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In sein von Beruf

13.03.2020

LMU-Historiker zeichnen die Entstehung der High Society nach und zeigen, dass die Prinzipien von Facebook und Influencer-Marketing bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zurückreichen.

Zellulosenitrat ist ein gefährlicher Stoff für ein Forschungsprojekt. Als das Team um Professorin Margit Szöllösi-Janze und PD Nicolai Hannig, Historisches Seminar, Filme aus den 1920er-Jahren abspielen lassen wollte, die ihnen in verrosteten Rollen in einem alten Karton übergeben worden waren, hörten sie zunächst: Sollten es Nitrofilme sein, könne das Ganze jederzeit explodieren. Im Münchner Filmmuseum bekamen sie Entwarnung, konnten das Material endlich sichten und waren sich sofort sicher: „Das ist ein spektakulärer Fund“, sagt Hannig.

Die Amateuraufnahmen zeigen das US-amerikanische Ehepaar Margaret und Lawrence Thaw aus New York bei ihrem Honeymoon 1924, auf ihren Reisen, unter anderem durch Europa, und bei der Inszenierung ihres glamourösen Alltags. Sie führten die Historiker vom Lehrstuhl für Zeitgeschichte ebenso zu den Anfängen der High Society und der Bewegtbild-Technik wie auf die Spur eines Justiz-Skandals, der mit seiner Mischung aus Sex and Crime einst die Schlagzeilen bestimmte.

„Es ist sensationell, dass dieses Material überhaupt überliefert ist“, sagt Hannig. Ein wohlhabender Privatier hatte die Kiste auf dem Dachboden einer alten Villa am Ammersee entdeckt, die er sich vor einigen Jahren gekauft hatte, und sie Nicolai Hannig übergeben, bei dem er ein Geschichtsseminar besucht hatte. In der Villa hatte nach dem Zweiten Weltkrieg der Sohn des High-Society-Paares gelebt.

Ende der 1930er Jahre waren Lawrence und Margaret durch ihre Filmreisen so berühmt geworden, dass sie auf ihrer letzten Fahrt durch den Nahen Osten und Indien 1939/40 auch Werbefilme für große Unternehmen drehten. Credit: Global ImageWorks / www.travelfilmarchive.com

Peggy und Larry, wie sie genannt wurden, drehten die Filme nicht nur zum Spaß. Sie nutzten sie, um sich und ihr Leben darzustellen und damit ihre Zugehörigkeit zur High Society zu demonstrieren. „An der Familie Thaw lässt sich sehen, wie sich das Gebilde High Society überhaupt erst herauskristallisierte“, so Margit Szöllösi-Janze. „Es ist eine gesellschaftliche Formation, die sicher nicht unabhängig ist vom Zugriff auf Vermögen – es geht immer auch um Geld –, aber vor allem dreht sich alles um Sehen und Gesehenwerden und darum, sich selbst zu thematisieren. Zugehörigkeit ist nicht mehr primär eine Frage der Klasse, von oben und unten, sondern von in oder out sein. Man gehört dazu, wenn es gelingt, die mediale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und man dadurch sichtbar für andere zur High Society zählt.“

Shoppen, Party, Grand Hotel Die Thaws gehörten zu den ersten, die dafür Amateurkameras extensiv nutzten und sie in ihren Alltag integrierten – ein Privileg. „Das war damals nur für sehr ausgewählte Kreise erschwinglich. Das Equipment war teuer und sperrig. Wenn man es, wie die Thaws, überallhin mitnehmen wollte, brauchte man eigens Personal dafür“, sagt Hannig. Die Filme zeigen Margaret beziehungsweise Peggy, wie sie auch genannt wurde, beim Shoppen, beim Tee im Grand Hotel oder Sport. „Sie versuchten mitzubestimmen, was es ausmachte, zur High Society zu gehören – es ging um Verhaltensweisen und Orte, an denen man sich aufhielt.“ Zugleich ahmten sie nach, was sie glaubten, zeigen zu müssen, um dazuzugehören. „Die Kriterien änderten sich jedoch laufend. Es gab keine klare Definition, was High Society eigentlich ist.“

„Bei den Filmen ist der männliche Blick zu erkennen: Peggy spielt das Frauchen, eine Rolle. Aber zur gleichen Zeit ist sie es, die den Blick lenkt. Sie übt großen Einfluss aus und setzt Standards, was man konsumiert und wie man sich zeigt. Sie lenkt Aufmerksamkeit und Geldströme“, sagt Margit Szöllösi-Janze. Peggy etablierte sich so zum It-Girl der 1920er- und 30er-Jahre und man liegt nicht falsch, in ihr die Ahnin der heutigen Influencer zu sehen. „Wir leben in einer Gesellschaft, deren historische Tiefe und Selbstreflexion sehr begrenzt ist. Wir glauben immer, alles ist neu und findet jetzt statt. Aber der Begriff Influencer passt gut auf Peggy Thaw.“ Dabei musste Peggy immer wieder dafür sorgen, dass die mediale Aufmerksamkeit auf sie gerichtet blieb, nicht nachließ. „Diese medial bestimmte Aufmerksamkeitsökonomie verbinden wir heute mit dem Aufkommen von Internet und Social Media, doch an den Thaws sehen wir, dass ihre Anfänge bis zur vorletzten Jahrhundertwende zurückreichen.“ Die Reisen der Thaws wurden über die Zeit immer spektakulärer, führten sie nach Afrika und Indien. Die beiden professionalisierten sich und gewannen Partner, um ihre Vorhaben zu finanzieren. Unter anderem arbeiteten sie mit der National Geographic Society zusammen.

Für Nicolai Hannig zeigt dieses High-Society-Paar beispielhaft, „dass die Prinzipien, denen Plattformen wie Instagram und Facebook zugrunde liegen, von diesen Unternehmen nicht erfunden wurden. Sie geben einen Rahmen vor, in dem man sich präsentieren kann. Wie dieses Präsentieren stattfindet, hat sich aber schon über Jahrzehnte eingespielt.“ Und dazu gehörte bereits in den 1920ern das allzu Private. Es gibt Aufnahmen, die damit beginnen, wie Peggy morgens im Bett liegt und aufwacht. Das verrät nicht nur, dass die Kamera für die Thaws ein ständiger Begleiter war. „Das funktionierte offenbar bereits vor Smartphonezeiten und das, obwohl die Apparate so sperrig waren“, sagt Hannig. Die Schlaf- oder Badezimmeraufnahmen machen auch deutlich, wie sehr sich damals die Grenze zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit verschob. Der damals entstehende Gesellschaftsjournalismus, der die Yellow Press, die bunten Seiten, füllte, verlangte nach Home Stories und setzte auf den Blick durchs Schlüsselloch. „Die Medien waren die entscheidenden Faktoren dafür, dass die Formation High Society überhaupt entstehen konnte. Sehen und Gesehenwerden funktionierte nur darüber.“

Vom Verbrechen des Jahrhunderts Wie die Medien bereits vor 100 Jahren alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrungen haben, zeigt ein weiteres Ehepaar der Thaw-Familie, das Anfang des 20. Jahrhunderts in einen Justizskandal verwickelt war: Larrys Onkel, der Millionär Harry K. Thaw, erschoss am 25. Juni 1906 vor fast 1000 Theaterbesuchern in New York einen Star-Architekten, der Thaws Ehefrau, das Model Evelyn Nesbitt, Jahre zuvor vergewaltigt haben soll – ein gefundenes Fressen nicht nur für die Yellow Press. Auch Filme, Lieder und Theaterstücke darüber wurden produziert. „Wir glauben heute, dass Medienensembles ein Phänomen unserer Zeit sind. Aber schon damals griffen die Medien ineinander“, sagt Margit Szöllösi-Janze.

Auch der Versuch des Paares, die Berichterstattung zu lenken, erinnert an die Gegenwart. „Seine Frau ist zunächst Revuegirl und wird dann zeitweise eine der wichtigsten und bestbezahlten Schauspielerinnen auf dem Broadway. Es lässt sich heute nachvollziehen, wie sie versucht, Kontrolle über die Medien und so etwas wie Deutungsmacht zu bekommen, daran aber auch immer wieder scheitert“, sagt Margit Szöllösi-Janze. „Aber auch Harry wird von den Medien kontrolliert.“ Eigentlich war Harry nach dem Mord ein Kandidat für die Todesstrafe. „Mit dem Skandal blicken wir auf eine Zeit, in der sich die amerikanische Rechtsprechung und Psychiatrie massiv veränderten, auch mithilfe der Medien und im Zuge dieses Falls. Seine Mutter, eine typische Angehörige der Upper Class, wollte ihren Sohn retten. Und setzte sich dafür ein, dass seine Zurechnungsfähigkeit infrage gestellt wurde“ 1908 wurde Harry für mehrere Jahre in die Psychiatrie eingewiesen, 1947 starb er.

Seine jüngeren Verwandten Margaret und Larry Thaw fallen mit Ende des Zweiten Weltkriegs aus der High Society heraus. Sie wurden älter und erfüllten irgendwann die Kriterien für die Zugehörigkeit, die sie so lange mitbestimmt hatten, nicht mehr. „Die Formation ist fluide, sie ändert sich, rücksichtslos gegenüber ihren Mitgliedern, wenn man so will“, sagt Hannig. Der Begriff High Society wurde erst in den 1950ern mit dem gleichnamigen Film geprägt. Doch letztlich, so Hannig, gab es in der Nachkriegszeit viele andere Begriffe dafür, auch wenn diese andere Dimensionen stärker betonten wie etwa der „Jetset“ oder die „Hautevolee“. „Das Phänomen besteht fort und mit ihm die Grundprinzipien von in und out sein, von Kriterien der Zugehörigkeit, die sich laufend wandeln, und Orten, an denen man gesehen werden muss.“

Für die LMU-Forscher eröffnete der Dachbodenfund der Kiste mit den alten Filmrollen, der ihnen unerwartet in die Hände fiel, einzigartige Möglichkeiten, an den Biographien der Thaws zu untersuchen, wie die Massenmedien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die US-amerikanische Gesellschaft prägten, und den Zusammenhang von gesellschaftlichem und medialem Wandel zu erforschen. Inzwischen sind weitere außergewöhnliche Quellen hinzugekommen. Emanuel Steinbacher, Stipendiat im Projekt, ist es gelungen, den als verschollen geltenden Nachlass von Harry K. Thaw zu sichern. Er lagerte über Jahre unbeachtet in einem Keller in New York.Nicola Holzapfel

Im Rahmen des von der Gerda-Henkel-Stiftung finanzierten Forschungsprojekts „ Die Thaws: High Society, Medien und Familie in den USA in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts “ untersucht Emanuel Steinbacher den Fall Harry K. Thaw. Dr. des. Juliane Hornung (inzwischen Universität zu Köln) hat im Rahmen ihrer Dissertation am Lehrstuhl Leben und Reisen von Margaret und Lawrence Thaw erforscht.

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