchner Zentrum verstehen diesen Forschungsansatz eher als Perspektive auf die Geschichte, eine Perspektive, die spezifisch nach der Bedeutung der Verflechtungen fragt. Andere Forscher sagen, dass es eher um den Gegenstand der Verflechtung selbst geht, und sind dann allerdings stärker festgelegt, was die zu untersuchenden Zeiten angeht. Dann liegt oft – und auch zurecht – ein ganz starker Fokus auf dem 19. Jahrhundert. Wir haben keine solche Begrenzung und freuen uns zum Beispiel auch die Archäologie an Bord zu haben.

Globalgeschichte ist also etwas anderes als eine Geschichte der ganzen Welt. Es ist etwas völlig anderes. Globalgeschichte, und das wird im Übrigen auch häufig so gemacht, lässt sich in ganz kleinen räumlichen Zusammenhängen verfolgen. Es kann Gegenstand einer Untersuchung sein, wie Städte, Dörfer oder aber auch das Leben eines Einzelnen von globalen Zusammenhängen geprägt ist. Das Untersuchungsumfeld muss also keineswegs global sein und ist es auch in den meisten Fällen nicht. Es geht um die Einbettung des Gegenstandes in ein globales oder transregionales Netzwerk. Leitbegriffe gibt es unzählige, wir in München verwenden ganz bewusst den relativ neutralen Begriff „Verbindung“ oder „Connections“, weil das die größtmögliche Untersuchungsbreite zulässt.

In den vergangenen Jahren ist Kritik lautgeworden, die Globalgeschichte sei ein wenig über das Ziel hinausgeschossen, weil sie sich angeblich für alles in der vernetzten Welt zuständig fühlte. Die Kritik zielt in die Richtung, dass doch nicht alles miteinander verbunden sei, dass man nicht alles mit der Perspektive der Globalisierung sehen könne, wenn doch solche Dinge passieren wie der Brexit, wenn es Renationalisierungen in vielen Staaten gibt – eindeutig Prozesse der Desintegration. Da ist natürlich etwas Wahres dran, gleichzeitig handelt es sich aber auch um ein gewisses Missverständnis davon, was Globalgeschichte erklären will. Denn Globalhistoriker postulieren ja nicht, dass alles immer weiter zusammenwächst und die Welt vollständig globalisiert ist und ein Einheitsbrei entsteht. Denn natürlich gehört zu ihrer Forschungsperspektive auch, dort genau hinzuschauen, wo solche Verflechtungsprozesse gerade nicht ablaufen oder sich umkehren.

Können Sie diesen Unterschied an Beispielen festmachen? Es gäbe ganz viele Beispiele aus der Gegenwart, wenn man etwa an Migrationsbewegungen denkt, ich möchte aber ein historisches Beispiel aus meiner eigenen Forschung wählen. Ich habe mich viel mit der Geschichte der Telegrafie beschäftigt. Das ist ein Klassiker der Vernetzungsgeschichte: Der Telegraf, der alles zusammenbringt, integriert und schneller macht. Jetzt gibt es aber Fälle, wo Telegrafisten beispielsweise auf entfernten einsamen Inseln stationiert waren und dort die Infrastruktur aufrechterhielten. Sie waren global vernetzt im kommunikativen Bereich, konnten sich aber von diesen Inseln nicht wegbewegen. Wenn sie Zahnschmerzen hatten, dauerte es Monate, bis sie einen Arzt aufsuchen konnten. Und wenn ihnen die Nahrung ausging, weil das Versorgungsschiff ausblieb, dann mussten sie tatsächlich hungern. Diese Diskrepanz zeigt sowohl einen Verflechtungs- als auch einen Entflechtungskontext, eine Verbindung und eine Nicht-Verbindung.

Was soll das neue Zentrum für Globalgeschichte leisten? Das Fach hat sich in den vergangenen 20 Jahren ungeheuer dynamisch entwickelt, jetzt tritt es in eine Phase der Konsolidierung ein, was auch heißt, wieder stärker über theoretisch-methodische Fragestellungen zu reflektieren und den Fokus zu schärfen. Für das Zentrum wäre eines unserer inhaltlichen Ziele: Wir wollen ganz unterschiedliche Forschung hier beheimaten, aber gemeinsam sollte den Projekten sein, dass sie auch die theoretisch-methodischen Grundlagen der Globalgeschichte mitdenken. Eine organisatorische Aufgabe ist, die an der LMU ja in Hülle und Fülle vorhandene globalhistorische Forschung zu bündeln.

Welche Themen, Projekte und Fachrichtungen bringt das Zentrum zusammen? Das Zentrum hat einen Schwerpunkt in der Geschichtswissenschaft, die Projekte kommen aber auch, um nur ein paar Beispiele zu nennen, aus der Archäologie, der Theaterwissenschaft, der Kunstgeschichte, der Geographie, aus der Ethnologie oder der Soziologie. Zum einen Teil sind das Projekte, die an der LMU bereits existieren, zu einem anderen Teil haben wir unsere eigenen Forschungsprojekte mitgebracht. Und zum Dritten haben wir Neues eingeworben; und wir hoffen, dass sich das zu einem sinnvollen Ensemble zusammenfügt.

Sie haben auch ein Fellowship-Programm gestartet. Ja, das ist ein wichtiges Element mit dem das Zentrum nach außen wirkt. Damit können Kolleginnen und Kollegen von außerhalb für eine gewisse Zeit nach München kommen und den Freiraum für ihre wissenschaftlichen Arbeiten nutzen. Die erste Kohorte von Fellows ist bereits hier; das Programm wird sehr, sehr gut angenommen. Ein nicht unwichtiger Punkt dabei: Die Globalgeschichte ist an den Wissenschaftszentren der Nordhalbkugel, wie man heute sagen würde, entstanden und noch immer vor allem dort zuhause. Seit ein paar Jahren aber regt sich ein Interesse an globalhistorischer Forschung auch in Südamerika, Asien und an afrikanischen Universitäten. Das Fellowship-Programm könnte das befördern und mithelfen, die immer noch recht einseitige geographische Verteilung langsam aufzubrechen. Schließlich ist die Globalgeschichtsforschung einmal damit angetreten, den eurozentrischen Blick zu überwinden. Außerdem verfolgen wir am Zentrum auch zwei Projekte, die sich dezidiert an eine breitere Öffentlichkeit richten: eine Ausstellung zur Globalisierung für Kinder und eine App, die Orte der Globalisierung in München zeigt. In diesen Projekten werden keine wissenschaftlichen Erkenntnisse im engeren Sinne gewonnen; es sind Versuche der Vermittlung.

Vernetzt ist die Globalgeschichte auch bereits mit dem Center for Advanced Studies. Im Herbst soll dort mit einer Tagung als Auftakt ein neuer Schwerpunkt seine Arbeit aufnehmen: „Global Dis/Connections“. Worum geht es da? Die Tagung mit ihrem Thema „Waiting“ wird nur teilweise von uns getragen, dort kommen eine ganze Reihe unterschiedlicher Partner zusammen. Das Thema ist gewachsen aus dem LMU-Cambridge-Partnership, das ja gerade gebildet worden ist und Kollegen aus Cambridge und München vereint, und aus einer Zusammenarbeit mit dem Institute for Advanced Study CEU in Budapest. Gemeinsam veranstalten wir diese Tagung. Warum „Warten“? Das passt genau in den Zusammenhang von Verbindung und Nicht-Verbindung. Reisen zum Beispiel hatte und hat sehr viel mit Warten, mit Ungewissheit, mit Transit zu tun. Gerade auch, wenn Sie sich die Migrationsprozesse der Gegenwart ansehen, bei denen die Flüchtende oft Monate oder gar Jahre in Zwischenräumen festhängen. „Warten“ dient sozusagen als ein fokaler Punkt dafür, Verbindung und Nicht-Verbindung im Zusammenspiel auch spürbar zu machen.

Roland Wenzlhuemer ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der LMU und Sprecher des neugegründeten Münchner Zentrums für Globalgeschichte.

Das Münchner Zentrum für Globalgeschichte wird am Donnerstag, dem 9. Mai, mit einem Festakt und einem Empfang im Historischen Kolleg offiziell eröffnet. Als Auftakt findet am Mittwoch, dem 8. Mai, und Donnerstag, dem 9. Mai, ebenfalls im Historischen Kolleg der Internationale Workshop „Consolidating Global History: Perspectives and Challenges“ statt.

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