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Von der Kunst des taktvollen Miteinanders

25.05.2021

Leben wir in einer taktlosen Gesellschaft? Oder spielt das Taktgefühl heute eine umso wichtigere Rolle, wo das Laute zu dominieren scheint? Ein Interview mit dem Soziologen Niklas Barth.

Höfliche Konversation in den sozialen Medien? Wohl eine Ausnahme. Auch an Takt fehlt es oft.

Dr. Niklas Barth ist Akademischer Rat auf Zeit am Institut für Soziologie und war bis vor Kurzem Junior Researcher in Residence am Center for Advanced Studies der LMU. Er arbeitet an einer Gesellschaftstheorie des Taktes. Im Interview erläutert er, was der Unterschied zwischen Höflichkeit und Takt ist, warum das Taktgefühl keine Regeln kennt und sogar stärker ist als starre ethische Ideale.

Sie untersuchen das Taktgefühl im täglichen Miteinander. Was ist Ihre Motivation, als Soziologe dieses Thema zu untersuchen?
Niklas Barth: Als Soziologe interessiere ich mich zunächst einmal weniger für Takt als ein Gefühl, sondern für Takt als Phänomen der Kommunikation. Takt ist eine Kommunikationsform, die das Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Menschen regelt. Er wird immer dann besonders relevant, wenn Grenzen innerhalb der Kommunikation brüchig werden.

Zum Beispiel Regeln dafür, wer wann wen ansprechen darf. Historisch können wir das schön sehen im Übergang von einer absolutistischen zur bürgerlichen Gesellschaft, als in den Pariser Salons im 17. Jahrhundert nicht mehr eindeutig qua Stand geregelt war, wer wie und wann mit wem sprechen kann. Die verbindliche Regel, wie kommuniziert wird, das ganze Dekorum der Höflichkeit zum Beispiel, lässt sich hier nicht mehr eindeutig anwenden. Man muss situativ entscheiden, was angemessen ist, und so wird Takt als Kommunikationsstrategie funktional.

Takt kann man somit als ein Krisenphänomen verstehen, das auf bestimmte Probleme der Gesellschaft reagiert. Aus einer soziologischen Sicht interessiert mich, dass Takt also nicht nur ein Phänomen ist, das in Interaktionen verhandelt wird, sondern auch davon abhängig ist, wie eine Gesellschaft strukturiert ist.

Wie steht es derzeit um den Takt und was sagt uns das über heute?

Wir können das heute beobachten im Hinblick auf Social Media, in denen die Grenzen der Kommunikation entgrenzt werden. Über soziale Medien lassen sich zum Beispiel mehr Leute erreichen, als direkt präsent sind. Hier werden ganz unterschiedliche Kontexte, Milieus und Kulturen zueinander in Beziehung gesetzt. Die Abläufe sind schneller als zum Beispiel in der schriftlichen Kommunikation, und es sind sehr viele Interaktionen gleichzeitig verfügbar. Auf einer strukturellen Ebene brechen systematisch Grenzen weg.

In einer solchen Situation stellt sich die Frage, wer wie mit wem kommunizieren kann und wie sich diese Kommunikation selber steuert. Wobei uns in den sozialen Medien Takt eher als Taktlosigkeit entgegenzutreten scheint. Und die Logik sozialer Medien scheint ja eine gewisse Lust an der Taktlosigkeit, an der verletzenden Grenzübertretung, noch zu befeuern.

Wenn wir in der historischen Analogie bleiben: Eine solche Krisensituation der Entgrenzung von Kommunikation erzeugt auch einen Bedarf an Formen der Kommunikationskontrolle. Takt ist eine Möglichkeit dafür. Der Salon und die Kommentarspalte haben aus gesellschaftstheoretischer Sicht gewissermaßen dasselbe Problem.


Brauchen wir online also Nachhilfe in Sachen Taktgefühl? Woher kommt überhaupt das Wissen darüber?

Das ist eine spannende Frage. Das Wissen über den Takt wurde schon immer über bestimmte Medien vermittelt. Wir kennen die französischen Salons im 17. Jahrhundert und die französische Moralistik, die über das Geschehen in den Salons und die dort wirksamen Interaktionsmuster reflektiert. Aus dieser Reflexion entstehen wiederum bestimmte Strategien, Handreichungen gewissermaßen, an denen sich taktvolle Kommunikation einüben lässt. Übrigens lernen die Männer den Takt hier oftmals über die Frauen, etwa über die Marquise de Rambouillet, die in ihrem Salon den Männern die Kunst der Preziösen, also des zivilisierten, kultivierten und damit auch taktvollen Verhaltens, beibrachte.

Es gibt die Benimmbücher, wie den Knigge, oder heute Coaching für interkulturelle und Business-Kommunikation. Aber auch die Soziologie als Fach spielte eine wichtige Rolle in der Vermittlung eines Wissens über den Takt, als sie ihr Programm um 1900 auch an der Frage der geselligen Interaktion schärfte. Und auch sie hat dieses Wissen dann wieder in die Gesellschaft zurückgespielt.

Und wenn man sich heute die Verbreitung von Netiquetten und Community Standards von Onlineforen ansieht: Die reagieren ja auf die Taktlosigkeit, die durch die Neuen Medien gewissermaßen auf Dauer gestellt wurde.

Könnte man also sagen, dass es ein Bedürfnis nach Takt gibt?

Dass diese Handreichungen wie Netiquetten existieren, macht sichtbar, dass sich in den Sozialen Medien Grenzen der Kommunikation auflösen und neu verhandelt werden. Hier wird Takt als Kommunikationstechnik zumindest funktional.

Ein anderes Beispiel: Wir können heute beobachten, dass wir der Sprache eine starke grenzverletzende Macht zuschreiben. Die Diskussionen um Political Correctness zeugen eindrücklich davon. Diese Diskussionen machen darauf aufmerksam, dass es eine neue Sensibilität für die Verletzung von Grenzen und somit auch ein Bedürfnis nach taktvoller Schonung und den Respekt dieser Grenzen gibt.


Wie definieren Sie eigentlich Taktgefühl?

Wenn jemand taktvoll ist, dann schafft er oder sie es in der Interaktion – das ist jetzt eine Definition von Niklas Luhmann –, dem Gegenüber gemäß der eigenen Selbstdarstellung, wie er oder sie also behandelt werden möchte, einen Spielraum zuzugestehen. Takt ist eine Form von Schonung, das Gegenüber in seiner Integrität, aber auch seiner Verletzlichkeit wahrzunehmen und ihm gewissermaßen ein Rollenspiel zuzugestehen.

Dabei ist das, was als taktvoll erscheint, Ausdruck des spezifischen Kontextes der Kommunikation. Einmal ist Höflichkeit, etwa unter Fremden, taktvoll, in einem anderen Kontext, etwa in Freundschaften, ist überzogene Höflichkeit geradezu taktlos, ja peinlich.

Wo ist das Taktgefühl denn noch wichtig?

Wenn wir über Takt sprechen, denken wir zunächst an Situationen, die für uns Geselligkeit bedeuten, also an eher zweckfreie Interaktionen: den Salon, die Kommentarspalte, den Small Talk oder das Bargespräch. Schaut man gesellschaftstheoretisch auf den Takt, dann stoßen wir aber auch in ganz anderen Kontexten auf taktvolle Kommunikation. Zum Beispiel in Organisationen, im Umgang mit den Kollegen oder der neuen Chefin. Und auf dem Parkett der Diplomatie.

Es gibt aber natürlich auch eine Form des pädagogischen Takts. Lehrerinnen und Lehrer wollen ja zum Beispiel eine Verhaltensänderung bei ihren Schülerinnen und Schülern erzeugen, etwa einen Lernprozess, den diese aber letztlich freiwillig machen sollen. Die Rolle des Takts ist es, diesen Konflikt zwischen Freiheit und Zwang unsichtbar zu halten.

Und auch meine Forschungen im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts „Vom ‚guten‘ Sterben“ zu den Idealen und Strategien der palliativen Sterbebegleitung zeigen, dass es differenzierte Formen von professionellem Takt im Arzt-Patientenverhältnis gibt.

Welche Rolle spielt das Taktgefühl in der Palliativversorgung?

Heute herrscht das Ideal, dass die Kommunikation mit Sterbenden möglichst offen sein soll. Das hat sich seit den 1960er-Jahren im Zuge der Hospizbewegung ausgebildet in dem Sinne, dass ein gutes Sterben eines ist, über das man offen spricht. Der Auslöser war damals die Kritik an einem Sterben im Krankenhaus und der Vorwurf, dass Patientinnen und Patienten um die Wahrheit der Diagnose ihres eigenen Todes betrogen wurden. Diese Kritikbewegung mündete in das Ideal der offenen Kommunikation und das ist heute auf breiter Basis zum Beispiel in Hospizen und auf Palliativstationen gesellschaftlich institutionalisiert.

Im DFG-Forschungsprojekt „Vom ‚guten‘ Sterben“ haben wir mit Sterbenden, Angehörigen, Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräften und allen anderen Beteiligten der multiprofessionellen Sterbebegleitung gesprochen und gelernt: Das offene Reden über das Sterben ist offenbar nicht so leicht und realisiert sich immer unter ganz bestimmten Zugzwängen. Oftmals überfordert es auch alle Beteiligten, offen über das Sterben zu sprechen.

Man könnte davon ausgehend sagen, dass nicht nur sterbende Körper der Pflege bedürfen, sondern auch die Kommunikation mit Sterbenden bedarf der Pflege. Darin liegt eine „Hygiene des Takts“, wie es Helmuth Plessner bezeichnete, weil der Takt diese schwierigen Kommunikationssituationen gewissermaßen immunisiert.


Dr. Niklas Barth untersucht am Institut für Soziologie der LMU Takt in professionellen Kontexten wie der Palliativversorgung.

Und wie wird Takt dabei relevant?

Ärztinnen und Ärzte müssen notwendiger Weise irgendwann den Tod ihrer Patientinnen und Patienten thematisieren und über den Therapieverlauf entscheiden. Ihre Aufgabe ist es, das Problem der Breaking Bad News zu lösen. Aber sie haben auch gelernt, im falschen Moment ihr Wissen noch zu verbergen, den richtigen Zeitpunkt abzupassen und für offeneres Reden eine taktvolle Atmosphäre der Kommunikation zu erzeugen.

Pflegefachkräfte entwickeln oft eine beiläufigere Kommunikation am Sterbebett. Sie sind davon entlastet, über das Sterben sprechen zu müssen, weil ihre Aufgabe die Versorgung eines sterbenden Körpers in seiner ganzen Bedürftigkeit ist.

Man kann hier sehen, dass alle Beteiligten innerhalb ihrer Kommunikation dieses offene Ideal nicht eins zu eins umsetzen. Sie entwickeln sehr situative Strategien, um mit Nähe und Distanz, mit Wissen und Nicht-Wissen, mit der Kommunikation von Wahrheit oder der Möglichkeit von kleinen Täuschungen oder der Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation geschickt umzugehen und so letztendlich für Patientinnen und Patienten ein ‚gutes‘ Sterben zu organisieren.

In vielen Interviews berichten zum Beispiel Pflegefachkräfte, dass sie am Sterbebett realisieren, dass Patientinnen und Patienten wahrgenommen haben und wissen, dass sie sterben werden. Sie nehmen aber auch wahr, durch eine beiläufige Gestik oder Mimik, dass sie eigentlich nicht darüber sprechen möchten, und sie übergehen das offene Reden über das Sterben dann taktvoll.

Der Takt kann bestimmte Dinge in der Kommunikation unsichtbar halten, weil es sonst vielleicht zu verletzlich wäre. Wir kennen das sehr gut aus der Professionssoziologie: Ganz unterschiedliche professionelle Akteure entwickeln ein feines situatives Gespür dafür, sich von zu starren ethischen Idealen, hier der offenen Kommunikation, selbst zu distanzieren und von Moment zu Moment zu entscheiden. Das kann man mit Clemens Albrecht auch als eine Form professioneller „Sozioprudenz“ begreifen, also als die Fähigkeit, sich im richtigen Moment sozial klug zu verhalten.

Das setzt voraus, dass man empathisch ist?

Die Empathie könnte man als wichtige Strategie im Repertoire des Taktvollen verstehen, weil in der taktvollen Kommunikation die Rollenerwartungen und Bedürfnisse des Gegenübers mit einkalkuliert, antizipiert und daran die eigene Handlung ausgerichtet wird.

Wir leben in einer Zeit der zunehmenden Digitalisierung, auch in der Pflege gibt es Ansätze, Roboter und Künstliche Intelligenz einzusetzen. Lässt sich diesen wohl Taktgefühl beibringen?

Das geht ins Zentrum der Frage, was Takt ist. Denn der Takt sperrt sich qua Definition der Regel und damit scheinbar auch der Programmierung. Er setzt auf situatives Gespür und Geschick und lebt gerade von der Regelabweichung. In dem Moment, in dem Takt regelbasiert funktionieren soll, also technisiert wird, steht die Kommunikation schnell im Verdacht, lediglich Strategie und Verstellung zu sein. Es entsteht dann der Verdacht, als ob man nur so tut als ob, um seine eigentlichen Ziele zu erreichen.

In dieser Kritik der Verstellung gründet auch eine Form der bürgerlichen Kritik am Takt – der dann nur als Unaufrichtigkeit, Galanterie, Bemäntelung und Camouflage von Interessen erscheint. Sobald man merkt: das Gegenüber will ja nur sein Ziel durchsetzen, sein Programm abspulen, wird das oftmals nicht mehr als taktvoll empfunden.

Ob wir also Pflegerobotern Takt zugestehen werden können, hängt davon ab, ob sie so programmierbar sein werden, dass man ihnen situative Entscheidungsfreiheit zurechnen kann.

Dann bleibt das Taktgefühl also wohl eine Fähigkeit, die den Menschen auszeichnet?

Ja, das ist nicht ganz leicht zu beantworten. In der Anthropologie des 20. Jahrhunderts diskutiert man ja zum Beispiel die Frage, ob die Fähigkeit, zu sich selbst in Distanz zu gehen, eine genuin menschliche Eigenschaft ist. Diese Möglichkeit zu Selbstdistanzierung ist auch für den Takt besonders wichtig.

Aus soziologischer Sicht würde ich aber sagen, dass der Takt vor allem eine Fähigkeit ist, die Kommunikation auszeichnet – und durch sie ausgezeichnet wird. Und wenn wir innerhalb der Kommunikation Freiheitsgrade, also Handlungsalternativen zurechnen können, dann ist es aus struktureller Sicht zumindest nicht unmöglich, auch Robotern oder Tieren zuzurechnen, dass sie sich taktvoll gegen oder für eine bestimmte Handlung entschieden haben.

Wie ist Ihr Resümee: Sind wir nun eine taktlosere Gesellschaft geworden, wie es in den Sozialen Medien sichtbar wird, oder nicht?

Ja und nein. Gesellschaft geht ja nicht mehr in Geselligkeit auf. Sie hat sich systematisch von Formen der Handlungskoordination, die auf Anwesenheit setzt, unabhängig gemacht. Also auch vom Takt.

Aber die Frage ist auch, wo man hinsieht. Wenn man sich die Sozialen Medien ansieht, dominiert die Lust an der Taktlosigkeit. Sieht man empirisch in andere Kontexte, dann sehen wir ganz unterschiedliche Formen des Taktes. Hier wird, gerade in professionellen Kontexten, ein sehr differenziertes Gespür entwickelt, in einer bestimmten Situation angemessen zu handeln.

Ich würde sagen, es findet sehr viel taktvolle Kommunikation unterhalb der Beobachtungsschwelle statt. Darin liegt ja auch das Wunderbare des Takts: Solange er funktioniert, nimmt man ihn gar nicht wahr.


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