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Vom richtigen Leben nach dem falschen

04.06.2019

Der eine wechselt das politische Lager, der andere den Beruf. Der dritte bekennt sich zum Veganismus: Ob Sachbuchmarkt, YouTube oder Social-Media-Kanal – überall grassieren Geschichten der Umkehr. Der Soziologe Julian Müller un...

„Wie ich von links nach rechts gelangte“ – manche brauchen nur einen Zeitungsartikel, um sich zu ihrer neuen politischen Identität zu bekennen, andere machen es auf Buchlänge. Es ist fast schon eine Welle unter Journalisten und Publizisten, sie alle erzählen mal launig, mitunter larmoyant, warum sie von nun an Zeitgeist und „linke Meinungsmache“ hinter sich lassen. Was treibt sie an? Der Wille zur Beichte? Eine Art Coming Out? Müller: Sicher beides. Die Autoren verkaufen es als eine Art Selbstauskunft darüber, wo sie jetzt stehen, von welcher Position aus sie reden und schreiben. In den vergangenen zehn Jahren fanden sich in nahezu jedem großen Medium solche Konvertiten. Viele der Bücher richten sich an die eigene Zunft und sind entsprechend selbstreferentiell. In fast allen Fällen handelt es sich im Übrigen um einen Wandel von links nach rechts, das generiert noch immer am meisten Aufmerksamkeit. Und viele der Autoren spielen dabei mit dem, was gerade noch sagbar ist, als wollten sie demonstrieren, wie mutig sie sind.

Gibt es ein Muster für solche Erzählungen? Viele dieser Geschichten – ich nenne sie Konversionserzählungen – haben eine Form, wie man es aus dem konfessionellen Bereich kennt. Es gibt meist ein genau datierbares Ereignis, das zur Umkehr führt und das ein falsches Leben vor der Konversion von einem richtigen Leben nach der Konversion trennt. In manchen Zusammenhängen war es die „Flüchtlingskrise“, aber es kann auch ein anderes politisches oder persönliches Erlebnis sein. Mich interessiert daran nicht der Einzelfall, sondern eher die Tatsache, dass Geschichten nach diesem Muster in völlig unterschiedlichen Bereichen auftauchen. Es ist offenbar eine signifikante Form, wie das Leben heute erzählbar wird.

Wo überall tauchen solche Berichte auf? Nehmen Sie das Beispiel des Veganismus. Internetforen, Blogs, Podcasts – es gibt eine Reihe von Orten, an denen Leute ihn als das zentrale Merkmal des eigenen Lebens beschreiben. Oder ein anderes Beispiel, man kann derzeit etwa auf Instagram immer wieder auf Vorher-Nachher-Bilder stoßen. Bisher kannte man so etwas nur aus Illustrierten wie Bunte oder Gala, als Bildpaare von Prominenten, die die Frisur oder die Figur gewechselt haben.

„Abnehmen in vier Wochen“ Genau, in der Art. Jetzt aber kann jeder dieses Format nutzen, um zum Beispiel auszustellen, wie er seinen Körper transformiert, durch Diät etwa oder durch Muskeltraining: Das war ich 2017. Und das bin ich 2019. So definiere ich mich jetzt selbst, meine Identität. Und schließlich, das ist der dritte Block von Selbsterzählungen, die ich untersuche, geht es um den Bruch mit der beruflichen Biografie.

Also um den Unternehmensberater, der nach einem halben Jahr in der Burn-out-Klinik nun „Achtsamkeits“-Kurse gibt. Das wäre so ein Fall. Häufig kaprizieren sich die Konvertiten auf Berufszweige, die von ihrem alten Leben ganz weit entfernt sind. Und oft geht es um handwerkliche Dinge, um „basale“ Tätigkeiten. Ein wiederkehrendes Motiv in den Erzählungen ist, dass man erkannt hat, welche Dinge für einen grundlegend und erfüllend sind. In diesem Zusammenhang ist es interessant, wie Medien heute über Berufe berichten. Auf Netflix beispielsweise gibt es schon die x-te Staffel von Chef‘s Table – einem weltweit erfolgreichen Format, das den Beruf des Chefkochs inszeniert. Auch da stößt man häufig auf Konversionserzählungen: Sie machen eine Ausbildung, sind unzufrieden, erzählen die Köche da durch die Bank, schälen Zwiebeln, schneiden Karotten, häckseln Kräuter. Und machen vor allem eine Küche, die ihnen gar nicht zusagt. Sie entdecken, dass diese Form der Künstlichkeit und der aufmontierten Saucen für sie gar nichts ist, sondern dass sie viel grundlegender kochen möchten, mit frischen und regionalen Zutaten. Und immer gibt es ein Ereignis, das alle Gewissheiten, die sie aus der Lehre mitgenommen haben, ins Wanken bringt. Von da an beginnen sie sich auf das zu konzentrieren, was sie später geworden sind. Im Moment finde ich das Thema Ernährung besonders ergiebig.

Warum? Wir erleben insgesamt eine Aufwertung von Ernährung. Sie wird in hohem Maße ästhetisch, moralisch, politisch aufgeladen und ist sozusagen eine Form der existenziellen Erfüllung geworden. Wie man einkauft, wie man kocht, wie man zubereitet, welche Messer man dafür benutzt, all das ist längst zu einer Frage geworden, mit der man demonstriert, wo man steht, was andere von einem zu halten haben. Deswegen interessieren mich die Fälle, in denen Menschen aus ganz anderen Berufen auf einmal Biobauern, Schnapsbrenner werden, in Craft Beer machen oder als Quereinsteiger Köche werden. Scheinbar ist es so, dass Ernährung irgendetwas befriedigt, was uns sonst im Berufsleben fehlt, etwas ganz Basales und eine Form von Verbindlichkeit vielleicht.

Mit der Ernährung zu sich kommen: Vegetarier und Veganer propagieren den Verzicht oft als neue Freiheit. Genau, in der Selbstbeschränkung scheint offenbar ein großer Gewinn an Freiheit, Lust und Distinktion zu liegen. Es ist ein Verzicht, der gar nicht mehr als solcher wahrgenommen wird. Er ist ja auch zur zentralen Entscheidung im Leben aufgewertet, zum wichtigen Identitätsmarker. Ich habe Interviews geführt, in denen die Gesprächspartner Selbstbeschränkung als Gewinn feiern, also mit Teilen des Freundeskreises zu brechen, nicht mehr zu Grillfesten oder in den normalen Supermarkt zu gehen und sozusagen Ballast aus seinem eigenen Leben und dem näheren Umfeld abgeworfen zu haben.

Doch woher kommt der Bekenntnis-Boom? Man muss hier natürlich zunächst die Allgegenwart der sozialen Medien nennen. Sie machen Bekenntnisse nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich. Wenn jetzt Leute über ihr Essverhalten Auskunft geben, ist das durchaus auch ein funktionales Äquivalent für die klassische Beichte. Um eine Formulierung des Soziologen Alois Hahn abzuwandeln: Soziale Medien sind „Bekenntnisgeneratoren“. Nehmen Sie Twitter; da muss ich mich selbst permanent positionieren, damit sich meine Aussagen in 140 Zeichen überhaupt verstehen und einordnen lassen. Das ist eine notwendige Funktion dieser Art von Diskurs. Wenn man sich auf das Spiel der sozialen Medien einlässt, muss man – wie ironisch und distanziert auch immer – angeben, wer man ist, wer da spricht. In einem Interview hat mir der Kulturtheoretiker Diedrich Diedrichsen gesagt, es sei kein Zufall, dass man derzeit so oft und überall die Phrase „Ich bin ein Mensch, der…“ hören könne. Damit tut man ja so, als könne man sich von außen beobachten, und offenbar ist es vielen wahnsinnig wichtig, sich als irgendwie fixierbare Identität zu präsentieren.

Woran schließen sie damit an? Die klassischen Institutionen, die lange ein Leben geformt und reglementiert haben, haben dramatisch an Bedeutung eingebüßt. Und die Lebensläufe, die ja selbst hochgradig institutionalisiert waren, haben auch ihre klaren und festgefügten Chronologien verloren. Es sind eben nicht mehr Familie, Kirche, Gewerkschaft, Partei, Verein, Verband und Betrieb, die mitbestimmen, wer ich bin, und meinen Lebenslauf formen. Kirchen und Gewerkschaften ringen um Mitglieder, Volksparteien im eigentlichen Sinne gibt es nicht mehr. Diese Bedeutungsverluste werden sozusagen dadurch kompensiert, dass sich Menschen selbst reglementieren und dadurch auch selbst fundieren: Ich weiß nicht, in welcher Firma ich im kommenden Jahr arbeite, wo ich lebe, mit wem ich zusammen bin – aber Fleisch esse ich keins mehr. Ich habe unendlich viele Kontingenzen in meinem Leben, aber in einem Bereich habe ich Stabilität erzeugt. Darin scheint ein großer Reiz zu liegen. Und noch ein wichtiger Punkt: Welches Ich die Selbsterzählungen ausstellen, berührt die klassische Frage von Repräsentation. Ging es früher darum, ob es sich einer Gruppe zuordnen ließ, einer Partei zum Beispiel, ist heute eher die Frage, ob das Ich sozusagen anschlussfähig ist. Lässt sich das neue Selbst in den sozialen Medien auffinden? Das ist eine Bedeutungsverschiebung: von der Frage der Kollektivität zu einer der Konnektivität. (Interview: Martin Thurau)

Dr. Julian Müller ist Akademischer Rat auf Zeit am Institut für Soziologie und bis vor Kurzem war er Junior Researcher in Residence am Center for Advanced Studies der LMU.

Das Interview ist der kommenden Ausgabe von Einsichten. Das Forschungsmagazin entnommen. Das Heft erscheint Ende Juni mit dem Schwerpunkt "Smarte Wesen": Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen gehen Fragen zu Intelligenz und künstlicher Intelligenz nach.

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