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Was ist „gutes“ Sterben?

24.06.2018

Ein Gespräch mit dem Soziologen Armin Nassehi, der in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Moraltheologie Vorstellungen über das Lebensende untersucht.

Sie haben mit der Katholischen Fakultät ein Projekt zum Thema „Das gute Sterben“ gestartet. Welche Vorstellungen gibt es darüber? Armin Nassehi: Gemeinsam mit Christof Breitsameter und Irmhild Saake interessieren wir uns weniger für das faktische gute Sterben als vielmehr für die Vorstellungen, die Redeweisen, die normativen Bilder, die um das Feld palliative care entstehen. Es gibt einen langen Diskurs über die Frage, wie man „angemessen“ sterben sollte. Eine der wichtigsten Autoren der letzten Jahrzehnte war Cicely Saunders, die vier Bereiche formuliert hat, die dabei berücksichtigt werden sollten: das Medizinische, Psychische, Soziale und Spirituelle. Dahinter steht also die Idee, dass Sterben eine ganzheitliche Sache sein soll.

„Gutes Sterben“ klingt nach „schönem“ Sterben. Dabei ist der Sterbeprozess oftmals mit Schmerzen verbunden, ein unschöner Kampf – weckt der Begriff da nicht eher falsche Vorstellungen? Im aktuellen Diskurs ist es ungewöhnlich, so über das Sterben zu reden. Tatsächlich ist Sterben aber etwas, was man nicht will, was weh tut und – ja, es ist bisweilen ein Kampf. Doch daneben ist die Idee entstanden, dass man das Wilde des Sterbens einfangen kann – und das kann man zum Teil. In der Medizin hat ein erstaunlicher Fortschritt stattgefunden im Hinblick auf die Kontrolle von Schmerzen und Symptomen. Und es ist ein Segen, dass es Palliativstationen und Hospize gibt. Dadurch ist Sterben heute etwas, das organisiert wird, fast immer haben Institutionen etwas damit zu tun. Zuhause findet es nur noch selten statt, und wenn, ist es fast immer professionell betreut. Aber zu glauben, dass man mithilfe solcher technologischen Mittel ein terminales Wellness machen könnte, geht natürlich zu weit.

Inwiefern lässt sich dieser ganzheitliche Ansatz realisieren? Die schöne Idee der Ganzheitlichkeit sagt ja: Am besten wäre es, wenn der Sterbende eingebettet ist in ein Geschehen, in dem die unterschiedlichen Perspektiven und Beteiligten gewissermaßen harmonisiert werden. Der Wille des Sterbenden, die Patientenautonomie, steht im Vordergrund des Diskurses. Das Ziel ist der sprechende sterbende Patient: Er soll mitreden, seine Bedürfnisse formulieren, möglichst am Ende sein Schicksal annehmen und in der Lage sein, eine Gesamtrechnung seines Lebens zu machen, spirituell und sozial damit zurechtkommen. Das ist die normative Vorstellung. Vielleicht gibt es tatsächlich Sterbeverläufe, bei denen dies gelingt und bei denen man sagen kann, dass es dem Menschen gut getan hat, mit Konflikten in seinem Leben abzuschließen. Aber es funktioniert nicht, das zum alleinigen Modell zu machen. Unsere ersten Ergebnisse zeigen, dass Sterbende unter Umständen gar nicht das wollen, was dieses normative Muster vorgibt. Manche wollen auch als terminale Patienten nicht nur nicht sterben, sondern auch nichts vom Sterben hören. Doch mit jemandem, der die Sterberolle nicht annimmt, gelingt es auch nicht, über das Sterben zu reden.

Ist das ein Problem, nicht übers Sterben sprechen zu können? Viele, die in diesem Bereich arbeiten, empfinden es gewissermaßen als Scheitern, wenn die Sterbeverläufe nicht so sind, wie es die Idee des „guten Sterbens“ nahelegt. Da entstehen zum Beispiel bei Pflegenden oder Sterbebegleitern Konflikte im Selbstbild. Die meisten denken, dass etwas nicht richtig gelaufen ist, wenn diese normativen Muster nicht erfüllt sind.

Es gibt ohnehin in unserer Kultur eine starke Vorstellung von Gleichheit. Am liebsten wäre uns der sterbende Patient, der auf Augenhöhe mit den Beteiligten spricht. Dabei wird mitunter vergessen, dass Sterben eine andere Situation ist. Für die Soziologie ist es erst einmal ein empirischer Befund, dass viele Sterbende da nicht mitmachen. Vielleicht ist das auch kein Beweis für Misserfolg für die beteiligten Berufsgruppen, sondern Zeichen einer falschen Vorstellung von Ganzheitlichkeit.

Normalerweise ist die Patientenrolle eine Suspendierung von Autonomie auf Zeit: Wenn ich als Kranker weiß, dass ich ein paar Tage im Krankenhaus liege, werde ich passiv und lasse andere sich um mich kümmern – aber immer mit der Erwartung, dass das wieder aufhört. Und dennoch ist der Patient krank und hat Angst, während der Arzt professionell und gesund ist. Das sind zwei unterschiedliche Positionen und wenn man das vergisst, ist die geforderte Augenhöhe ein manchmal unrealistisches Ideal. Manche dieser normativen Vorstellungen sind schon in einer „normalen“ Patientenrolle schwierig zu erreichen. Als terminaler Patient auf einer Palliativstation oder gar im Hospiz ist das noch viel schwieriger.

Es wäre also manchmal gut, weniger vom Sterbenden zu erwarten? Es gibt so eine Grundidee, dass mehr Kommunikation besser ist als weniger. Und das nicht nur in diesem Fall, sondern es ist geradezu eine Art Hintergrundüberzeugung, der man kaum widersprechen kann. Aber das stimmt in vielen Fällen nicht und in diesem Fall auch nicht. Mehr Reflexion produziert manchmal auch mehr Probleme, Belastung und Unzufriedenheit. Momentan zeigen die bisherigen Ergebnisse, dass es auch eine Option wäre, den Sterbenden in Frieden zu lassen. Das Ziel des Projekts ist es ja, praxisrelevante Ergebnisse zu gewinnen. Dazu gehört, etwa bei der Ausbildung von Hospizbegleitern eine Offenheit darüber herzustellen, dass sich das Leben und Sterben manchmal diesen klaren normativen Erwartungen entzieht. Vielleicht sollte man sogar manche dieser sehr starken Vorstellungen überdenken und sie nicht als den einzigen Königsweg darstellen.

Wenn man sich religiöse Praktiken ansieht, könnte man sagen: Die Sterbesakramente etwa in der katholischen Kirche sehen eher aus wie ein äußerer Verwaltungsakt, der nicht auf die kommunikative Zustimmung des Sterbenden angewiesen ist, ein Ritual eben. Derzeitige normative Vorstellungen erwarten eher den kommunizierenden, zustimmenden, aktiven Patienten.

Hat diese Erwartung auch damit zu tun, dass heute beim Sterben fast immer Organisationen eingebunden sind? Die Sterbephase gewinnt an Bedeutung, weil wir älter werden und die Medizin so weit ist, dass sie Schmerzen und Symptome besser kontrollieren kann. Früher sind die Menschen relativ schnell an einer Ausgangskrankheit gestorben. Die Palliativmedizin eröffnet erst die Möglichkeit, sich mit Optionen auszustatten, wie man diese Phase gestaltet. Natürlich ist jemand, dessen Krankheitssymptome kontrolliert sind, eher in der Lage, sich mit der Sterberolle auseinanderzusetzen. Auf der anderen Seite kann man sagen, dass die Palliativmedizin Ärzte und Kliniken aus einer misslichen Lage befreit: Für die ärztliche Profession und die Institution Krankenhaus ist es schwierig, mit dem Tod umzugehen. Denn ein Patient, der stirbt, ist ja nicht geheilt. Insofern könnte man sagen, dass die Palliativmedizin die Institution Krankenhaus davon entlastet, gescheitert zu sein. Nun lässt sich bis zum Lebensende etwas Medizinisches machen.

Ist es vielleicht auch Ausdruck des Optimierungswahns in unserer Gesellschaft, dass vom „guten“ Sterben die Rede ist so wie auch vom „erfolgreichen“ Altern? Es impliziert, dass „gutes Sterben“ scheinbar „machbar“ ist oder „gelingen“ kann, wie sogar Buchtitel versprechen. Setzt eine solche Vorstellung womöglich den Sterbenden unter Druck – man muss gut sterben?

Ja, es kann unter Druck setzen und dem entziehen sich manche Menschen. Das sind ähnliche normative Vorstellungen, wie sie darüber bestehen, wie ein Leben geführt werden muss. Man könnte etwas zynisch formulieren: Die Patientenautonomie soll hochgehalten werden, und jetzt geht das so weit mit dem Patientenwillen, dass die Patienten nicht das Richtige wollen. Autonomie wird meist mit dem Hintergedanken übertragen, dass die Menschen möglichst das Richtige wollen sollen. Und was das ist, geben die aktuellen normativen Vorstellungen vor – im Sinne von: Sterben, gerne – aber bitte richtig.

Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung schon lange mit Sterben und Tod. Ändert sich ihr eigener Blick darauf? Sterben und Tod gehören zu den wenigen Unvermeidbarkeiten im Leben. Am Ende sterben wir alle. Es ist interessant zu sehen, wie eine Gesellschaft damit umgeht. Sie hat dennoch Optionen, und dass es Palliativmedizin und Hospize gibt, ist ja schon ein starker Wandel. Für mich wäre es eine Horrorvorstellung, sogar in dieser Situation des Sterbens einem abstrakten Bild entsprechen zu müssen. Wenn wir es für unsere Kultur wirklich ernst nehmen, den Patientenwillen stark zu machen, dann sollte man auch fragen, was für den jeweiligen Menschen gut ist, und da wäre Pluralität oder Optionenvielfalt nicht schlecht. Die ist übrigens faktisch auf den Stationen stärker verwirklicht als in den normativen Vorstellungen der Handelnden.

Armin Nassehi ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie am Institut für Soziologie der LMU.

Das Projekt „Vom „guten Sterben“ Das DFG-Projekt wird gemeinsam von Professor Christof Breitsameter, Lehrstuhl für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät, und Professor Armin Nassehi und Dr. Irmhild Saake vom Institut für Soziologie geleitet.

Ziel ist es, die Genese der normativen Vorstellung des „guten“ Sterbens nachzuzeichnen und zu untersuchen, wie diese Idee in der Praxis umgesetzt wird. Dafür sind bereits erste empirische Untersuchungen auf Palliativstationen und in Hospizen gestartet. Im Rahmen des Projekts werden Experteninterviews mit den Vertretern der verschiedenen beteiligten Berufsgruppen geführt, zudem sind das Instrument der Dokumentenanalyse und sogenannte nicht-teilnehmende Beobachtungen geplant.

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