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Vom Risiko statistischer Fehlinterpretationen

13.04.2022

Karin Binder forscht und lehrt seit Oktober 2021 als Professorin für Didaktik der Mathematik an der LMU. Sie befasst sich vor allem mit dem Problem fehlerhafter Darstellung und Kommunikation statistischer Informationen.

Professorin Karin Binder

Professorin Karin Binder | © @v.zign

Daten spielen in unserer heutigen Gesellschaft eine bedeutende Rolle. Sie können allerdings viel Verwirrung stiften, wenn sie nicht richtig interpretiert beziehungsweise die Ergebnisse ihrer Analyse nicht richtig kommuniziert werden. Die Coronapandemie ist ein gutes Beispiel dafür. „Als es zu Beginn der Pandemie plötzlich viele positive Testergebnisse gab, von denen ein Großteil sich jedoch als falsch-positiv herausstellte, wie etwa in Schulen, in denen viel getestet wurde, wirkte das in der medialen Berichterstattung dramatisch, weil die meisten positiven Tests falsch waren“, erläutert Karin Binder. „Das lag aber vor allem daran, dass es in der Bevölkerung noch nicht viele Infektionen gab und dass dort, wo – wie in Schulen – viel getestet wurde, die Wahrscheinlichkeit für falsch-positive Ergebnisse daher sehr hoch war. Das hat dann eine enorme mediale Bedeutung gehabt, die so natürlich nicht gerechtfertigt war.“ Dieses Phänomen fällt in den Forschungsbereich des sogenannten Bayesianischen Denkens, mit dem sich Karin Binder schon seit ihrer Zeit an der Universität Regensburg beschäftigt hat. Diese Arbeit setzt sie nun seit Oktober vergangenen Jahres an der LMU fort. „Mir geht es darum, ein Instrumentarium zu entwickeln, das es ermöglicht, statistische Daten, etwa zu Risiken für die Gesellschaft, möglichst verständlich darzustellen.“ Denn das sei wegen einer häufig fehlerhaften Darstellung von Daten und bei der Kommunikation der Ergebnisse oft nicht der Fall.

Auch nicht bei Berufsgruppen, von denen man gemeinhin annimmt, dass sie statistische Informationen besser bewerten können. Im Zusammenhang mit medizinischen Fragestellungen arbeitet Karin Binder schon seit einigen Jahren mit Kolleginnen und Kollegen aus der Medizin und der Medizindidaktik der LMU München zusammen. „Ich untersuche außerdem zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus der Mathematikdidaktik im Rahmen eines DFG-Projekts, wie man sicherstellen kann, dass Diagnosen und Urteile aus vorhandenen Daten richtig gefällt und etwa von Ärzten richtig verstanden werden.“ Schließlich, sagt sie, gebe es immer wieder Fälle, bei denen es aufgrund einer falschen medizinischen Diagnose zu unnötigen Operationen komme oder Menschen unschuldig in Haft säßen, weil statistische Informationen vor Gericht missinterpretiert wurden.

Datenkompetenz unabdingbar

Binder und ihre Kolleginnen und Kollegen haben Trainings in Form von digitalen Materialien entwickelt, die helfen sollen, die Datenkompetenz bei Medizinern und Juristen deutlich zu verbessern.

„Das Gute ist“, sagt Karin Binder, „dass sich solche Trainings auch relativ leicht für den Schulunterricht adaptieren lassen.“ Denn natürlich geht es ihr als Mathematikdidaktikerin darum, auch den Schulalltag in ihrem Fach unter der Prämisse der Datenkompetenz zu optimieren. „Wir stellen uns die Frage, wie statistische Informationen so in den Unterricht integriert werden können, dass bei Schülerinnen und Schülern schon früh eine Auseinandersetzung damit vermittelt wird“, sagt sie. In den letzten 20 Jahren habe sich zwar schon viel getan, etwa, dass seitdem das Thema Daten und Zufall viel stärker im Lehrplan integriert sei, insbesondere auch in der Grundschule. Dennoch könne man hier noch deutlich optimieren, sagt die Mathematikerin.

Ein wichtiges Thema vor diesem Hintergrund ist für Binder auch die Professionswissensforschung. „Vor dem ‚PISA-Schock‘ wurden vor allem die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in den Blick genommen“, sagt Binder. „Dass es aber auch die Lehrenden gibt, die den Stoff vermitteln müssen und wichtig für die Leistung und Motivation der Schüler sind, stand in den groß angelegten Schulleistungsuntersuchungen noch nicht so im Vordergrund.“

Dabei seien die professionellen Kompetenzen der Lehrenden ganz besonders wichtig, gerade in Fächern wie Mathematik, die als Fach stark polarisiere – entweder man liebe es oder man hasse es, so Mathematikerin Binder.


© @v.zign

„Man hat dann 2003 zusätzlich die sogenannte COACTIV-Studie aufgelegt, um die Kompetenz von Lehrenden einzubeziehen“, weiß sie. In der COACTIV-Studie wurden die Mathematiklehrkräfte der PISA-Klassen 2003/04 befragt und getestet, vor allem in Bezug auf das Fachwissen und das fachdidaktische Wissen. Grundlage der Studie waren außerdem Mathematikaufgaben, die im Unterricht behandelt wurden, Hausaufgaben oder Aufgaben aus Klassenarbeiten. „Im Verlauf der Studie wurde ein enormer Datenschatz generiert, der mit den damaligen Methoden noch nicht vollumfänglich ausgewertet werden konnte. Heute wollen wir mithilfe von Machine-Learning-Verfahren diese Daten erneut analysieren und dabei auch neue Rückschlüsse zur Wirkung von Lehrkraftmerkmalen auf die Schülerleistung erlangen.“

Obwohl Karin Binder zunächst eine Ausbildung zur Bauzeichnerin absolvierte und ihr Abitur nachholte, stand für sie schon immer fest: „Ich möchte Mathematiklehrerin werden.“ Sie studierte Mathematik und Physik an der Universität Regensburg und wurde dort auch promoviert mit der Arbeit Förderung Bayesianischen Denkens – Effekte verschiedener Baumdiagramme in unterschiedlichen Bayesianischen Situationen, die 2018 mit dem „Kulturpreis Bayern“ ausgezeichnet wurde. Anschließend war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Regensburg tätig. Sie forschte unter anderem auch am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung bei Professor Gerd Gigerenzer in Berlin. Nach einer kurzen Phase als nebenberufliche Mathematiklehrerin an einem Regensburger Gymnasium vertrat sie zunächst eine Professur an der Universität Paderborn und ist seit Oktober 2021 an der LMU, wo sie zum Februar dieses Jahres zur Professorin berufen wurde.

Karin Binder freut sich auf die zahlreichen Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Fächern, die durch ihre Tätigkeit an der LMU entstehen sollen und ihre Forschung auch auf andere Felder ausdehnen können.

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