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Umgang mit Risiken: „Auf Vorrat denken"

04.06.2021

Ein Interview mit dem Philosophen und Risikoforscher Nikil Mukerji über die Möglichkeiten, das Ausmaß von Katastrophen zu minimieren.

Auch die Philosophie kann einen Beitrag zum Krisenmanagement leisten, sagt Nikil Mukerji. (Foto: Lara Witossek)

Dr. Nikil Mukerji ist überzeugt: Philosophische Risikoforscher werden nicht nur in der Pandemie gebraucht. Risikoabwägung muss auch jenseits großer Krisen in politische Entscheidungen einfließen. Mukerji ist Akademischer Geschäftsführer des Executive-Studiengangs Philosophie Politik Wirtschaft (PPW) und bezeichnet sich selbst als wissenschaftlichen Skeptiker. Im vergangenen Jahr ist das Buch „Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit“ erschienen, das er zusammen mit Adriano Mannino geschrieben hat. Während das Buch ein Bestseller wurde, blieb weitgehend unbemerkt, dass Mukerji mit seiner Band „Spacemueller“ den Deutschen Rock Preis der Deutschen Popstiftung gewonnen hat. Mit Songs, die schon vor der Pandemie komponiert und aufgezeichnet wurden. „Es ist halt immer gut“, sagt Mukerji, „einen Katastrophenethiker an Bord zu haben, der auf das Risiko achtet, dass einem in einer Pandemie die Musik ausgehen könnte …“

Das folgende Interview wurde Anfang März 2021 geführt und ist der aktuellen Ausgabe der MUM, dem MünchnerUni Magazin entnommen.

Sie haben Ihr Buch über die Corona-Pandemie innerhalb einer einzigen Woche geschrieben. Ein rasantes Tempo. Wie konnte das funktionieren?

Nikil Mukerji: Indem wir bestehende Texte zusammengeführt haben. Wir haben uns ja als Katastrophenethiker bereits ab Januar 2020 mit Covid-19 befasst und davor gewarnt. Unsere Beiträge haben es aber größtenteils nicht in die Medien geschafft. Man war skeptisch. Einige warfen uns Panikmache vor.

Als es herauskam, wurde das Buch ein Bestseller.

Ja, als es für eine effektive Risikoprävention schon zu spät war und man die Krise nur noch managen konnte ...

Deswegen empfehlen Sie in Ihrem Buch „Denken auf Vorrat“.

Genau. Wir sagen, man sollte nicht darauf warten, dass ein Katastrophenrisiko zuschlägt, sondern auf Vorrat denken. Und überlegen, was man tun kann, um sich abzusichern oder das Ausmaß der Katastrophen zu minimieren, sollten sie eintreten.

Was können Sie als philosophischer Risikoforscher leisten?

In der Pandemie ist der Eindruck entstanden, dass Virologen und Epidemiologen die einzigen Experten sind, die in dieser Krise gehört werden sollten. Aber die Philosophie liefert ebenfalls einen wichtigen Beitrag. Erkenntnistheorie hilft bei der Interpretation wissenschaftlicher Urteile, Entscheidungstheorie und Ethik führen sie zu einem Handlungsurteil zusammen.

Muss man sich wirklich in Entscheidungstheorie auskennen, um in einer Krise schnell und adäquat reagieren zu können?

Man sollte zumindest die Grundprinzipien der Entscheidungstheorie kennen. Jede vernünftige Entscheidungstheorie muss zum Beispiel einen Grundsatz der Risikoabsicherung enthalten. Dazu sollte man zumindest den Worst Case in Erwägung ziehen und fragen, wie wahrscheinlich er ist und wie schlimm er wäre. Und man sollte auch die Paradoxien verstehen, die gutes Entscheiden kennzeichnen: Nimmt man etwa Kosten auf sich, um Risiken auszuschließen, sieht es unter Umständen so aus, als würde man Geld zum Fenster rausschmeißen – das bekannte Präventionsparadoxon.

Im Umgang mit der Pandemie vertreten Sie eine starke These …

Wir sagen nur, was in Ländern, die bisher gut durch die Krise gekommen sind, „Common Sense” ist: Man muss früh und entschieden reagieren. Dann schneidet man in jeder Hinsicht besser ab. In unserem Buch heißt diese Strategie „Containment.” Heute firmiert sie als „NoCovid.”

Hätte man die Bürger denn schon im Februar vergangenen Jahres von einer solchen Strategie überzeugen können? Ohne die einprägsamen Bilder aus Italien?

Ich denke schon. Dazu hätte man aber das Geschehen in Wuhan viel eindrücklicher schildern müssen. Hier haben die Medien in meinen Augen versagt.

Wie kommen Sie zu Ihren Prognosen?

Wir stellen eigentlich keine Prognosen an, sondern durchdenken Szenarien und bedingte Wahrscheinlichkeiten. Dazu fragen wir: Was ist denkbar? Und wie wahrscheinlich ist es? Und gegebenenfalls: Wie kann man sich gegen die schlechten Szenarien am besten absichern und wie teuer wäre das? Darf ich Ihnen ein Beispiel geben, das sich auch im Buch findet?

Gerne.

Wir haben letztes Frühjahr gefragt, wie die Durchimpfung der Bevölkerung gelingen könnte, und dabei drei Bedingungen identifiziert: Erstens: Mindestens ein Impfstoff muss erforscht werden. Zweitens: Er muss hergestellt werden. Drittens: Er muss verimpft werden. Was kann hier schief gehen? Antwort: Jeder Schritt. Also hätte man schon früh auf den Ausbau von Herstellungskapazitäten achten müssen. Hat man aber nicht. Die EU hat sich überwiegend auf die Förderung von Schritt Eins konzentriert und die Frage der Produktion ignoriert. Vor genau diesem Szenario haben wir im Buch vor einem Jahr gewarnt. Der nächste Flaschenhals ist die Verimpfung. Wir riskieren, dass hier der nächste Fehler passiert. Sobald genug Impfstoff da ist, könnte es sein, dass wir den gelieferten Impfstoff nicht schnellstmöglich verimpft bekommen.

Ist es nicht ängstlich, sich so sehr auf Risiken zu fixieren?

Ich sage ja nicht, dass man alle Risiken meiden sollte. Ich sage nur, dass man sie absichern sollte, wenn das Schadenspotenzial hoch und die Kosten der Absicherung niedrig sind. Ein Fallschirmspringer zum Beispiel ist kein Angsthase. Auch dann nicht, wenn er seinen Fallschirm sehr gründlich auf Funktionalität prüft, bevor er springt. Das ist nur vernünftig. Übrigens plädiere ich oft dafür, bestimmte Risiken einzugehen. Als der Bundesgesundheitsminister aufgrund sehr seltener Nebenwirkungen einen Impfstopp für AstraZeneca verhängt hat, habe ich mich dafür ausgesprochen, damit weiter zu impfen. Der Stopp war falsch, weil das Risiko extrem unwahrscheinlicher Impfschäden um Größenordnungen unter dem sehr substanziellen Risiko einer Covid-Erkrankung lag, die vielen Menschen drohte.

Sie selbst fürchten Risiken also nicht mehr als andere Menschen?

Nein, ich meide nur irrationale Risiken. Beim Autofahren fahre ich zum Beispiel nie nah auf. Damit erreicht man eh nichts. Und im schlimmsten Fall verursacht man einen extremen Schaden.

Titelbild der MUM-Ausgabe: Porträt eines jungen Manns

Das Interview ist der aktuellen Ausgabe des MünchnerUni Magazins entnommen.

Vor der Pandemie haben Sie sich als Forscher auch mit Verschwörungstheorien auseinandergesetzt. Wie hängt das mit Risikoforschung zusammen?

Verschwörungstheoretiker sind ein Katastrophenrisiko. Das sehen wir in der gegenwärtigen Lage. Es gibt Menschen, die sich, verführt durch Verschwörungstheorien, weigern, eine Impfung anzunehmen. Werden es zu viele, hat das zur Folge, dass sich die Pandemie nicht zeitnah stoppen lässt und das Ausmaß der Katastrophe wächst.

Inzwischen haben einige seriöse Medien Faktenchecks eingeführt. Ist das der richtige Weg, um Verschwörungstheoretikern den Wind aus den Segeln zu nehmen?

Mit Faktenchecks kann man Menschen sensibilisieren, die Gefahr laufen, auf Verschwörungstheorien reinzufallen. Aber es geht nicht nur darum, mit Verschwörungstheorien aufzuräumen. Manche von ihnen stellen sich ja als wahr heraus. Denken wir etwa an die Watergate-Affäre oder den NSA-Skandal. Wenn eine Verschwörungstheorie wahr ist, sollte die Gesellschaft das wissen. Auch hier helfen Faktenchecks.

Das Gespräch wurde Anfang März 2021 geführt.

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