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Der Wert der Vegetation

10.07.2019

Rodung, Waldbewirtschaftung und Agrarproduktion: Die Geographin Julia Pongratz untersucht, welchen Einfluss die Landnutzung auf das Klima hat.

Der Tag, an dem die Brasilianer Jair Bolsonaro zum Präsidenten machten, war auch für das Weltklima kein gutes Datum. Der Rechtspopulist und neue starke Mann hatte schon im Wahlkampf getönt, er werde mit dem „Umweltaktivismus“ seiner Vorgänger aufräumen, das ließ nichts Gutes ahnen. Nicht dass die Regierungen zuvor Vorkämpfer für den Klimaschutz gewesen wären, doch was Bolsonaro seit seinem Amtsantritt im Januar 2019 ins Werk zu setzen verspricht, ist eine Zerstörung mit Ansage und torpediert alle Anstrengungen der Weltgemeinschaft, den Treibhauseffekt zu dämpfen.

Mehr als drei Millionen Quadratkilometer des brasilianischen Hinterlandes sind tropischer Regenwald, eine riesige Fläche, eine noch weitgehend ursprüngliche Landschaft – und aus Sicht von Klimaexperten eine gigantische Kohlenstoffsenke: Bäume atmen das klimaschädliche Kohlendioxid (CO2) ein und speichern es. Etwa ein Zehntel des Urwaldes, eine Fläche von der Größe der Bundesrepublik, ist in den letzten gut 30 Jahren in Brasilien vernichtet worden. Die ursprüngliche Vegetation fiel meist allenfalls halblegaler Abholzung oder Brandrodung zum Opfer, die Wälder mussten Rinderfarmen und Sojafeldern weichen. Bolsonaros Vorgänger hatten das Tempo der Zerstörung in den vergangenen Jahren drosseln können. Damit ist nun Schluss. Die Wochenzeitung Die Zeit etwa titelte besorgt: „Was wird aus der grünen Lunge des Planeten?“

Das ist eine Frage, die auch Julia Pongratz in ihrer wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt. Aufmerksam beobachtet die Klimaforscherin, welches Ausmaß solche Landnutzungsänderungen, wie sie in der Fachsprache erst einmal ganz wertfrei heißen, annehmen – im brasilianischen Regenwald und anderswo auf der Erde. Und sie versucht herauszubekommen, was es für das globale Klima bedeutet, wenn Wälder zu Äckern oder Weiden werden, oder auch nur Mischwälder zu Monokulturen. Wie sehr verstärkt das den Treibauseffekt? Welche Wechselwirkungen lassen sich beobachten? Allerdings, so fragt Julia Pongratz, seit vergangenem Jahr Inhaberin des Lehrstuhls für Physische Geographie und Landnutzungssysteme an der LMU, auch: Welche Formen von Land- und Forstwirtschaft könnten helfen, das Aufheizen der Erdatmosphäre abzumildern?

Die rote Linie weist klar nach oben

Es ist eine einfache Grafik, die Julia Pongratz zeigt, nur eine rote Linie, wenn auch mit leichten jahreszeitlichen Schwankungen, doch ist sie in ihrer Aussage so klar und unerbittlich, als gelte es, sämtliche Bemühungen um den Klimaschutz einfach durchzustreichen. Sie zeigt die Anreicherung von Kohlendioxid in der Atmosphäre. Der rote Strich weist klar nach oben: Allein in den vergangenen 50 Jahren, so zeigt die kontinuierliche Messung, ist die Konzentration des Treibhausgases um rund 20 Prozent gestiegen. „Trotz der internationalen Abkommen zum Klimaschutz hat es keine offensichtliche Reduktion des CO2-Anstiegs gegeben“, sagt Julia Pongratz. „Aber ohne all diese Anstrengungen wäre die Kurve vermutlich noch steiler.“

Durch „menschliche Aktivitäten“ sind seit 1750, so zeigen Bilanzen des internationalen Global Carbon Project, in das Julia Pongratz involviert ist, rund 660 Gigatonnen Kohlenstoff freigesetzt worden, was in etwa 2,4 Teratonnen Kohlendioxid entspricht. Dass der globale CO2-Ausstoß deutlich und später rasant anstieg, kam allerdings erst mit der Industrialisierung. Doch nur ein Teil – gut 40 Prozent – des Kohlenstoffes verblieb in der Atmosphäre und trug dort zum Treibhauseffekt bei; mittlerweile liegt dieser Wert eher bei 45 Prozent. Den großen Rest haben zur einen Hälfte die Ozeane aufgenommen – und zur anderen Böden und Pflanzen.

Das zeigt bereits, welch wichtige Rolle die Vegetation für das Klima spielt – und der Einfluss des Menschen darauf. Julia Pongratz hat in den vergangenen Jahren am Max-Planck-Institut (MPI) für Meteorologie, Deutschlands wohl erster Adresse für Klimaforschung, viel dazu gearbeitet. Sie leitete bis zu ihrem Wechsel nach München die Forschungsgruppe „Forstwirtschaft im Erdsystem“, die aus dem angesehenen Emmy-Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde.

Etwa drei Viertel der gesamten eisfreien Landfläche sind unter der Regie des Menschen. Auf einem Viertel haben sie die ursprüngliche Vegetation im Laufe der Geschichte vernichtet, die restlichen Flächen werden zu zwei Dritteln in der einen oder anderen Art bewirtschaftet: Etwa ein Viertel dessen, was im Laufe eines Jahres an pflanzlicher Biomasse nachwächst, der terrestrischen Nettoprimärproduktion, wie es in der Fachsprache heißt, schöpft der Mensch für seinen Bedarf ab. Diese Ausbeutung der Natur bleibt nicht ohne Folgen für das Klima: Etwa ein Drittel des Kohlendioxids, das jemals durch menschliche Aktivitäten freigesetzt wurde, stammt aus Änderungen der ursprünglichen Vegetation.

"Das Klimasystem reagiert nicht linear"

Doch wie groß sind die Klimaeffekte tatsächlich, wenn Menschen in großem Stil die Vegetation verändern? Lange Zeit war der Blick fast ausschließlich auf die Verbrennung fossiler Brennstoffe zur Energieversorgung und im Verkehr gerichtet, wenn es um den Klimawandel ging. Und in der Tat verursacht sie heute den weitaus größten Teil der Kohlendioxidemissionen. „Aus Landnutzungsänderungen stammen demgegenüber etwa zehn Prozent des jährlich emittierten Kohlendioxids“, bilanziert Julia Pongratz. Das klinge zunächst nicht nach dem alles entscheidenden Posten. Doch dieses Bild ist nicht vollständig, denn die landwirtschaftliche Produktion setzt noch andere Treibhausgase frei: Lachgas aus der Düngung, Methan aus der Viehzucht und dem Reisanbau. Rechnet man dies in die jährlichen Gesamtemissionen ein, kommt man auf einen Anteil aus der Landnutzung von nahezu einem Drittel. In einer ganzen Reihe vor allem einkommensschwächerer und weniger industrialisierter Staaten trägt die Landnutzung mehr zum Treibhauseffekt bei als die Verbrennung fossiler Brennstoffe. Und das Riesenland Brasilien ist die Nummer eins, was die Emissionen aus der Landnutzung angeht.

Jeder Kahlschlag also greift massiv in den Kohlenstoffkreislauf ein. Doch nicht nur solche biochemischen Prozesse beeinflussen den Treibhauseffekt, es spielen auch eine Reihe physikalischer Effekte eine Rolle. Die Albedo etwa, der Anteil des reflektierten Sonnenlichtes, steigt, wenn der dunkle Wald verschwindet und auf der Fläche beispielsweise Getreide wächst. Das immerhin hat einen kühlenden Effekt. Gleichzeitig aber sinkt mit dem Verlust von Blattfläche die – kühlende – Transpiration, was wiederum zu einem Aufheizen der Fläche führt. In einem Wald kommen etwa sieben Quadratmeter Blattfläche auf einen Quadratmeter Boden, in einem Urwald sogar bis zu zwölf. Damit kann ein Wald ungleich mehr Feuchtigkeit abgeben als etwa ein Getreidefeld.

Solche lokalen kleinräumigen Änderungen im Wasser- und Wärmehaushalt können sich auf größerer Skala sozusagen auch in ferneren Regionen auswirken, weil sie durch die Luftströmungen weitergetragen werden. Erst kürzlich entwickelte Pongratz’ Gruppe eine Methode, die Effekte rechnerisch voneinander zu trennen. Bis dahin fielen die Fernwirkungen oft unter den Tisch, weil Beobachtungsdaten nur lokale Änderungen erfassen können. Eine weitere Schwierigkeit: „Das Klimasystem reagiert auch nicht linear“, sagt Julia Pongratz. „Es macht eben schon einen Unterschied für die lokalen Temperaturen, ob Sie die ersten oder die letzten zehn Prozent eines Waldes abholzen.“

Kirchenbücher liefern Daten für Klimamodelle

Wie aber lassen sich die Abschätzungen für die Landnutzung in die Klimamodelle einbauen? „Als ich mit dem Studium fertig war, 2005, war es gelungen, einen Kohlenstoffkreislauf und die wichtigen damit verbundenen klimarelevanten Prozesse in die großen globalen Modelle einzupassen. Das waren die ersten echten Erdsystemmodelle, wie sie heute gang und gäbe sind. Damals war das wirklich revolutionär“, sagt Julia Pongratz. Das MPI hat ein eigenes Klimamodell entwickelt, bei dem Atmosphäre, Ozean und Vegetation miteinander in den Simulationen interagieren. „Solche globalen gekoppelten Modelle sind besonders aufwendig“, sagt Pongratz.

Da Kohlendioxid sich lange in der Atmosphäre hält und anders als Methan etwa nicht chemisch abgebaut wird, zählen nicht nur die aktuellen Emissionen, sondern im Grunde alles, was sich über die Jahrtausende hin an Treibhausgasen gehäuft hat. Doch die historische Dimension hatte bis dahin niemand rekonstruiert. In ihrer Doktorarbeit hat Julia Pongratz das Ausmaß der Landnutzung und damit auch der CO2-Freisetzung im gesamten vergangenen Jahrtausend quantifiziert – im globalen Maßstab. Um eine solche Abschätzung zu ermöglichen, sammelte sie beispielsweise Bevölkerungsdaten aus Kirchenbüchern und Dokumentationen von Volkszählungen. Für eine Zeit ohne nennenswerten globalen Handel lässt sich damit einigermaßen verlässlich auf die landwirtschaftlich genutzte und dafür entwaldete Fläche hochrechnen. Danach wurden schon im Jahrtausend vor der Industrialisierung in der Bilanz gut 100 Gigatonnen CO2 freigesetzt.

2014 machte eine Untersuchung, an der Julia Pongratz maßgeblich mitgearbeitet hatte, Furore, weil sie die Klimaforschung erneut zum Umdenken zwang. „Entwaldung und Landnutzung zeigen Effekte gleicher Größenordnung. Wenn Sie einen Wald stehen lassen, ihn bewirtschaften, seine Artenzusammensetzung ändern, kann sich das ähnlich stark auf die lokalen Temperaturen auswirken, als wenn Sie ihn umgeschlagen hätten. Das hat die Klimawissenschaft bislang weitgehend ignoriert“, sagt Pongratz. Im vergangenen Jahr erschien im renommierten Fachblatt Nature eine weitere Arbeit mit Beteiligung Pongratz‘, die solche Effekte auch für die Kohlenstoffspeicherung quantifizierte: Ohne anthropogenen Einfluss könnte die Vegetation global gesehen gut 900 Gigatonnen Kohlenstoff speichern. Aktuell kommt sie auf etwa 450 Gigatonnen. Die Differenz, die den Verlust markiert, geht zu gut der Hälfte auf Änderungen der Landbedeckung zurück, zur knappen anderen Hälfte auf die Landnutzung. „In einer dritten Arbeit konnten wir diese Größenordnung auch mit Modellierungen bestätigen. Wir müssen also unsere globalen Modelle unbedingt um das Landmanagement erweitern.“ Doch das ist schwierig, nicht nur, weil sich lokale Effekte mit Fernwirkungen überlagern, sondern auch, weil man kleinräumig gewonnene Daten braucht, um das Landnutzungs-Patchwork adäquat abzubilden.

Ackern für den Klimaschutz?

Ein besonders genaues und detailreiches Bild der globalen Emissionen zu zeichnen, das hat sich das Global Carbon Project, ein Team von Klimaforschern unter der Ägide der Vereinten Nationen zur Aufgabe gemacht. Pongratz koordiniert die Arbeiten, die die Emissionen aus der Landnutzung abschätzen. In einem Projekt etwa versuchen die Wissenschaftler, die Biomassebestände für ganz Europa aus Satellitendaten hochzurechnen. Am Ende sollen dabei hochaufgelöste aus Beobachtungen gespeiste Modelle herauskommen.

Auch in den Weltklimarat, nach dem englischen Titel mit IPCC abgekürzt, ist Pongratz eingebunden. So gehört sie zu den Autoren des IPCC-Berichtes und koordiniert zwei Projekte zum Kohlenstoffkreislauf und zu Landnutzungsänderungen mit. Schon in diesem Sinne ließe sich der Titel der Antrittsvorlesung verstehen, die Julia Pongratz Anfang des Jahres an der LMU gehalten hat: „Ackern für den Klimaschutz.“ Doch der Wissenschaftlerin ging es um etwas anderes: um die Frage, ob bestimmte Formen der Landnutzung dazu beitragen könnten, die Folgen des Klimawandels so weit abzuschwächen, dass er noch unter Kontrolle bleibt.

Mittlerweile sind sogenannte Negativemissionstechnologien ins Blickfeld gerückt. Sie zielen darauf ab, den Kohlenstoff durch Speicherung dem Kreislauf zu entziehen. Als eine im wahrsten Sinn bodenständige Variante gilt eine breit angelegte Aufforstung. Nutzte man Flächen, die den Szenarien zufolge nicht mehr für die Landwirtschaft benötigt würden, so haben Julia Pongratz und ihr Hamburger Kollege Sebastian Sonntag errechnet, könnte das die Zunahme von CO2 in der Atmosphäre bis zum Jahre 2100 um weit mehr reduzieren als bislang angenommen. Einem „plausiblen Szenario“ zufolge verminderte das das Ansteigen der globalen Durchschnittstemperatur um etwa 0,3 Grad.

Aufs Ganze gesehen ist die Sache für Pongratz so klar wie dringlich: Die bisherigen globalen Anstrengungen für den Klimaschutz reichen nicht. Die Ziele, die das Kyoto-Protokoll gesteckt hatte, werden nur teilweise erreicht. Das Paris-Abkommen von 2015 ist schon deswegen weniger streng, weil es den Staaten der Weltgemeinschaft überlässt, die Ziele selbst zu formulieren. Zusammengenommen werden diese Anstrengungen das definierte Ziel, die globale Durchschnittstemperatur nicht um mehr als 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau ansteigen zu lassen, weit verfehlen – wenn Bevölkerung, Industrie und Politik ihr Verhalten nicht grundlegend ändern. „Derzeit steuern wir eher auf drei Grad zu“, sagt Pongratz.

„Es bleibt nicht mehr viel Zeit, das System grundlegend zu verändern“, mahnt die Klimaforscherin. Die verschiedenen Szenarien, die Forscher in aller Welt mit ihren Modellen durchgerechnet haben, stimmen in einem Punkt überein: Bis Mitte dieses Jahrhunderts muss der weltweite CO2-Ausstoß auf null gehen, danach müssen die Emissionen rechnerisch negative Werte annehmen. Dafür müsse der Höhepunkt der Emissionen „schon deutlich vor dem Jahr 2030“ überschritten sein.

„Als ich in der Klimaforschung anfing“, erinnert sich Julia Pongratz, „stand noch schlicht das Erkenntnisinteresse im Vordergrund. Jetzt, mit der Frage, ob sich das 1,5-Grad-Ziel noch erreichen lässt, hat meine Arbeit eine ganz andere Dringlichkeit bekommen.“ Die Politik eines Jair Bolsonaro ist da nur eines der Hindernisse, die dem Klimaschutz entgegenstehen. (Martin Thurau)

Prof. Dr. Julia Pongratz ist Inhaberin des Lehrstuhls für Physische Geographie und Landnutzungssysteme an der LMU. Pongratz, Jahrgang 1980, hat an der LMU und an der University of Maryland Physische Geographie studiert. Promoviert wurde sie in Hamburg; ihre Dissertation am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg wurde unter anderem mit der Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft ausgezeichnet. Anschließend arbeitete sie als Postdoktorandin am Department of Global Ecology der Carnegie Institution in Stanford, USA. Von 2013 an leitete sie die Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe „Forstwirtschaft im Erdsystem“, bevor sie im Frühjahr 2018 an die LMU wechselte.

Der Artikel ist der aktuellen Ausgabe von Einsichten. Das Forschungsmagazin entnommen. Das Magazin erscheint mit dem Schwerpunkt „Smarte Wesen". Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen gehen Fragen zu Intelligenz und künstlicher Intelligenz nach.Das Magazin kann kostenfrei online abonniert werden.

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