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Zerfall in Zielkonflikte

09.04.2020

Wie lange können wir den Lockdown noch durchhalten? Wie lange müssen wir es? Der Soziologe Armin Nassehi über den gegenwärtigen Stresstest für die Gesellschaft

Seit knapp drei Wochen gelten die Ausgangsbeschränkungen. Laut Umfragen hält eine sogar wachsende Mehrheit der Deutschen sie für „angemessen“ – so viel Zustimmung zur offiziellen Regierungslinie war selten. Wie kommt es dazu – ausgerechnet bei Verboten? Nassehi: Es handelt sich ja um Verbote, die in eine ganz unmittelbare Betroffenheit eingreifen. Es geht um die eigene Gesundheit und die Angst, sich zu infizieren. Das ist eine merkwürdige Bedrohung, die sich nahe anfühlt, nichts Abstraktes, das wir nur aus Statistiken kennen. Und das schafft natürlich eine größere Bereitschaft, sich darauf einzulassen, als auf abstrakte Fragen nach Klimaschutz und Konsumverhalten, mögen die auch noch so dringlich sein.

Sie haben neulich sogar gesagt, Verbote gälten derzeit als geradezu sexy. Nassehi: Das war natürlich ironisch gemeint. Ganz offensichtlich haben die Gebote, sich nicht so nahe zu kommen, nicht funktioniert, und die Leute haben durch ihr Verhalten geradezu herausgefordert, dass Verbote kommen. Das war der Zusammenhang, in dem ich die Formulierung gebraucht habe. Klar, in einer freien, liberalen Gesellschaft finden wir Verbote natürlich alles andere als angenehm. Aber wenn es um ein Common Good geht, das so hoch zu bewerten ist wie die Gesundheit der Bevölkerung, werden solche Verbote doch durchaus als angemessen empfunden. Trotzdem fällt es jedem von uns natürlich schwer, die eigenen Praktiken zu verändern. Schon im Alltag weiß jeder, was er an seinem Verhalten ändern müsste: mehr Sport machen, weniger arbeiten, abnehmen, wir kennen das alles. Aber trotzdem fallen wir immer wieder in die alten Verhaltensweisen zurück. Das steuern wir nicht kognitiv, das ist vielmehr habituell gesteuert.

Wir spüren, dass wir das neue Verhalten erst einüben müssen. Nassehi: Es ist unglaublich schwer, im Alltag das Gegenteil des Gewöhnlichen zu tun. Und so merken wir erst jetzt, da wir unser Verhalten ändern sollen, was wir sonst quasi automatisch tun, wie nah wir anderen Menschen gewöhnlich kommen, wie oft wir uns berühren. Wir nehmen jetzt erst wahr, wie viele unterschiedliche Kontakte wir haben und mit wie vielen Menschen wir zu tun haben, die wir noch nie gesehen haben und die wir nie wieder sehen werden. Und von alldem sollen wir jetzt Abstand nehmen. Das überfordert uns natürlich in unserem Habitus. Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir da geradezu neurotisch werden, wenn wir viel stärker auf den anderen achten müssen: Weicht er uns tatsächlich aus? Stehen die Leute mit genügend Abstand in der Schlange im Supermarkt?

Jeder einzelne, die Gesellschaft ist zurückgeworfen – ja, auf was eigentlich? Auf die Familie, auf untergründige Strukturen, die auch im Abstand zum gesellschaftlichen Leben funktionieren? Nassehi: Jeder ist auf den eigenen Nahraum beschränkt. Ich würde sagen, der Horizont ist inzwischen die Wohnung, in der man lebt. Und egal ob als Single, als Alleinerziehende oder in einer Familie: Wir lernen gerade, wie selbstverständlich wir im Normalfall Exit-Strategien aus diesen häuslichen Zusammenhängen nutzen. Für Leute wie mich ist das hier geradezu ein Paradies, man kann den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen, muss nicht raus und muss nicht von Sitzung zu Sitzung, weil die Sitzung in Form von Zoom zu mir kommt. Aber das gilt nur für wenige. Für die meisten ist es eher ein großer Stresstest, eine sehr schwierige Situation, für die sich erst neue Routinen erarbeiten müssen.

Zu den neuen Routinen gehört auch, mit den Segnungen der Digitalisierung umzugehen, was längst nicht immer reibungslos funktioniert. Diese Distanzmedien helfen uns derzeit aber auch, im Privaten Nähe zu improvisieren. Lernen wir alle gerade, unser Verhältnis zur Digitalisierung konkreter zu fassen und neu zu definieren? Nassehi: Man muss sich die Krise einmal ohne die digitalen Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten vorstellen. Das würde die Sache erheblich schwieriger machen. Ich glaube, dass diese Krise viele Trends in der Gesellschaft sichtbarer macht, und die Digitalisierung gehört auf jeden Fall dazu. An unserer Universität stellen wir fest: Aus der LMU wird jetzt eine digitalisierte Hochschule, viele der Kommunikationen werden darauf umgestellt. Die Kommunikation mit Familienmitgliedern, die nicht am gleichen Ort sind, wird derzeit auf Skype verlagert. Und fast alles, was wir an Informationen bekommen, recherchieren wir im Netz. Ich meine auch, dass Formen künstlicher Intelligenz, aber auch das Handytracking, über das jetzt diskutiert wird, womöglich Tools sind, die helfen, diese Krise zu bewältigen.

Das Handytracking, um Infektionsketten nachzuverfolgen, ist ja durchaus umstritten. Nassehi: Das ist eine Frage, wie man Kollektivgüter jeweils einschätzt. Das kollektive Gut, die Gesundheit der Bevölkerung zu befördern, und das kollektive Gut der informationellen Selbstbestimmung stehen da zurzeit gegeneinander. In einer Krise ordnen sich die Präferenzen womöglich entsprechend neu. Das ist geradezu eine Parabel darauf, dass wir es nicht nur mit einer virologischen Krise zu tun haben. Eigentlich ist die Gesellschaft als Ganzes infiziert. Sie muss ihre Routinen anpassen und dazu gehört auch der Umgang mit dem Datenschutz. Die Diskussion um die Tracking-Software hätte man mal in Zeiten vor Corona versuchen sollen zu führen, das wäre völlig undenkbar gewesen. Jetzt halten sogar Datenschutzbeauftragte den Einsatz solcher Tools für bedenkenswert.

Das zeigt auch die Verschiebungen der Aufmerksamkeit: Gestern Datenschutz oder Klimawandel, heute Corona – man hat das Gefühl, eine Gesellschaft kann immer nur auf ein Problem ihren Fokus richten. Ist das eine simple Form von Komplexitätsreduktion, eine Kapitulation vor der Unübersichtlichkeit der Welt? Nassehi: Naja, was heißt Kapitulation? Wir müssen in unserem Gespräch ja auch gewisse Selektivitäten einhalten; wir können nicht gleichzeitig über alles reden. Aber wir erleben in der Tat gerade eine Fixierung auf ein alles dominierendes Thema, bei der man alle anderen Dinge mit der Lupe suchen muss. Zum Beispiel käme in normalen Zeiten der Wahlkampf in USA jetzt auf Hochtouren. Ganz ist er in der Wahrnehmung nicht verschwunden, aber er hat weit weniger Gewicht. Und wenn man sich die Schrecklichkeiten eines Viktor Orbán in Ungarn anschaut, der gerade ein Ermächtigungsgesetz, man kann es gar nicht anders nennen, durchgebracht hat – selbst solche Meldungen, die normalerweise einen Sturm der Entrüstung entfachen, sind heute allenfalls die zweite oder dritte Meldung in den Nachrichten.

Der Preis des Stillstands ist derzeit nicht gerade klein: beschnittene Freiheiten, ein gesellschaftliches Wachkoma, eine tiefe wirtschaftliche Rezession. Wie lange hält eine Gesellschaft einen solchen Lockdown aus? Nassehi: Diese Frage wird mir immer wieder gestellt, sie ist schwer zu beantworten. Wie sehr wirtschaftliche Strukturen in der Krise nicht nur gestört, sondern auch zerstört werden – das wird unglaublich schwere Folgen für die Gesellschaft haben. Man darf das tatsächlich nicht unterschätzen. Wie lange halten wir das aus? Ich würde sagen: nicht mehr lange. Obwohl wir wahrscheinlich länger mit dieser Situation werden leben müssen, als die meisten Akteure in der Wirtschaft und in den Wirtschaftswissenschaften das bislang formulieren. Für uns Soziologen zeigt sich gerade mit großer Deutlichkeit, wie eine moderne Gesellschaft in Zielkonflikte zerfällt: Manche Virologen sagen, wir sollten eigentlich noch viel länger in diesem Lockdown bleiben, manche Ökonomen sagen, das können wir uns noch maximal drei Wochen leisten. Die politischen Parteien fragen sich, wie lange man der Bevölkerung das noch zumuten kann, ohne dass ihre Loyalität zerstört wird. Und die Psychologen sagen, die Zahl der Depressionen wird steigen, die Suizidraten werden steigen, die häusliche Gewalt wird zunehmen.Wer hat recht? Nassehi: Das Verrückte ist, sie haben alle recht – auch wenn sie sich wechselseitig widersprechen. Das ist das, was eine komplexe moderne Gesellschaft ausmacht. Insofern ist Ihre Frage, wie lange wir das aushalten, nicht mit einem klaren Satz zu beantworten. Man kann es nur normativ beantworten: Wir müssen es so lange aushalten, bis die Gefahr, dass es durch ein zu frühes Lockern zu einem Wiederanstieg der Infektionszahlen und einer Überlastung von Kliniken kommt, tatsächlich ausgeschlossen werden kann. Das muss die Priorität haben im Moment. Aber darum entsteht gerade der Streit.

Schlägt nach der „Stunde der Mikrobiologie“, wie Sie es genannt haben, nicht dann doch die Stunde der Makroökonomie? Will sagen: Wird die Exit-Frage nicht am Ende wirtschafts- und eben nicht gesundheitspolitisch entschieden? Nassehi: Das ist genau die Frage des Zielkonfliktes, den ich eben meinte. Die angemessenen medizinisch getriggerten Maßnahmen produzieren Kosten an anderer Stelle. Eine Lockerung zugunsten der Wiederbelebung wirtschaftlicher Strukturen wird vermutlich Kosten an wieder anderer Stelle entstehen lassen. Und die politischen Maßnahmen, die jetzt nötig sind, produzieren im Übrigen „Kosten“, weil sie verfassungsrechtliche Grundsätze berühren. Verfassungsjuristen jedenfalls sind sehr alarmiert angesichts der Frage, ob die Maßnahmen tatsächlich angemessen sind, selbst wenn die Ziele eindeutig oder normativ richtig formuliert sind. Ganz abgesehen davon erzeugt die Lockdown-Situation selbst gesundheitliche Kosten an ganz anderen Stellen. Aus diesen Zielkonflikten kommt man schwer heraus. Und diese Zielkonflikte beruhen nicht einfach nur auf unterschiedlichen Interessen, sondern entstehen, so könnte man sagen, mit den unterschiedlichen Problembearbeitungsregeln in einer Gesellschaft. Eine eindeutige Lösung gibt es nicht.

Sie sind jetzt in den Corona-Expertenbeirat der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen berufen worden. Worin sehen Sie Ihre Rolle als Soziologe in einem solchen Gremium? Nassehi: Die Kommission ist mit Vertretern und Vertreterinnen aus verschiedenen Reflexionswissenschaften besetzt, mit Juristen, Ökonomen, Psychologen und anderen. Insofern bilden Gremien wie dieses die Struktur der Gesellschaft ab, ihre unterschiedlichen Reflexionsformen und Wirkkräfte. Meine Rolle als Soziologe ist die, darauf hinzuweisen, dass es so etwas wie ein gemeinsames Rationalitätskriterium tatsächlich nicht gibt. Aus keiner disziplinären Perspektive ergibt sich eine Eindeutigkeit. Es geht um Entscheidungen unter Bedingungen von Unsicherheit. Viele klammern sich in solchen Situationen an scheinbare Sicherheiten. Wie steht es beispielsweise mit der Annahme, Risikogruppen ließen sich isolieren? Was, wenn darauf ein Maßnahmenkatalog fußt, die Annahme sich aber als falsch erweist? Auf solche möglichen Probleme kann der Soziologe hinweisen. Das bedeutet aber keineswegs, dass wir in der Lage wären, die Entscheidungen zu fällen. Wir haben es wirklich mit Dilemma-Situationen zu tun.

Erfüllen Sie damit die klassische Erwartung an den Berater noch? Nassehi: Der klassische Berater wäre vielleicht jemand gewesen, der einen berät und sagt, ich weiß es besser als du, mach doch mal dies oder das. Heute ist ein guter Berater eine Art Sparring-Partner, der eine andere Perspektive einnimmt. Es ist ja immer der Beratene, nicht der Beratende, der entscheiden muss. Der bekannteste Wissenschaftler in Deutschland ist zurzeit sicherlich Christian Drosten von der Charité, der sehr klug immer wieder darauf hinweist, dass er als Virologe der Politik nicht die Entscheidungen abnehmen kann. Er könne ein paar Bedingungen und Wenn-Dann-Beziehungen nennen, aber entscheiden müsse die Politik natürlich selbst.

Denken an die Zeit danach: Was wird bleiben – außer dem Virus und der nicht unbegründeten Befürchtung, dass dies nicht die letzte Infektionswelle mit einem neuen Erreger war, die um die Welt geht? Nassehi: Natürlich wird diese Krise enorme Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung haben. Es werden Existenzen zerstört und bestehende Strukturen beschädigt – und das reicht von selbständigen Kulturschaffenden über kleine und mittlere Unternehmen bis zu großen Konzernen. Es wird auf jeden Fall starke Ungleichheitseffekte haben. Aber allgemeine und nachhaltige gesellschaftsstrukturelle Veränderungen sind nicht zu erwarten. Wir wissen, dass sich Gesellschaftsstrukturen auch durch epochale Ereignisse, von denen es im 20. Jahrhundert einige gegeben hat, nicht grundlegend verändern. Wir lernen aus der Krise, wie dilemmatisch und wie wenig aus einem Guss eine moderne Gesellschaft auch im Normalbetrieb ist. Es gibt freilich ein paar Details, die sich nachhaltig ändern könnten.

Zum Beispiel? Nassehi: Wir werden in Zukunft genauer darüber nachdenken müssen, welche medizinische Infrastruktur und welche Infrastruktur, die öffentliche Hilfe ermöglicht, staatlich garantiert werden müssen. Was davon kann man dem Markt überlassen, was nicht? Viele, die den Staat in der letzten Zeit für keinen unbedingt entscheidenden Akteur gehalten haben, werden womöglich feststellen, dass ohne den Rahmen staatlicher Entscheidungen in solchen Situationen wenig auszurichten ist. Wir werden vielleicht auch lernen, dass manche Strukturen in Europa nicht so funktionieren, wie man das gerne hätte. Das sind alles Detailfragen, man könnte diese Liste sicherlich noch erweitern. Aber ob COVID-19 unser Leben grundlegend verändert, ist fraglich. Vielleicht ist es für uns danach nur eine weitere der grippeähnlichen Erkrankungen, die ab und an wiederkommen. Das Vergessen ist in Gesellschaften eines der wirksamsten Tools, um Ordnung aufrechterhalten zu können.Interview: Martin Thurau

Prof. Dr. Armin Nassehi ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der LMU. Nassehi ist zudem unter anderem Mitglied eines Experten-Gremiums der Leopoldina zur Corona-Krise. Diese Arbeitsgruppe eine weitere Adhoc-Stellungnahme verfasst, die die Nationale Akademie der Wissenschaften am 13. April veröffentlicht hat. Darin geben die Experten bereits jetzt breit wahrgenommene Empfehlungen dazu, wie sich „die Krise nachhaltig überwinden“ lässt.

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