News

Wenn das Leben zu früh beginnt

22.02.2023

Infektionen sind die häufigste Todesursache bei Frühgeborenen. Mediziner Markus Sperandio erforscht die Mechanismen ihres Immunsystems und zeigt, warum sie so anfällig sind.

Prof. Dr. Markus Sperandio

Prof. Dr. Markus Sperandio erforscht das Immunsystem von Frühgeborenen. | © Stephan Höck / LMU

Eigentlich sind sie noch nicht reif für diese Welt: Jedes Jahr kommen in Deutschland Tausende Babys viele Wochen zu früh und müssen sich oft monatelang ins Leben kämpfen. Ihre Überlebenschancen haben sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verbessert. Noch vor wenigen Jahrzehnten überlebte kaum ein vor der 28. Schwangerschaftswoche geborenes Baby, heute gelten Frühgeborene ab der 23. Schwangerschaftswoche als potenziell lebensfähig. Allerdings ist das Risiko für Infektionen mit lebensgefährlichen Komplikationen hoch und Sepsis eine der häufigsten Todesursachen.

„Vor allem bei den ganz kleinen Frühchen ist das extrem“, sagt der LMU-Mediziner Prof. Markus Sperandio. „Bei ihnen kann eine bakterielle Infektion innerhalb von Stunden zum Tod führen. Deswegen muss man sie auch häufig mit Antibiotika behandeln.“ Der Physiologe und ehemalige Kinderarzt und Neonatologe war vor seinem Wechsel in die Forschung acht Jahre an der Kinderklinik Heidelberg tätig und oft mit dieser hohen Infektionsanfälligkeit konfrontiert. Seither hat ihn das Phänomen nicht mehr losgelassen, dem er mit seinem Team am Biomedizinischen Centrum der LMU auf den Grund geht.

Fetale Immunzellen haften nicht

Am Anfang stand dabei ein Forschungsaufenthalt in den USA: Als Postdoktorand lernte Sperandio dort am renommierten Center for Blood Research der Harvard Medical School in Boston, USA, ein neues Mausmodell kennen, mit dem erstmals Entzündungsprozesse und das Verhalten von Immunzellen in den kleinsten Blutgefäßen von Mausfeten mikroskopisch untersucht werden konnten. „Dieses Modell habe ich dann nach meiner Rückkehr nach Heidelberg verfeinert und später an der LMU etabliert und weiterentwickelt.“ So konnte er nachweisen, dass wichtige Zellen des angeborenen Immunsystems – die zu den weißen Blutkörperchen gehörenden neutrophilen Granulozyten oder kurz Neutrophilen – im Fetus und auch bei neugeborenen Mäusen nicht richtig funktionieren, vergleicht man diese mit Neutrophilen von Erwachsenen. Im Gegensatz zu Neutrophilen von Erwachsenen schaffen es Neutrophile von Feten und Neugeborenen nicht, sich an die Wand der Blutgefäße anzuheften und ins umgebende Gewebe auszuwandern. Dies ist aber notwendig, um eine Entzündungsreaktion und damit die Immunabwehr zu aktivieren.

Das gleiche Bild zeigt sich auch beim Menschen, wie Sperandios Team bei der Untersuchung von Neutrophilen aus dem Nabelschnurblut früh- und reif geborener Säuglinge entdeckte. Da sich Babys bei ihrer Geburt nicht an Termine halten, ist eine planbare Gewinnung dieser Proben oft schwierig. „Gerade bei Frühgeborenen sind die Umstände ja oft dramatisch, sodass keine Kapazitäten bestehen, noch an Proben für uns zu denken.“ Umso dankbarer ist Sperandio für die gute Kooperation mit der Neonatologischen Abteilung der Kinderklinik und der Frauenklinik am Universitätsklinikum der LMU, dessen Ärztinnen und Ärzte die Probengewinnung unterstützen.

Die funktionellen Einschränkungen von aus der Nabelschnur gewonnenen Neutrophilen waren umso ausgeprägter, je kürzer die Schwangerschaft gedauert hatte. Zur Überraschung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler folgt ihre funktionelle Entwicklung einem zellulären Programm, das sehr stark vom postkonzeptionellen Alter abhängt, also der Zeit, die nach der Befruchtung vergangen ist. Das postnatale Alter, das nach der Geburt beginnt, war hier interessanterweise wenig ausschlaggebend. „Wir hatten erwartet, dass das Immunsystem nach einer Frühgeburt durch die neue Umgebung außerhalb des mütterlichen Uterus so gepusht wird, dass die Neutrophilen rasch auf den Erwachsenenmodus umschalten. Genau das ist aber nicht passiert“, sagt Sperandio. Auch nach einer zeitgerechten Geburt dauert es noch einige Zeit, bis Immunzellen vollständig ihre normale Funktionalität erreichen.

Balance der Signalwege verschiebt sich

Um zu verstehen, welche Mechanismen hinter der mangelhaften „Andockfähigkeit“ an die Gefäßwand stecken, haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrer aktuellen Studie die Genaktivität fetaler Neutrophiler von Frühgeborenen und reif geborenen Babys mit derjenigen erwachsener Neutrophiler verglichen. „Durch diese sogenannten Transkriptomanalysen haben wir einige wirklich interessante Unterschiede gefunden“, sagt Sperandio. „Im Vergleich zu Erwachsenen sind sowohl bei früh- als auch bei reif geborenen Neugeborenen viele Gene in den Neutrophilen hochreguliert, die die Entzündungsreaktion dämpfen. Dadurch sind die Zellen wie abgeschaltet.“

Betroffen davon sind insbesondere Signale, die über den wichtigen NF-κB-Signalweg in der Zelle vermittelt werden. Dieser Signalweg spielt für Immun- und Entzündungsreaktionen, aber auch beispielsweise für die Embryonalentwicklung eine entscheidende Rolle. Er beinhaltet zwei mögliche Signalübertragungswege, einen entzündungsfördernden kanonischen und einen nicht-kanonischen, der unter anderem Entzündungen entgegenwirkt, aber auch zum Beispiel beim Feten die Entwicklung von Lymphknoten fördert. Die Aktivität dieser beiden Wege muss daher für die Regulation der Immunreaktion fein austariert werden. „Unsere Experimente haben gezeigt, dass in fetalen Neutrophilen diese Balance in Richtung des entzündungshemmenden Wegs verschoben ist“, sagt Sperandio. „Letztendlich werden dadurch Schlüsselmoleküle hochreguliert, die Entzündungen stark entgegenwirken. Dazu gehört etwa das Molekül A20, das den entzündungshemmenden Weg stabilisiert und den entzündungsfördernden blockiert.“

Gedrosseltes Immunsystem ist physiologisch sinnvoll

Unter normalen Umständen ist diese Blockade der Neutrophilen im Fetus sinnvoll, um eine bestmögliche Entwicklung zu gewährleisten. Zum einen wird im geschützten und sterilen Mutterleib keine so aggressive Immunabwehr benötigt wie beim Erwachsenen. Zum anderen werden beispielsweise dieselben Mechanismen, die vor der Geburt für die Entwicklung des Gehirns wichtig sind, nach der Geburt für die Aktivierung von Immunzellen verwendet. Wenn während der Entwicklung nicht nur Nervenzellen, sondern auch Neutrophile stark darauf reagieren würden, würde man „möglicherweise einiges durcheinanderwirbeln“, vermutet Sperandio.

Trotzdem sind angesichts der hohen Sterblichkeit von Frühgeborenen durch Infektionen neue Behandlungsmöglichkeiten sehr wünschenswert. Möglicherweise könnte die Entdeckung, dass Faktoren im Blut wie beispielsweise das Molekül A20 an der Regulation der Neutrophilen beteiligt sind, zur Entwicklung neuer therapeutischer Optionen beitragen. Theoretisch denkbar wäre etwa, bei drohender Frühgeburt die Mutter mit Medikamenten zu behandeln, die über die Plazenta in den Feten gelangen und die Entwicklung der Neutrophilen etwas vorantreiben. Auf diese Weise wird bereits mit Cortisonpräparaten die Lungenreifung bei einer drohenden Frühgeburt beschleunigt.

Ein weithin unberührtes Forschungsfeld

Allerdings liegt eine therapeutische Nutzung noch in weiter Ferne, betont Sperandio. Auch, weil es noch wenige Erfahrungen auf diesem Gebiet gibt. „Unsere Studie ist die erste, in der nachgewiesen wird, dass diese Signalwege beim Feten verschoben sind. Überhaupt ist das ganze Feld der Perinatalimmunologie weltweit noch ziemlich unberührt.“ In diese Lücke vorstoßen will ein neuer Verbund der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), an dem Sperandio beteiligt ist. Im Rahmen des neuen SFB/Transregio 359 „Perinatal Development of Immune Cell Topology (PILOT)” wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Mechanismen, die für die Entwicklung des Immunsystems vor und rund um die Geburt entscheidend sind, grundlegend aufklären.

Eine interessante Fragestellung ist für Sperandio beispielsweise auch, wie die Toleranz zwischen Fetus und Mutter funktioniert. „Man muss sich vorstellen, dass der Fetus eigentlich Fremdgewebe ist. Warum er nicht abgestoßen wird, ist noch nicht wirklich gut geklärt.“ Parallelen zu dieser fetomaternalen Toleranz sehe man beispielsweise bei Krebszellen, die ebenfalls mit verschiedenen Methoden das Immunsystem austricksen. Fasziniert ist der Mediziner auch von narbenfreien Reparaturmechanismen, die noch bis kurz nach der Geburt funktionieren, später aber nicht mehr: Frisch geborene Mäuse beispielsweise können kleinere Verletzungen des Herzmuskels noch narbenfrei reparieren. Und selbst bei menschlichen Neugeborenen können bei einem Kaiserschnitt verletzte Fingerspitzen in gewissem Umfang noch narbenlos zurückwachsen. „Wahrscheinlich kann man von der Fetalzeit und dem Übergang nach der Geburt auch für die Erwachsenenmedizin unglaublich viel lernen.“

Wonach suchen Sie?