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Zeugen der Vergangenheit

24.10.2019

In Bernstein eingeschlossene Mücken- und Fliegenlarven sind viel häufiger als bisher gedacht, wie LMU-Zoologen berichten. Die fossilen Larven ermöglichen neue Einblicke in die Evolutionsdynamik und die Ökologie des eozänen Bernsteinwalds.

Im Eozän – vor rund 56 bis 33,9 Millionen Jahren – bedeckte ein riesiger Urwald große Flächen im nördlichen heutigen Europa – der sogenannte Bernsteinwald. Er bestand vor allem aus Kiefern und Eichen, aber auch aus zahlreichen Arten. Das Harz dieser Bäume ist die Quelle aller Bernsteinvorkommen in Europa, auch des Bernsteins, in dem die LMU-Zoologen Viktor Baranov, Mario Schädel und Joachim T. Haug zahlreiche Mücken- und Fliegenlarven gefunden haben. Dies berichten die Wissenschaftler im Fachjournal PeerJ und widerlegen damit die weit verbreitete Überzeugung, dass es keine solchen Larven in Bernstein gibt. Zudem erlauben die Funde Rückschlüsse auf die ökologischen Bedingungen im Bernsteinwald und unterstützen eine neue Interpretation des Bernsteinwalds als ein warm temperiertes, saisonales Waldökosystem.Fliegen und Mücken (Diptera) gehören zu den artenreichsten Insektengruppen in Deutschland. Ihre Larven sind ein wichtiger Bestandteil vieler Ökosysteme und spielen unter anderem bei der Zersetzung organischer Stoffe eine zentrale Rolle. Trotzdem sind fossile Dipterenlarven bisher nur wenig untersucht, dies gilt insbesondere für terrestrische Arten. Die LMU-Zoologen identifizierten nun in Ostsee- und Bitterfelder Bernstein aus Sammlungen im Hamburger Raum mehr als 100 Larven. Die meisten gehören zu den sogenannten Bibionomorpha, einer großen Gruppe mit einer Evolutionsgeschichte von mehr als 200 Millionen Jahren.Mit insgesamt 35 Exemplaren am häufigsten vertreten waren dabei Larven der zu den Fenstermücken (Anisopodidae) gehörenden Mycetobia. Dank dieser hohen Zahl konnten die Wissenschaftler anhand der Kopfkapsellängen (-und breite) die relative Wachstumsrate der Larven rekonstruieren und nachweisen, dass die Mücken wie ihre rezenten Verwandten vier Larvenstadien durchlebten. Zudem weisen sie auch dieselbe Morphologie wie heutige Fenstermücken auf. „Da auch die meisten anderen fossilen Bibionomorpha-Larven stark an ihre rezenten Verwandten erinnern, können wir davon ausgehen, dass sie auch ähnliche Lebensräume besiedelten“, sagt Baranov, der Erstautor der Studie.Demnach deuten die zahlreichen Mycetobia-Larven darauf hin, dass im Bernsteinwald ein feuchtes Klima herrschte und große Mengen organischer Substanz dort verrotteten. Zudem fanden die Wissenschaftler erstmals eine fossile Larve der Pachyneura (Diptera, Pachyneuridae). Rezente Pachyneuridae sind mit Totholz in unberührten Wäldern assoziiert. „In der wissenschaftlichen Gemeinschaft entsteht derzeit eine neue Interpretation des europäischen Bernsteinwalds als warm temperiertes, saisonales Ökosystem, die auf paläobotanischen Studien und Isotopenmessungen beruht. Unsere Funde unterstützen dies“, sagt Baranov. Es ist nach Ansicht der Wissenschaftler durchaus vorstellbar, dass ein subtropischer, saisonaler Wald im Eozän Europas viel verrottende organische Substanz in Form von Blattstreu, toten Pflanzen oder Tieren, bakteriellen Biofilmen und Pilzen hervorbringt. Die Dipterenlarven stellen eine neue, unabhängige Informationsquelle dar, die für die Rekonstruktion dieses Paläohabitats genutzt werden kann.„Sehr spannend ist für uns auch eine Larve, die wir als Vertreter einer bisher unbekannten Gruppe innerhalb der Bibionidae identifiziert haben“, sagt Baranov. „Diese Larve gehört zwar zu den Märzfliegen (Diptera, Bibionidae), sie weist aber eine ganz ungewöhnliche Merkmalskombination auf, die für heutige Märzfliegen unmöglich wäre.“ Nach Baranovs Ansicht könnte dies auf eine experimentelle Phase der Evolution hinweisen, in der manche Morphologien in verschiedenen Linien unabhängig voneinander „erfunden“ wurden.PeerJ 2019

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