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Ausflug in die Armut

10.02.2017

Vom Elendsviertel zur Attraktion: Ein Interview mit Eveline Dürr über das Phänomen des Slumtourismus.

Ein Slum als Reiseziel – wer sucht sich das aus und warum?Eveline Dürr: Das zieht nicht nur Backpacker an, sondern auch Touristen der Premiumklasse. Armut ist eine Lebenswelt, die zu erkunden einen gewissen Reiz ausmacht. Sie ist der Kontrapunkt zu den Hochglanzbroschüren und Hotels, die im internationalen Kontext alle gleich aussehen. Durch eine entsprechende Inszenierung kann Armut auch eine gewisse Ästhetik haben. Wenn Sie an die Favelas denken, haben Sie eine bunte Gruppe von Häusern vor Augen – diese farbenfrohe, freundlich anmutende Fassade wird auch in den Filmen und Souvenirs immer dargestellt. Das ist eine Ästhetisierung eines eigentlich stigmatisierten Viertels, das sozusagen zum Konsumprodukt wird. Wobei natürlich alle wissen, dass sich dahinter soziale Ungleichheit und Armut verbergen. Aber die wenigsten Touristen verbringen ihren gesamten Urlaub in Armutsvierteln. Das hat Ausflugscharakter. Die Touristen gehen danach wieder zurück in ihre klimatisierten Hotels.

Wird also ein Viertel in dem Moment, in dem die Armut verschwindet, für Touristen unattraktiv? Dürr: Genau so ist es. In Rio zum Beispiel, wo dieser Tourismus so sehr im Aufschwung ist und die Touristen zunächst denken, die Favelas seien alle gleich, müssen sich diese Orte als besonders „branden“. Zum Beispiel wird dann behauptet: Unsere Favela ist die älteste oder unsere Favela ist jene, in der die Gewalt bereits am stärksten eingedämmt ist. Beim Thema Pazifizierung fängt es jedoch an zu kippen: Die Favela Santa Marta in Rio wirbt damit, die Vorzeigefavela zu sein, Gewalt und Einfluss der Drogenbosse einzudämmen. Vonseiten der Touristen heißt es dann: „Aber ich will doch mal einen richtigen Drogenboss sehen.“ Die gentrifizierten Slums, in denen die Armut nachlässt, werden touristisch uninteressant. In mehreren Favelas wird die Gewalt daher präsent gemacht. Die Guides weisen explizit daraufhin: „Gucken Sie mal hier: die Einschusslöcher.“

Karl Lagerfeld hat vor einigen Wochen seine Mode auf Kuba inszeniert. Was macht diesen Ort interessant?Dürr: Auch bei Kuba gibt es dieses Spannungsverhältnis, dass wir den Ort einerseits kennen aus Filmen und der politischen Diskussion, aber andererseits auch nicht, weil es uns lange verschlossen war. Bei Kuba geht es nicht nur um Armut, sondern auch um Exotik und Erotik. Zudem wird zum Beispiel in Musikvideos eine Einstellung zum Leben vermittelt, die den westlichen Idealen der Leistungsgesellschaft entgegensteht. Bei Kuba kommt auch etwas Nostalgisches hinzu. Man scheint dort eine Zeit erleben zu können, die eigentlich schon vorbei ist. Man meint jetzt noch schnell hin zu müssen, bevor es zu spät ist. Wo kann man in unserer schnelllebigen, durch Transformation und Dynamik gekennzeichneten Welt schon hinfahren, um solche Lebenswelten, die sich erhalten haben, zu besichtigen? Dieses Fünf-vor-Zwölf-Gefühl macht einen besonderen Reiz aus. Lagerfeld hat diesen Mythos mit Luxus und Starkult zusammengebracht. Das trägt dazu bei, dass dieser Ort von Touristen noch mehr wertgeschätzt wird.

Von Lagerfelds Modenschau waren die Kubaner ausgeschlossen. Was hat die lokale Bevölkerung davon, wenn ihr armes Zuhause auf einmal Ziel von Touristen wird? Dürr: Ob das gut oder schlecht ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Wenn man fragt, wer an diesen Inszenierungen überhaupt partizipiert und wer schlussendlich den Nutzen davon hat, kommt man auf eine besondere Figur: die des Brokers, der als Verbindungsperson auftritt und in unterschiedlichen Lebenswelten kompetent ist. Dafür braucht es bestimmte Fähigkeiten. Das fängt schon mit der Sprache an. Nicht jeder kann sich in Englisch so artikulieren, wie es für das touristische Geschäft nötig ist. Ein Teil der Bevölkerung kann durch die Stimulierung der lokalen Ökonomie partizipieren, wie es derzeit bei den Bed&Breakfasts der Fall ist, die sich in jüngster Zeit in den Favelas in Rio etablieren. Aber es kommen auch Leute von außen, die versuchen, sich in den Markt zu drängen. Durch diese Ökonomisierung entsteht also auch neues Konfliktpotenzial.

Das ist also kein Weg aus der Armut? Dürr: Die Ungleichheitsstrukturen, die in einer bestimmten Stadt vorherrschen, werden durch diese Entwicklung nicht wirklich adressiert. Natürlich werden dadurch Stadtviertel sichtbar, die man früher versucht hat, zu verstecken, aber das heißt nicht, dass es weniger soziale Ungleichheit gäbe. Im Gegenteil: Sie kann sich dadurch sogar noch vergrößern, wenn nur wenige daran partizipieren und gewinnen, die Mehrheit sich aber weiterhin marginalisiert fühlt.

Wie exotisch muss ein armes Viertel sein, um Touristen anzuziehen? Dürr: Die Stadtviertel, die wir für unser Forschungsprojekt ausgewählt haben, haben alle eine gewisse Berühmtheit. In Rio hatte Michael Jackson in Santa Marta das Musikvideo zu „They don’t care about us“ gedreht und die Favela damit weltberühmt gemacht. Trench Town in Kingston ist durch die Lieder von Bob Marley fast Teil der Allgemeinbildung. Der Unterschied zum armen Viertel in der eigenen Stadt ist immer, dass wir diese Orte einerseits kennen – wir haben alle schon davon gehört –, anderseits aber auch nicht. Stigma und Brand müssen zusammenkommen, damit diese Inszenierung funktioniert und die Orte für den Tourismus interessant werden. Aber es wäre falsch anzunehmen, dass es dieses Produkt „Slum“ nur im globalen Süden gäbe. Es gibt auch in den reichen Städten des Nordens, genügend Orte in denen ähnliche Motive zum Tragen kommen: zum Beispiel die Reeperbahn in Hamburg oder bestimmte Viertel in Berlin, wo Obdachlose oder ehemals Drogenabhängige Führungen machen.

Und ist das eine wünschenswerte Entwicklung, für Touristen an diesen Orten Angebote zu machen? Dürr: Ich fände es wünschenswert, die Strukturen deutlich zu machen, die diese Ungleichheit produzieren. Und da geht es um die Gesellschaft und nicht um ein einzelnes Stadtviertel, das arm ist.

Eveline Dürr ist Professorin am Institut für Ethnologie der LMU. Im Rahmen des DFG-Projekts „Slum-Tourism in the Americas“ hat sie die Entwicklung von Elendsvierteln in mehreren „Slums“ in Mexiko-Stadt, Kingston, Rio de Janeiro sowie News Orleans untersucht.

Tagung Vom 16. bis 18. Februar 2017 findet am Institut für Ethnologie der LMU die Tagung: „From Stigma to Brand: Commodifying and Aestheticizing Urban Poverty and Violence“ statt.

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