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Archäogenetik: Fünf globale Prinzipien

20.10.2021

Sechzig Forscherinnen und Forscher aus der ganzen Welt veröffentlichen Leitlinien des Umgangs mit menschlichen Überresten – federführend dabei ist LMU-Archäologe Philipp Stockhammer

Die Analyse alter menschlicher Genome hat sich als nützlicher Ansatz erwiesen, um Beziehungen zwischen Menschen, die in der Vergangenheit gelebt haben, und heute lebenden Bevölkerungsgruppen zu untersuchen. Allein in den vergangenen gut zehn Jahren sind 6.000 Individuen auf diese Weise untersucht worden. Im Interview spricht LMU-Archäologe Philipp Stockhammer über die Notwendigkeit, sich hier auf globaler Ebene Regeln im Umgang mit menschlichen Überresten zu geben.

Vorbereitung einer Knochenprobe

© Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology (MPI EVAN)

Im Fachmagazin Nature ist ein ungewöhnlicher Artikel erschienen. 60 Forscherinnen und Forscher aus Archäologie, Anthropologie und Genetik sowie Museumskuratorinnen und -kuratoren aus über 30 Ländern veröffentlichten fünf globale ethische Prinzipien des Umgangs mit menschlichen Überresten. Wie kam es zu dieser Initiative?
Stockhammer:
Die Initiative war letztlich längst überfällig und geht darauf zurück, dass die Archäogenetik in den letzten Jahren nicht nur unglaublich faszinierende Einblicke in die Vergangenheit geliefert, sondern auch zunehmend ethische Fragen aufgeworfen hat. Und auch eben die Frage, wie wir mit altem Skelettmaterial umgehen sollen.

Alte DNA, also das Erbgut von Toten, ist zu einem wichtigen Material für Wissenschaftler geworden.
Stockhammer: Ja, und wir haben es dabei mit einer endlichen Ressource zu tun. In manchen Ländern gibt es davon nur sehr wenig. Die Frage ist aber auch in bestimmten politischen und sozialen Kontexten angesiedelt. In den letzten Jahren haben solche Erbgut-Untersuchungen sehr viel Widerstand gerade in den USA von Seiten indigener Gemeinschaften geweckt, die eben gesagt haben: „Ihr geht da mit Material um, das von unseren Vorfahren stammt. Ihr als Genetiker vereinnahmt quasi dieses Material.“ Diese Gruppe war politisch sehr aktiv, was dazu führte, dass in den USA Regeln generiert wurden, wie man mit diesem Material umgehen sollte. Von US-amerikanischer Seite hieß es dann, diese Regeln sollten jetzt global gelten. Dabei wurde übersehen, dass es spezifische nordamerikanische Regeln sind, die so global nicht gültig sein können, weil sie der Vielfalt dieser Welt nicht gerecht werden.

Darauf mussten Sie nun reagieren?
Stockhammer: Wir kamen auch angesichts einer Zeit, in der wir alle nicht reisen können, auf die Idee, dieses Thema in einem weltweiten Workshop per Videokonferenz zu diskutieren, gleichberechtigt, ebenbürtig. Viele Teilnehmer kamen aus dem globalen Süden, sie haben normalerweise keine Möglichkeit, in den globalen Norden zu reisen. Wir hatten quasi alle Zeitzonen dieser Welt bei diesem Workshop vertreten. Letztlich war die Pandemie der Wegbereiter dieses Papers.

Das darf man sich so vorstellen, dass Sie tagelang per Videokonferenz diskutiert haben?
Stockhammer:
Sozusagen. Mehr als 60 Autorinnen und Autoren aus allen Kontinenten haben im vergangenen November zwei Tage lang jeweils acht Stunden per Videokonferenz diskutiert. Für die einen war es tief in der Nacht und für andere begann der Workshop morgens um drei Uhr, aber letztlich haben alle mitgemacht, welche Zeitzone es auch immer war, zwischen Vanuatu in Ozeanien und Harvard. Und im Anschluss an diesen Workshop waren wir uns einig, dass wir jetzt neue Wege beschreiten wollen, dass wir Regeln einer globalen Gemeinschaft formulieren wollen. Regeln, die nicht von einem Land für den Rest der Welt entschieden werden, sondern die von der Gemeinschaft der betroffenen Forscherinnen und Forscher weltweit gemeinsam beschlossen werden. Am Ende haben wir trotz der Vielfalt an Regionen und Menschen fünf globale Prinzipien abgeleitet. Das sind sozusagen unsere Botschaften.

Aufbereitung alter DNA im Reinraum

© MPI EVAN

Kommen wir zum Inhalt. Wo liegen die größten Herausforderungen beim Umgang mit alter DNA?
Der Hauptdiskussionspunkt war die Haltung der amerikanischen indigenen Gemeinschaften. Sie haben vor Jahren proklamiert, dass kein Genetiker, keine Genetikerin mit den menschlichen Überresten lange verstorbener Menschen in Nordamerika Untersuchungen machen darf, ohne diese Communities vorher gefragt zu haben. Es seien ihre Vorfahren.

Ist die Haltung nicht verständlich?
Im Prinzip schon. Aber den Communities reicht auch quasi eine gefühlte Verwandtschaft mit der Vergangenheit aus. Zudem gab es die Forderung, Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeiten nicht zu publizieren, wenn sie deren Gefühl hinsichtlich des erwarteten Ergebnisses widersprechen. Das entspricht aber nicht wissenschaftlichem Denken. Natürlich müssen Forscher Gespräche mit den lokalen Gemeinschaften führen, aber es kann nicht sein, dass man immer dann, wenn unerwartete Ergebnisse etwa zur Abstammung herauskommen, diese nicht mehr publizieren darf. Wir können nicht nur Ergebnisse veröffentlichen, die individuellen Vorstellungen der Vergangenheit beteiligter Communities entsprechen.

Sie betonen, dass die Situation in den USA eine besondere ist. Inwiefern?
Insbesondere die europäische Community, meine eingeschlossen, schreit bei diesem „Ich fühle, dass das meine Vorfahren aus der tiefen Vergangenheit sind“ innerlich auf. Würde man die aktuelle amerikanische Regelung auf Deutschland übertragen, könnte hier quasi jeder sagen: Ich fühle mich als Ur-Germane oder Ur-Kelte, und ohne meine Zustimmung kann kein Paper zu prähistorischem Skelettmaterial aus Deutschland veröffentlicht werden. Die amerikanischen Regeln können keinen globalen Rahmen bieten.

Klingt nach einer schwierigen Diskussion.
Ja, wir haben sehr intensiv debattiert: Darf man DNA-Daten veröffentlichen, die im Ergebnis nicht dem entsprechen, was eine indigene Gruppe glaubt, was es sein sollte? Und selbst wenn eine Gruppe vorab zustimmt: Kann man Ergebnisse auch dann veröffentlichen, wenn ein erheblicher kultureller Schaden für eine Gruppe entstehen würde. Wir wollten für all diese Fragen einen globalen Rahmen geben.

Wenn man sich die fünf formulierten Regeln anschaut, geht es darum, dass lokale Gesetze eingehalten werden, dass es vorab einen detaillierten Forschungsplan gibt, dass Schäden auf ein Minimum reduziert bleiben, dass die erhobenen Daten frei verfügbar sind und dass man mit den lokalen Interessensgruppen zusammenarbeiten sollte. Das klingt jetzt nun auf den ersten Blick nicht so wahnsinnig spektakulär. Ist es nicht selbstverständlich, dass sich Forscherinnen und Forscher an solche Regeln halten?
Ja, würde man denken. Aber tatsächlich ist es eben nicht der Fall gewesen in den letzten Jahren. Tatsächlich haben wir erlebt, dass europäische und amerikanische Forscher gerade in den Ländern Afrikas aber auch in anderen Regionen mit einer „Nimm die Probe und renn weg“-Mentalität aufgetreten sind. Es gibt Leute, die brechen einfach ein Stück Knochen aus einem Schädel und bieten es Forschern an. Johannes Krause vom Max-Planck-Institut in Leipzig oder ich, wir bekommen regelmäßig Anfragen von dubiosen Personen, die Proben gegen Bezahlung oder Co-Autorschaft auf Veröffentlichungen anbieten. Das passiert aber auch anderen Genetikern, und es gab Gruppen, die solche Proben tatsächlich angenommen haben. Das würden wir bei uns im Institut niemals tun. Aber es gibt auch Forscher, die einfach mal Proben nehmen, ohne vorab die notwendigen Genehmigungen eingeholt zu haben. Daher braucht es diese ethischen Regeln, auf die sich alle verpflichten.

Die Archäogenetik ist inzwischen eines der wichtigsten Felder in der Archäologie, der Boom wird sicher weitergehen. Was erhoffen Sie sich von den ethischen Richtlinien?
Zunächst war es einfach Zeit, sich auch öffentlich zu diesen globalen Regeln zu bekennen, auch wenn viele Forscher diese Standards längst einhalten. Wir hoffen nun, Diskussionen anzustoßen und weitere Labors dazu bewegen zu können, sich den von uns vorgeschlagenen Standards anzuschließen.

DNA-Analysen im Labor

© MPI EVAN

Wie aber wollen Sie die Richtlinien durchsetzen?
Wir können uns zwei Sachen vorstellen. Das eine ist tatsächlich, dass in Zukunft Journale wie Nature sagen, dass sie ganz bewusst nur dann Veröffentlichungen annehmen, wenn sie diesen Richtlinien entsprechen. Ein Committment von Nature gibt es noch nicht. Darüber hinaus soll unser Paper einen globalen Diskurs anstoßen. Es geht mir nicht um die Entwertung bestimmter Perspektiven, sondern wir wollen zeigen, dass die Welt vielfältig ist und sich eine vielfältige Gruppe aber dennoch auf globale Regeln einigen kann.

Sie haben ja das Thema schon indirekt angesprochen: Die Initiatoren, Sie eingeschlossen, stammen ja mehrheitlich aus westlichen Ländern. Könnte man so ein Paper nicht auch als kulturelle Aneignung begreifen, in dem Sinne, dass sich Forscher aus dem Westen zu Interessenvertretern indigener Völker aufschwingen?
So würde ich das nicht sehen. Wir hatten eben das entsprechende Netzwerk, um die Leute weltweit einzuladen, haben dann das Meeting moderiert, einen Großteil der Redaktionsarbeiten übernommen und schließlich den Text bei Nature eingereicht, aber gerade das Schreiben war ein sehr globaler demokratischer Akt. Alle Autorinnen und Autoren haben aktiv am Text mitgeschrieben.

Philipp Stockhammer | © LMU

Die offiziellen Presseeinladungen verschicken ausschließlich beteiligte Forschende aus den Ländern des globalen Südens. Warum?
Wir haben uns gegen eine Harvard- oder Max-Planck- oder LMU-Pressemitteilung entschieden, sondern gesagt, jedes Land, jeder Kurator soll eben seine eigene Community darüber speziell informieren. Und damit diese Community das auch versteht, haben wir den Text in all diese verschiedenen Sprachen übersetzt. Er erscheint zeitgleich in 20 Sprachen, denn nicht jeder kann Englisch lesen. Auch Nature hat sich entschieden, diesen Artikel im Moment der Veröffentlichung unbegrenzt open access zu schalten. Und das ist jenseits der normalen Politik von Nature.

Zum Abschluss noch eine persönliche Frage. Was ist denn aus Ihrer Sicht die Verantwortung eines Forschers, der mit Material, mit Knochen, mit Zähnen von Toten zu tun hat, die er ja nie getroffen hat?
Ich denke, es ist diese Fähigkeit, beides zu sehen, nämlich, dass es einerseits ein Mensch ist und letztlich dadurch immer etwas Besonderes, also nicht nur ein Objekt. Gleichzeitig aber auch, dass das nicht bedeutet, dass man sich nicht auch mit Menschen der Vergangenheit wissenschaftlich auseinandersetzen kann. Dass wir, ebenso wie wir heutzutage Gewebeproben nehmen und in der Medizin am und mit dem Menschen arbeiten, auch an und mit Menschen aus der Vergangenheit arbeiten können. Wir müssen dabei in unserer Sprache und im Umgang mit diesen Funden auch eine hohe Sensibilität haben. Menschen aus der Gegenwart können sagen, was ihnen nicht passt, die Menschen aus der Vergangenheit nicht. Es ist wichtig zu schauen, wer ihre Belange heute vertritt, und diese Menschen so einzubinden, dass sie sich beteiligt fühlen. Dafür steht eben auch dieser Artikel.

Interview: Hubert Filser

Philipp Stockhammer ist Professor für Prähistorische Archäologie mit Schwerpunkt Ostmittelmeerraum an der LMU, außerdem seit Dezember 2016 Co-Direktor des Max-Planck-Harvard Research Center for the Archaeoscience of the Ancient Mediterranean am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.

Ethics of DNA Research on Human Remains: Five Globally Applicable Guidelines. Philipp Stockhammer et al. Nature 2021.
Das Paper ist parallel zur englischen Originalversion frei zugänglich auch in 20 Übersetzungen erschienen - darunter findet sich auch die deutsche Version.
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