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Verstehen, wie die Täter ticken

29.04.2022

Putins Krieg: „So abstrus sie einem erscheinen mögen, wir müssen die Rechtfertigungen dafür sehr ernst nehmen“, sagt die LMU-Literaturwissenschaftlerin Juliane Prade-Weiss, die über Diskurse zur Massengewalt forscht.

Die Bilder sind so schrecklich wie eindrücklich: zerbombte Wohnblocks, ganze Städte in Schutt und Asche, Leichen von Zivilisten, Massengräber. Spätestens seit den Berichten aus dem Kiewer Vorort Butscha geht es im Kampf um die Ukraine immer mehr um Kriegsverbrechen der russischen Armee. Geht der Diskurs über die Gewalt damit in eine neue Phase?

Prade-Weiss: Wenn wir neben all den Formen von Massengewalt, also Vertreibung, strategischem Bombardement, forciertem Hunger, nun auch Massaker sehen, bedeutet das natürlich eine Eskalation. Aber sie kommt nicht überraschend, ebenso wenig wie die Tatsache, in welcher Offenheit diese Grausamkeiten verübt werden. Da ist sich die Forschung einig: Massaker dienen immer auch der Machtdemonstration; sie sind ein besonders zynisches Mittel. Kennzeichnend ist, dass wir in dieser Situation so viel über juristische Begriffe wie „Kriegsverbrechen“ reden. Aber auch das ist nicht überraschend, denn schließlich geht es darum, das ungeheure Unrecht juristisch zu fassen, zu verurteilen und später Täter zu belangen. Das alles ist richtig und wichtig. Zugleich zeigt sich, dass Völkerrecht und internationales Strafrecht als Leitinstitutionen in internationalen Auseinandersetzungen oft nicht genügen. Das beginnt im jetzigen Fall schon damit, dass Putin sozusagen Begriffsverwirrung betreibt und den Vorwurf eines vorgeblichen Genozids benutzt, um seinen Angriffskrieg zu rechtfertigen.

Warum diese so merkwürdige Maximalrhetorik?

Offen gestanden hatte ich ein sehr ungutes Gefühl, als Putin von Genozid sprach. Das ist das moralisch und juristisch obere Ende internationaler Auseinandersetzung. So abstrus sie einem scheinen mag, diese Rechtfertigung muss man sehr ernst nehmen. Man darf sie nicht nur als Vorwand betrachten für geostrategische materielle Interessen. Viele würden gern denken: Naja, Putin ist einfach wahnsinnig und diese Reden sind hohl. Aber sie sind nicht hohl, sie zeugen von einem nicht nur individuellen Selbstverständnis, das Richtige zu tun. Mit der Behauptung, einen Völkermord verhindern und das Nachbarland entnazifizieren zu wollen, setzt sich Putin ja zumindest rhetorisch ins Recht. Man muss wissen, dass der Begriff Entnazifizierung in Russland anders wahrgenommen wird als in Westeuropa. Es ist auch ein stalinistischer Begriff, in dem es nicht um juristische Aufarbeitung ging, sondern durchaus um sogenannte Säuberungen, also schlicht auch um Morde. Es ist dies eine kalkulierte Ambivalenz: Putin bedient sich so der internationalen als moralisch gut bewerteten Sprache und erinnert gleichzeitig aber an – sehr gewaltvolle – historische Modelle.

Tote in Butscha, Ukraine, aufgenommen am 11. April 2022

Ermittler beginnen mit der grausamen Aufgabe, Leichen aus einem Massengrab hinter der Kirche St. Andreas zu bergen. Sie sichern die Beweise für Kriegsverbrechen. Auf den Straßen der Kiewer Vorstadt, die kurz zuvor von den russischen Truppen verlassen wurde, liegen Kriegstrümmer und Leichen.

© IMAGO/ZUMA Wire
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Eine interessante rhetorische Falle

Warum kann diese Rechtfertigungslogik in Russland offenbar verfangen?

Es gibt ein in Russland beziehungsweise der Sowjetunion sehr lange aufgebautes Narrativ, das das Land nach dem Zweiten Weltkrieg zum eigentlichen Sieger über den Nationalsozialismus erklärt. In der postsowjetischen Zeit unter Jelzin ist sie dann etwas verfallen, wird jedoch unter Putin schon seit Längerem wieder aufgebaut. Das ist nichts, was plötzlich geschehen ist, es ist im Rest der Welt nur nicht so wahrgenommen worden, weil dieses Narrativ innenpolitische Zwecke hat. Dazu passt eine zweite Erzählung, die Russland im jetzigen Konflikt nur eine reaktive Rolle zuschreibt. Das Land reagiere eben lediglich auf die Expansion der Nato. Und es ist in gewisser Weise auch eine interessante rhetorische Falle zu behaupten, die Ukraine sei ein Außenposten der Nato. Dann startet er den Angriff, und freilich muss die Nato dazu Stellung beziehen. Beides hat mit einem Selbstverständnis zu tun, dass Russland den Wiederaufbau seiner Großmacht betreiben müsse. Putin hat ja schon vor vielen Jahren gesagt, der Zerfall der Sowjetunion sei das größte Drama in der jüngeren russischen Geschichte.

Hat diese Rechtfertigungspropaganda Parallelen in der Geschichte??

Vorausschicken muss ich: Historische Parallelen zu ziehen heißt nicht zu sagen: Alles ist gleich. Aber ein wichtiges Muster, das man wiedererkennen kann, scheint mir die scheinbar legitime Forderung nach Sicherheit zu sein. Russland besteht auf Sicherheitsgarantien und fordert damit faktisch, dass souveräne Staaten in seiner Umgebung über ihr Selbstbestimmungsrecht eben nicht mehr verfügen können, etwa über ihr Bündnisrecht. Man könnte das zum Beispiel vergleichen mit der Annexion des sogenannten Sudetenlandes im Nationalsozialismus. Da ging es auch angeblich um die Sicherung der deutschsprachigen Bevölkerung vor Übergriffen. Und diesem vorgeblichen Sicherheitsbestreben wurde im Münchner Abkommen nachgegeben. Natürlich gibt es auch Parallelen zur Kriegsführung Russlands in jüngeren Konflikten. Experten, die sich mit Syrien befassen oder mit dem Tschetschenien-Krieg, konnten sehr genau voraussagen, wie die russischen Truppen jeweils weiter vorgehen würden gegen die Ukrainer. Es ist freilich schwer zu akzeptieren, dass dieser Angriffskrieg keine Singularität ist, sondern Teil einer sich schon über viele Jahre entfaltenden Strategie.

Zerstörung in Butscha nahe Kiew

Das Foto vom 6. April 2022 zeigt ein zerstörtes Wohngebiet in Butscha nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew nach russischen Angriffen.

© picture alliance / AA / Narciso Contreras

Die Feindschaften bestehen fort

Sie haben ein Projekt ins Leben gerufen, das genau solche parallelen Muster, die langen Linien systematisch in den Blick nimmt.

Ja, daran arbeite ich gemeinsam mit dem Zeithistoriker Vladimir Petrović aus Belgrad, der sich mit sogenannten ethnischen Säuberungen vor allem in Jugoslawien beschäftigt hat, und dem Theologen Dominik Markl in Rom, der zum Alten Testament und zum Alten Orient arbeitet. Wir wollen uns mit Rechtfertigungen von Massengewalt beschäftigen, von denen man jetzt sieht, wie ernst man sie nehmen muss. Was uns besonders interessiert, ist die Tatsache, dass auch die Diskurse, die Narrative, die Begriffe, die Heuristiken, die solche Gewalt rechtfertigen sollen, diese Konflikte nicht nur überleben, sondern durch diese Konflikte geradezu zementiert werden.

Zementiert?

Sehr häufig erschaffen solche gewaltsamen Konflikte – das kann man im ehemaligen Jugoslawien sehr gut sehen – erst die wechselseitig verhassten Identitäten, in deren Rahmen Massaker und Massengewaltphänomene verübt werden. Auch wenn der Krieg vorbei sein wird, wird das Problem, das er geschaffen hat, sich nicht erledigt haben. Die Feindschaften, die er geschaffen hat, bestehen fort. Das Völkerrecht und das internationale Strafrecht sind zwar dringend notwendig, aber sie genügen nicht, um genau diesem Problem zu begegnen, dass nämlich Narrative, die Massengewalt rechtfertigen, überleben. Wir wollen erkennen, wie diese Überlieferung geschieht und was man dagegen tun kann, dass sie sich fortpflanzt.

Für gesellschaftliche Diskurse gibt es keine Richter

Warum genügen Völkerrecht und internationales Strafrecht nicht?

Danach können nur Einzelne verurteilt werden. Aber damit Massengewalt in großen Stil ausgeübt werden kann, braucht es die Teilnahme oder zumindest Billigung großer Teile der Bevölkerung. Und die dafür notwendigen Rechtfertigungslogiken sind so komplex, dass sie auch weiterwirken, wenn einzelne Täter verurteilt werden. Für gesellschaftliche Diskurse gibt es keinen Richter. Und: Sie sind ambivalent. Die Geschichtsschreibung beispielsweise lässt sich, wie wir bei Putin sehen, zur Rechtfertigung von Gewalt einsetzen, aber auch zur kritischen Auseinandersetzung und zur Aufarbeitung von Gewalt. Dasselbe gilt für die Religion natürlich, für politische Diskurse, für Populärkultur, Medien, auch für die Literatur.

Wofür muss die Geschichte herhalten?

Zur Rechtfertigung von Massengewalt werden oft historische Narrative bemüht. Sie konstruieren Rückbezüge, die wie im Falle Putins ein paar Jahrzehnte umfassen können, durchaus aber auch Jahrhunderte oder gar Jahrtausende. Es gibt immer wieder auch Rechtfertigungsrhetoriken, die sich religiöser Motive bedienen. Schwierig ist, dass die historischen Erzählungen, die da bemüht werden, in einem einfachen Sinne oft nicht stimmen. Geschichte ist immer eine Erzählung, die auf Fakten basiert. Aber die Frage, wie man diese Fakten miteinander verbindet und vor allen Dingen, welche Schlussfolgerungen eine Gesellschaft aus dem zieht, was geschah, ist immer eine Frage der Rekonstruktion und der Reinterpretation. Das aber räumt auch die sinistere Möglichkeit ein, diese Rekonstruktion eben nicht dazu einzusetzen, weitere Massengewalt zu verhindern, sondern genau zu ihrer Wiederholung.

Wenn Massengewalt und ihre Rechtfertigung ein ideologisches Nachleben haben, was macht das mit den Opfern – und den Tätern? Was macht es mit deren Nachkommen?

Die transgenerationale Übertragung von Traumata ist zuerst an Opfern des Holocausts erforscht worden. Und erst in den letzten Jahren ist auch die generationenübergreifende Weiterfolge der Verleugnung und Verneinung von Täterschaft in den Blick gekommen. So unangenehm es auch ist, man muss Täterschaft verstehen, um sie verhindern zu können. Auf beiden Seiten dominiert häufig Schweigen diese Weitergabe. Es ist inzwischen auch in populäreren Büchern vielfach beschrieben worden, wie Kinder und auch Enkel von Nazitätern berichten, wie diese repressive Atmosphäre des Verschweigens ihre Kindheit geprägt hat. Und dieses Verschweigen gab es, das ist auch sehr, sehr breit beschrieben, für Nachkommen von Opfern des Holocaust. Das ist nicht nur individualpsychologisch sehr belastend, sondern formt auch die Gesellschaft von Überlebenden als Ganze. Und nicht zuletzt müssen ja häufig Überlebende und ihre Nachkommen und Täter sowie ihre Nachkommen miteinander in der Gesellschaft weiterleben. Wir erleben das immer noch, um nur ein Beispiel zu nennen, im ehemaligen Jugoslawien. Auch nach dem Ende der Kriege der 1990er Jahre hat die Region nicht an Konfliktpotential verloren. Die Spaltung und der Hass, nicht zuletzt gespeist aus alten Rechtfertigungsnarrativen, leben weiter und sind dazu geeignet, zu weiteren Konflikten zu führen. Und wenn wir jetzt tagtäglich die Bilder vom Leid der ukrainischen Flüchtlinge sehen: Es ist grauenhaft zu wissen, dass diese Familien und ihre Nachkommen auf Generationen hinaus mit den Traumatisierungen durch Massengewalt zu kämpfen haben werden.

Prof. Dr. Juliane Prade-Weiss ist Inhaberin einer Professur für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung osteuropäischer Literaturen an der LMU. Zusammen mit Prof. Dr. Dominik Markl (Päpstliches Bibelinstitut in Rom) und Dr. Vladimir Petrović (Institut für Zeitgeschichte, Belgrad, Serbien) hat sie das Projekt „Discourses of Mass Violence in Comparative Perspective“ ins Leben gerufen.

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