KI und Literatur: Die Prosa der Maschinen
Der Literaturwissenschaftler Julian Schröter über die rasanten Fortschritte automatischer Textproduktion, die Zukunft der Autorschaft – und einen möglichen Nischenmarkt für KI-freie Werke
Der Literaturwissenschaftler Julian Schröter über die rasanten Fortschritte automatischer Textproduktion, die Zukunft der Autorschaft – und einen möglichen Nischenmarkt für KI-freie Werke
Es passiert nicht oft, dass japanische Literatur in Deutschland einschlägt. Doch die Schriftstellerin Rie Qudan und ihr letztjähriger Roman erregten Aufsehen. Nicht allerdings, weil das Buch hierzulande so überzeugt hätte – es war noch gar nicht auf Deutsch erschienen. Sondern weil die Autorin, als sie dafür Japans wichtigsten Literaturpreis bekam, freimütig einräumte, sie habe beim Schreiben auch Text von ChatGPT benutzt. Dieses Bekenntnis – was triggerte das?
Julian Schröter: Das Ganze ist nicht so neu. Auch im deutschsprachigen Raum haben literarische Autoren wie Juan S. Guse oder Hannes Bajohr schon im Jahr 2022 mit KI experimentiert. Mir scheint eher, dass die Aufregung über den KI-Gebrauch sich aus einer generellen Sorge speist.
Der Sorge, dass Maschinen das Gute, Wahre, Schöne sozusagen angreifen?
Unsere Vorstellung von Kunst und Literatur ist – zumindest zum Teil – noch immer geprägt von einem Geniekonzept von Autorschaft, das mittlerweile mehr als 200 Jahre alt ist. Da ist oft schon das Arbeiten mit Schnipseln, mit Dingen, die nicht vom Autor selbst sind, skandalträchtig. Doch anders als beim Plagiatsvorwurf geht es nicht um Einzelfälle von allzu freiem Collagieren; mit dem rasanten Fortschritt von künstlicher Intelligenz scheint das herkömmliche Konzept von Autorschaft grundlegend infrage gestellt. Denn dass KI Teil von Autorschaft wird, ist ja irgendwie längst klar. Damit umzugehen, ist die Herausforderung für unsere Gesellschaft.
Rie Qudan rechtfertigte sich damit, sie habe nur in einer kurzen Passage des Romans, in der tatsächlich eine KI spricht, ,die KI um Rat gefragt‘, damit sie eben die Simulation von Literatur besser simulieren könne. Damit war das Thema wieder vom Tisch. Aber hätte die KI, die Rie Qudan benutzt hat, auch längere Passagen zuwege bringen können, die dann als literarisch durchgehen?
Zuerst wäre da die normative Frage, ob das sein darf. Hochliteratur soll gemeinhin das genuin Neue, das Originelle, das Kreative liefern. Und weil Sprachmodelle grundsätzlich stochastische Apparate sind, die sich an menschlichen Erwartungen orientieren, erzeugen sie, auch wenn der Eindruck von Emergenz und Originalität entstehen mag, zunächst eine Rekombination von Gelerntem. Der andere Teil der Antwort wäre nicht normativ, sondern empirisch: Könnte ein künstlich hergestelltes literarisches Produkt als Hochliteratur durchgehen? Ich bin gespannt, wie Experimente dazu ausgehen.
Julian Schröter
Welche Kriterien gibt es denn überhaupt, an denen sich literarischer Appeal festmachen ließe?
Im letzten Jahr hat es ein Experiment zur englischsprachigen Lyrik in die Schlagzeilen geschafft. Darin hat man gezeigt, dass viele Leserinnen und Leser KI-generierte Lyrik oft als literarisch schöner einschätzen als tatsächlich von Menschen geschriebene Lyrik. Von Menschen geschriebene Lyrik ist, und zwar nicht erst seit der Moderne, häufig voraussetzungsreich und nicht unmittelbar verständlich. Ich lese die Studienergebnisse so, dass viele Leserinnen und Leser KI-generierte Gedichte aufgrund ihrer leichteren Zugänglichkeit und Verständlichkeit bevorzugen.
Und Prosa?
Was die Erzählliteratur angeht, spielt die Unterscheidung zwischen Form, also dem Wie des Erzählens, und Inhalt, der Geschichte beziehungsweise dem Was der Erzählung, eine wichtige Rolle. Wie plausibel und kohärent sind die Figuren? Wie interessant und durchdacht ist der Plot? Wie originell ist die Geschichte, wie unerwartet kommen Folgeereignisse und sind gleichzeitig plausibel? Das alles sind Punkte, die den Inhalt oder die Geschichte betreffen und die für einen breiten Literaturgeschmack, glaube ich, wichtig sind, die aber nicht spezifisch für hohe Literatur sind, sondern auch für Unterhaltungsliteratur gelten.
Und dann haben wir das Wie der Erzählung und die Frage, ob ein Werk stilistisch und erzähltechnisch originell und neu ist. Man könnte denken, die Geschichte zu entwickeln, ist das Einfachere und die formalen, auch erzähltechnischen Innovationen, die sind das Komplexere. Mittlerweile habe ich den Verdacht, dass es umgekehrt ist: Plausible, gute Plots zu entwickeln und sie ansprechend zu erzählen, ist enorm schwierig. Einen Tonfall zu simulieren, darin ist KI dagegen offenbar bereits jetzt ziemlich gut.
Large Language Models (LLMs) bilden grob gesagt nur Wortketten, die nach Wahrscheinlichkeit zusammengesetzt sind. Mit diesem Grundprinzip ist die Entwicklung ja rasend schnell schon weit gekommen. Ganz konkret: Kann KI schon Bücher schreiben, die sich mit ein bisschen Nachhelfen verkaufen ließen?
Eine Kollegin aus Berkeley hat das unlängst mit relativ kurzen Geschichten und einfachen Plots experimentell untersucht, etwa mit Abwandlungen der Pygmalion-Geschichte, in denen sich ein Mann in einen vom ihm erfundenen Automaten verliebt. Die Geschichten waren schematisch, oft langweilig, insgesamt nicht überzeugend. Aber die technologische Entwicklung ist so schwer vorhersehbar, dass ich sehr vorsichtig wäre zu behaupten, das ist in einem Jahr immer noch so.
Julian Schröter
Ursprünglich hatten die Modelle sogar Schwierigkeiten, zum Schluss eines Textes den Anfang noch irgendwie im Blick zu haben. Ist dieses Problem vom Tisch?
Ein großer Unterschied von künstlicher Intelligenz zu der eines Menschen ist, dass sie letztlich keine personale Identität hat, dass alles, was einmal vergessen ist, tatsächlich weg ist. Ein weiterer wichtiger Punkt: Sprachmodelle sind nicht gut darin, menschliche, affektive, emotionale Reaktionen zu simulieren. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass sie Spannung nicht selbst empfinden. Sprachmodelle, die man einsetzt, um spannende Passagen in Erzählliteratur zu erkennen, drücken also nicht ihr eigenes Spannungsempfinden aus, sondern sie reproduzieren die sprachlichen Muster, mit denen Spannungsempfinden sozusagen sprachlich rationalisiert wird. Ich glaube, dass das auch einer der Gründe ist, warum LLMs nach wie vor nicht gut darin sind, Menschen durch wirklich spannende Geschichten in den Bann zu ziehen.
Mit Blick auf ästhetische Phänomene fände ich es interessant, KI künftig konsequenter nicht nur auf Sprachverarbeitung im Allgemeinen, sondern konkret auf spezifische psychologische Verhaltensmuster zu trainieren. Es wäre meines Erachtens den Versuch wert, zu sehen, ob das die Modelle zu besseren Geschichtenerzählern macht, die die Erwartungen der Leser besser antizipieren können. Spannend daran finde ich, dass sich durch solche Veränderungen und Verbesserungen immer wieder von Neuem die alte Frage stellen wird, wie lange man argumentieren kann, dass KI-generierte Geschichten keine wirkliche Empathie, keine wirkliche Fantasie zeigen, und dass die generierende KI keine wirkliche Kreativität besitzt, weil ihr Bewusstsein und Vernunft fehlt.
Dass KI Kreativität und Originalität abgingen und sie deshalb per se keine anspruchsvolle Prosa könne – das ist auch eine beliebte Ansicht, um besorgte Literaturliebhaber zu beruhigen …
Eine solche anthropologische Differenz aufzumachen, weckt die trügerische Hoffnung, der Markt für ernste Literatur sei gleichsam geschützt. Für mich ist denkbar, dass der gesamte Buchmarkt, auch der für ,ernste‘, für E-Literatur, so stark von KI profitieren wird, dass es selbstverständlich wird, überall KI-Assistenten zu benutzen. Dies würde dazu führen, dass wir auch Autorschaft als Kollaboration zwischen Menschen und KI begreifen. Ich halte aber eine gewisse Teilung für wahrscheinlich: Ein Großteil des Buchmarktes wird in eine symbiotische Phase treten. Und daneben wird sich möglicherweise ein kleiner puristischer E-Literaturmarkt etablieren – mit einem ,Garantiert KI-frei‘-Stempel als Marketingstrategie.
Sozusagen als Luxusgut? Wie die gut gemachte, etwas raue Schallplatte im Spotify-Universum?
Das wird eintreten, wenn es ähnlich wie bei Vinyl zu einer Art Distinktionsmerkmal wird: Ich lese nur rein menschengemachte Literatur, weil das entweder Bildung oder ästhetischen Geschmack zum Ausdruck bringt. Ganz so, wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu analysiert hat, was die ,feinen Unterschiede‘ ausmacht, vom Regal voller Klassiker bis zum Wissen, wie man das Besteck vornehm hält.
Julian Schröter
Die Bücherwand also wieder als kulturelles Kapital.
Ganz genau, wobei ich betonen möchte, dass wir hier über mögliche Szenarien sprechen, nicht über sichere Prognosen. Die Bücherwand, die Sie ins Spiel bringen, soll ja nicht nur mit Büchern bestückt sein, die vor 2022 erschienen und deshalb garantiert KI-frei sind. Man muss auch an die intellektuelle Bücherwand der Erscheinungen nach 2025 denken, in der Bücher stehen sollen, bei denen ein menschlicher Geist mit einem menschlichen Geist kommuniziert.
Bücher vom Nischenmarkt, wenn man einen mainstreamigen Einheitsbrei satthat, der mit KI immer wieder aufgerührt wird?
Auch für mich als Leser habe ich die Hoffnung, dass neue und ungewöhnliche, originell klingende Literatur erscheint, und dass es einen Markt dafür gibt. Im Moment ist es so, dass man mit einiger Übung den KI-Durchschnittssound gut erkennt und, wenn es um literarische, ästhetische Erfahrung geht, schnell über hat.
Auch Sie als Literaturwissenschaftler nutzen KI – nicht zur Textproduktion, sondern zur Untersuchung produzierter Texte. Worum geht es Ihnen dabei?
Es sind vor allem zwei Fragestellungen: Ich beschäftige mich zum Beispiel mit Heftromanen, dort mit Krimis. Das ist ein riesiger Gegenstandsbereich, den man lesend gar nicht bewältigen kann. Deswegen ist hier quantitative Textanalyse extrem fruchtbar, zumal wir sie auch als sozialgeschichtliche Untersuchung anlegen können. Mit großen Sprachmodellen können wir literaturgeschichtliche Analysen über die Evolution und den Wandel von ästhetischen Schreibverfahren im sozialen und kulturellen Kontext anstellen.
Waren Krimiheftromane in den 1910er- bis 1930er-Jahren und später in den 1950er- bis 1970er-Jahren so erfolgreich, weil sie alle das gleiche Modell von Kriminalliteratur bedienen, oder weil sie – umgekehrt – vielleicht sogar eine hohe Vielfalt an Krimi-Modellen aufweisen? Wenn wir diese Frage mithilfe KI-gestützter Korpusanalysen beantwortet haben, können wir mit klassischen statistischen Verfahren nach den sozial- und mediengeschichtlichen Ursachen und Hintergründen dieser – nun vermutlich zu Ende gehenden – Erfolgsgeschichte der Krimiheftromane fragen.
Und die zweite Fragestellung?
Was heißt es eigentlich, wenn wir sagen, KI kann Literatur ,verstehen‘? Wir haben das jüngst an zwei Gedichten untersucht – mit einem, das Sprachmodelle im Training sicher gesehen haben, nämlich Hölderlins „Hälfte des Lebens“, und einem völlig unbekannten Gedicht. Wir konnten zeigen, dass die Modelle semantische Relationen, auch metaphorische Zusammenhänge, bildliche Dimensionen sozusagen in Lyrik erstaunlich gut erfassen können. An einfachsten Aufgaben dagegen wie die Metrik oder ein Reimschema zu erkennen, sind die Modelle vor einem halben Jahr noch gescheitert.
Julian Schröter
Das führt letzten Endes zu der Frage, was Verstehen eigentlich ist und welchen Begriff davon man anlegen will. Geht es um das, was uns ein Gegenüber, Mensch oder Maschine, an Verstehensleistung präsentiert? Im Fall der Maschine ein nicht mehr als maschinell erkennbares Verhalten? Oder sagen wir, ,echtes‘ Verstehen gibt es nur, wenn es in meinem Bewusstsein irgendwie repräsentiert ist oder an mein übriges Weltwissen anknüpfen kann? Ich finde es interessant zu beobachten, wie unsere Begriffe von Bedeutung, Verstehen und Kreativität durch KI unter Druck geraten, und wie wir mit unserer Sprache auf diesen Druck reagieren. Es geht mir also um die Beobachtung semantischen Wandels – sozusagen – in Echtzeit.
Kleiner Realitätscheck: Was können Verlage, die ja Literatur veröffentlichen, heute schon mit KI anfangen?
Es gibt in Verlagen tatsächlich ein großes Potenzial dafür, KI als Assistenten anzustellen, nicht zuletzt, weil große Sprachmodelle etwa schon sehr gut darin sind, Texte zusammenfassen. Manuskriptprüfungen, alle Arten von Sekundärmaterial, die Auswertung von Leserstimmen sowie Markt- und Zielgruppenanalysen sind damit machbar. KI kann auch zum Pricing dienen, also der von Algorithmen gesteuerten flexiblen Preisgestaltung etwa bei E-Books, sowie zu Marketing-Strategien, Illustration und Covergestaltung.
Zum diesjährigen Thomas-Mann-Jubiläum erschienen die Taschenbücher der bekannten Werke neu ausgestattet – mit nicht gerade seelenvoller Midjourney-Bebilderung auf den Titeln. Säulenheiliger der deutschen Literatur versus kühle Bildmaschine – dieses Crossover hätte ja eigentlich Stoff gegeben für eine Diskussion um Kreativität und Kunst. Doch stattdessen häuften sich die Hinweise, dass die KI beim Cover vom Zauberberg noch nicht einmal die Beine der Liegestühle richtig hinbekommen habe.
Es ist ein kulturell gut eingeübtes Muster, solcherlei Fehler mit Befriedigung zu diagnostizieren, um die potenzielle Bedrohlichkeit einer neuen Technologie abzumoderieren. Dieses Reaktionsmuster dürfte also primär die Funktion haben, KI ‚einzuhegen‘. Dabei könnte man hier spannende Fragen diskutieren: Was passiert, wenn wir einen Klassiker mit stochastisch generiertem Inhalt übermalen? Entsteht da eine ästhetische Resonanz? Vielleicht fehlen uns noch die Begriffe und die Diskursregeln, um eine solche Diskussion ernsthaft zu führen.
Und gerade, weil wir im Feld der sogenannten Hochkultur solchen Diskussionen aus dem Weg gehen, haben tiefgreifendere Debatten über KI als Kulturtechnologie noch erhebliches Entwicklungspotenzial. Wenn wir KI als Kulturtechnologie begreifen, könnten wir uns auch mit der Frage beschäftigen, wie sich KI-Unterstützung und menschliche Kreativität in eine überzeugenden Synthese bringen lassen.
Prof. Dr. Julian Schröter ist Professor für Digitale Literaturwissenschaften am Institut für Deutsche Philologie der LMU.
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