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„Viele Studierende wohnen noch bei ihren Eltern"

29.08.2019

Die LMU-Soziologin Saskia Gränitz erläutert, wie die hohen Mieten Arbeiterkinder vom Studium abhalten und warum die Politik versagt hat.

MUM: Frau Gränitz, wenn Sie heute noch einmal ein Studium anfangen würden. Wie würden Sie versuchen, an eine Wohnung zu kommen?
Gränitz: Ich hatte mein Studium 2007 in Leipzig begonnen. Ich wohnte in einer WG für 4,50 Euro warm pro Quadratmeter. Eine solche Miete ist heute undenkbar. Ich kenne also keine Geheimtipps für Menschen, die in München dringend eine Wohnung suchen, weil ich das Problem zum Glück nicht hatte. Allerdings sollte auch nicht jeder nur irgendwie eine individuelle Lösung suchen. Viele Menschen sind gezwungen, Wohnverhältnisse einzugehen, die sie nicht wollen. Deshalb sollten sich die Studierenden prinzipiell stärker in Mieter- und Mieterinnenbewegungen organisieren. Da kann man sich nicht nur gegenseitig bei der Wohnungssuche helfen, sondern das Problem auch gemeinsam politisch angehen.

Haben Studierende ohne eigenes Einkommen überhaupt eine Möglichkeit, auf dem freien Wohnungsmarkt eine Wohnung zu finden? Oder haben nur noch Kinder wohlhabender Eltern eine Chance, weil sie ihre Eltern gegenüber dem Vermieter als Bürgen nennen können?
Das ist in der Tat ein Problem. Mein Eindruck aus der Lehre ist, dass viele Studierende noch bei den Eltern wohnen. Einige pendeln aus dem Umland. Eigentlich würden sie aber lieber auf eigenen Beinen stehen. Das ist nicht das Studentenleben, das man sich vorstellt.

Steuern wir auf Verhältnisse wie im 19. Jahrhundert zu? Damals mussten viele Menschen um Wohnraum betteln.
Da sind wir schon längst. Es gibt Bevölkerungsgruppen, die aus materiellen Gründen, aber auch aufgrund verschiedenster Diskriminierungen vom Wohnungsmarkt quasi komplett ausgeschlossen werden.

Welche?
Menschen mit Migrationshintergrund, Alleinerziehende, Arbeitslose, Menschen in Altersarmut und viele andere. Und immer mehr Menschen verarmen durch das Wohnen! Durch den Mietspiegel und vor allem nach Modernisierungen steigen die Preise schnell und extrem. Mietbelastungen von mehr als 30 Prozent des Netto-Haushaltseinkommens sind längst keine Seltenheit mehr. In München gibt die Hälfte der armen Haushalte mehr als die Hälfte ihres ohnehin geringen Einkommens für Wohnen aus. Auch ein Viertel der unteren Mittelschicht ist schon von Mietbelastungsquoten von über 40 Prozent betroffen. Das trifft natürlich auch viele Studenten. Und die Mietkosten treiben die Armutsgrenze in die Höhe – seit zwei Jahren gilt in dieser Stadt als armutsgefährdet, wer als Einpersonenhaushalt monatlich weniger als 1.350 Euro zur Verfügung hat.

Wie ergeht es Studierenden mit Migrationshintergrund? Die werden ja oft doppelt diskriminiert?
Das ist ein durch Studien erwiesener Faktor. Auch hier am Institut für Soziologie wurde dazu kürzlich eine Meta-Analyse gemacht. Wohnungsbewerber mit Namen, die als nicht-deutsch wahrgenommen werden, sind demzufolge signifikant benachteiligt. Ich kenne selbst einen südamerikanischen Gaststudenten, der trotz wochenlanger intensiver Suche nichts gefunden hat. Hier kann persönliche Vermittlung, zum Beispiel an ältere Menschen mit einem freien Zimmer, im Einzelfall ein Weg sein. Das strukturelle Problem wird damit nicht gelöst, es fehlt einfach an bezahlbarem Wohnraum.

Wie oft sind Studenten tatsächlich wohnungslos? Sie haben ja nicht einmal Anspruch auf Hartz IV.
Da ist schon die Definition ein Problem. Es gibt keine bundesweiten Wohnungslosenzahlen. Es gibt lediglich Schätzungen. Die Bundesregierung verweigert sich seit Jahren einer qualifizierten und flächendeckenden Statistik. Hinzu kommt eine verdeckte Grauzone der Wohnungsnot, die sich quantitativ kaum erforschen lässt.

Lange wurde EU-weit sogar die Krümmung von Gurken geregelt – doch es gibt nicht einmal eine bundesweite Statistik über die Zahl der Wohnungslosen?
Das ist ein Skandal. Da fehlt schlicht der politische Wille. Auf lokaler Ebene und in einzelnen Bundesländern gibt es durchaus belastbare Zahlen – aber Studierende sind dort nicht explizit erfasst. Die gehen ja in der Regel auch nicht zum Wohnungsamt.

Sind Sie bei Ihrer Forschung auf besonders schlimme Fälle gestoßen?
Ja, zwei der Befragten lebten zusammen auf gerade einmal 15 Quadratmetern. Es gibt Studierende, die leben zur Untermiete in Wohnungen, wo sie die Küche nicht mitbenutzen dürfen. Es gibt sogar welche, die temporär auf Baustellen wohnen. Das sind Verhältnisse, die wir aus dem 19. Jahrhundert kennen.

Haben Bund, Land und Stadt beim Bau bezahlbarer Wohnungen nicht genug getan?
Nein, sie haben versagt. Das sagen einige Verantwortliche mittlerweile auch selbst. Das ging los mit der Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit 1990. Kommunale Bestände oder Landeswohnungen wurden verkauft. Auch der Bund hat sich zurückgezogen. Städte wie Dresden haben sogar alle kommunalen Wohnungen verkauft und kaufen sie jetzt teuer zurück. Die Zahl der Sozialwohnungen nahm seit den 1990er-Jahren dramatisch ab. Zum Versagen der Politik kommen die Wohnungsspekulationen hinzu. Diese sind Folge der niedrigen Zinsen und der Finanzkrise von 2008.

In Berlin plant ein Volksbegehren die Kommunalisierung der Bestände großer Immobilienkonzerne. ein Modell für Bayern?
Das wäre ein mögliches Modell. Spannend, wie die Berliner da immer gleich auf den Beinen sind, wenn da was schiefläuft. Davon können sich Mieterbewegungen in anderen Städten eine Scheibe abschneiden. Enteignungen könnten mit Bezug auf die Grundgesetz-Artikel 14 und 15 auch hier veranlasst werden. Auch bei Leerständen sollte die Landeshauptstadt von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, um Spekulation zu unterbinden.
Interview: Tobias Lill

Saskia Gränitz arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der LMU. Die Soziologin beschäftigt sich in ihrer Forschung und Lehre mit urbanen Dynamiken der sozialen Frage. In ihrer Dissertation untersucht sie unter anderem empirisch den Zusammenhang von Wohnungslosigkeit und Wohnungskrise.

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