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„Care-Arbeit ist überlebensnotwendig“

18.06.2025

Ein Interview mit LMU-Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky über Fürsorge in Familien und darüber, warum sie noch immer so ungleich verteilt ist

Prof. Paula-Irene Villa Braslavsky

Paula-Irene Villa Braslavsky ist Professorin für Soziologie und Gender Studies an der LMU. | © Joseph Heicks

Mit der Diversity-Initiative FamilyCare@LMU rückt die LMU im Sommersemester 2025 Familien in den Fokus. Professorin Paula-Irene Villa Braslavsky ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie und Gender Studies und Co-Sprecherin des Bayerischen Forschungsverbunds ForFamily, im Rahmen dessen sie verschiedene Familienmodelle untersucht.

Wir wollen hier von Familie reden.
Was ist Familie eigentlich?

Paula-Irene Villa Braslavsky: Das ist deutlich weniger eindeutig, als viele denken. Familie wandelt sich im Laufe der Geschichte, hängt stark von der Kultur ab, und auch in der Gegenwart gibt es viele unterschiedliche Formen. Klassisch galt in der Forschung lange das Modell: Mutter, Vater, leibliche Kinder, ein Haushalt. Doch das greift heute zu kurz.

Inzwischen sprechen wir vom Konzept des „Doing Family“: Familie ist, wo Familie gemacht wird. Wo sich also mehrere Generationen langfristig in verantwortungsvoller Weise verbindlich umeinander kümmern – dort ist Familie.

Veranstaltung zur gleichberechtigten Übernahme von Care-Arbeit in Familien

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Sie erforschen unter anderem die Veränderung familiären Zusammenlebens in Bayern.
Ist die klassische Familie auf dem Rückzug?

Es gibt zahlenmäßig sehr viel weniger Wandel, als viele glauben, hoffen oder fürchten. Statistisch gesehen leben noch immer 70 Prozent der Kinder unter 18 Jahren in Haushalten mit Mutter, Vater und leiblichen Kindern. Die anderen 30 Prozent sind Kinder von geschiedenen Paaren und Alleinerziehenden oder leben in Patchwork-Familien.

Hinzu kommen gleichgeschlechtliche Paare und Regenbogenfamilien, die einen sehr kleinen Anteil ausmachen. Noch seltener sind Familienkonstellationen wie das Co-Parenting – also erwachsene Menschen, die sich für die Gründung einer Familie zusammentun, ohne romantisch miteinander verbunden zu sein.

Worin besteht dann der Wandel?

Was sich ändert, ist die Art und Weise, wie wir die Vielfalt dessen, was Familie sein kann, wahrnehmen und werten. Auf der rhetorischen, kulturellen, medialen und zum Teil auch auf der politischen und juristischen Ebene gibt es einen Wandel beziehungsweise eine Vervielfältigung von Familie. In Serien, Filmen, Zeitschriften und Talkshows begegnet uns eine bunte Vielfalt, die zu mehr Sichtbarkeit und Akzeptanz der zahlenmäßig selteneren Familienformen führt.

Regenbogenfamilie: Zwei Mütter, die ihr Baby im Arm halten.

Mama, Mama, Kind

„Das, was wir heute queere Familien oder Regenbogenfamilien nennen, gibt es schon sehr viel länger, als viele denken“, so Villa Braslavsky. | © IMAGO / Mint Images

Dabei gibt es das, was wir heute queere Familien oder Regenbogenfamilien nennen, schon sehr viel länger, als viele denken. Sie waren bislang nur viel stärker von Diskriminierung und Stigma betroffen, sie mussten verschleiert werden und waren mit hohen Risiken verbunden. Da gibt es heute deutlich mehr Akzeptanz, Sichtbarkeit und auch zunehmende, wenn auch noch immer sehr mangelhafte rechtliche Gleichstellung.

Familie war und ist also divers. Sie ist aber auch anstrengend und mit viel Arbeit verbunden. Stichwort Care-Arbeit. Was versteht man darunter?

Alles, was mit Sorgen, Kümmern und Pflegen zu tun hat. In der Regel denken wir dabei vor allem an die Zuwendung zu unseren Mitmenschen. Care kann aber auch die Sorge für Haustiere, Gärten oder die Umwelt sein. Ganz allgemein gesprochen ist sie die zugewandte Reaktion auf die Bedürfnisse von Lebewesen, auch uns selbst – Stichwort ‚Self Care‘. Care findet in vielen, also überaus diversen Formen statt: beruflich, wie bei der Pflegekraft oder dem Erzieher, privat in Familien oder partnerschaftlichen Beziehungen, oder ehrenamtlich.

Care-Arbeit kann spontan und flüchtig sein – wenn wir etwa einer unbekannten Person, die auf der Straße stürzt, helfen. Sie kann aber auch viele Jahre oder sogar das ganze Leben lang andauern – wie es in Familien der Fall ist. Was alle Formen von Care eint: Sie haben immer mit Beziehungen zu tun. Das umfasst durchaus auch Gewalt, weil solche Care-Beziehungen oft asymmetrisch und von Abhängigkeit geprägt sind.

Wie ist diese Arbeit innerhalb der Familien aufgeteilt?

In Deutschland ist Care-Arbeit strukturell sehr ungleich verteilt. Frauen, insbesondere Mütter, übernehmen deutlich mehr Care-Arbeit – sowohl unbezahlt im Alltag als auch in Berufen mit Sorgebezug. Der sogenannte Gender-Care-Gap ist nach wie vor riesig. Das wirkt sich stark auf Einkommen, Rentenansprüche, Karriereverläufe und gesellschaftliche Teilhabe von Frauen aus. Denn wir leben in einem politischen System, das Inklusion und Ressourcen fast ausschließlich über die eigene Erwerbsarbeit verteilt, nicht etwa über Care.

Eine Berliner Familie im Jahr 1912

Familie in Berlin, 1912

Mit dem Aufkommen der Industriegesellschaft entstand das Idealbild der bürgerlichen Kleinfamilie. Vor allem proletarische Familien konnten diesem Ideal oft nicht gerecht werden. | © picture alliance | Fotoarchiv für Zeitgeschichte

Mütter haben häufiger unterbrochene Erwerbsbiografien, arbeiten öfter in Teilzeit oder in schlechter bezahlten Berufen. Bei Eltern von unter dreijährigen Kindern arbeiten 73 Prozent der Mütter in Teilzeit, aber nur neun Prozent der Väter. Viele Mütter bleiben für die nicht bezahlte Care-Arbeit ganz zuhause, ohne eigenes Einkommen. Wer nicht erwerbstätig ist, fällt gesellschaftlich fast durch alle Raster oder ist extrem abhängig von der Erwerbsarbeit anderer. Altersarmut ist deshalb in Deutschland wesentlich weiblich.

Woher kommt die Idee des erwerbstätigen Vaters, der das Geld verdient, während die Frau sich zu Hause um die Kinder kümmert?

Dieses Modell ist historisch relativ jung. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts gilt Sorgearbeit als „Frauensache“, als natürlicher Teil von Mutterschaft und Weiblichkeit. Männer hingegen sind diesem Narrativ zufolge von Natur aus ungeeignet für diese Tätigkeiten. Diese historisch gewachsene Zuschreibung wirkt bis heute und prägt die Realität in Familien massiv.

Sie entstand mit dem Aufkommen der Industriegesellschaft als bürgerliches Ideal – ein Elitenmodell, das sich viele gar nicht leisten konnten. Vor allem in proletarischen Familien mussten auch die Mütter erwerbsarbeiten, auch wenn das gesellschaftlich verpönt war und diese Frauen moralisch und ökonomisch genau deshalb systematisch ausgebeutet wurden.

Auch in der DDR war es selbstverständlich, dass Mütter genauso berufstätig waren wie Väter – ganz anders als im westdeutschen Nachkriegsmodell. Bis heute ist in Ostdeutschland die Erwerbsquote von Müttern, insbesondere in Vollzeit, deutlich höher. Allerdings war auch in der DDR ‚Care‘ Frauen- und Müttersache.

Warum ändert sich da nichts?

Die Idee, dass Frauen „von Natur aus“ besser für Care-Arbeit geeignet sind, fließt auch ein in die Steuer- und Sozialpolitik. Es gibt strukturelle Rahmenbedingungen wie das Ehegattensplitting, die stark vergeschlechtlicht sind. Das gilt auch für die Studien- und Berufswahl: Frauen wählen häufiger Berufe, die sich gut mit Familie vereinbaren lassen, während junge Männer über diesen Aspekt meist überhaupt nicht nachdenken. Und dann erscheint es bei der Gründung einer Familie später logisch, wenn die Mutter in Sachen Beruf oder Karriere zurücksteckt und einen größeren Teil der Fürsorgearbeit leistet.

Die Männer machen es sich hier oft zu leicht. Sie schieben die äußeren Umstände vor, argumentieren mit finanzieller Sicherheit oder der Chefetage, die angeblich kein Verständnis dafür hat, wenn sie als Mann sich mal länger Elternzeit nehmen wollen. Soziologisch würde man es so ausdrücken: Bei den Vätern und Männern herrscht rhetorische Modernisierung bei gleichzeitiger Verhaltensstarre. Dass sich daran so wenig ändert, liegt auch am sozial konstruierten Geschlechterbild, laut dem Care-Arbeit weiblich und damit unmännlich ist.

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2:24 | 16.06.2025

Eine Frau kümmert sich um einen älteren Herrn

Alle brauchen Care

Wir alle sind im Laufe unseres Lebens auf Care-Arbeit angewiesen. | © IMAGO / Westend61

Was bedeutet das für die Gesellschaft?

Es ist ein Riesengewinn, dass heute viel mehr Mütter und Frauen erwerbstätig sind als in den 1960er-, 70er- und 80er-Jahren. Denn Nicht-Erwerbstätigkeit ist ein enormes Risiko in jeglicher Hinsicht: rechtlich, ökonomisch, kulturell.

Aber es gibt ein Problem: Gerade fordern viele Politikerinnen und Politiker, die Menschen müssten mehr arbeiten – und meinen damit nicht Fürsorge in der Familie, denn die wird ja meist nicht vergütet. Was dabei unter den Tisch fällt: Unsere Gesellschaft basiert auf einer ganzen Care-Infrastruktur, die uns unsere Erwerbstätigkeit überhaupt erst ermöglicht. Care-Arbeit ist überlebensnotwendig. Wenn wir uns nicht kümmern – um unsere Kinder, unsere Alten und Kranken, geflüchtete Menschen, Tiere, Pflanzen, die Umwelt –, sterben wir alle. Wortwörtlich. Ohne Care überlebt niemand. Auch keine Volkswirtschaft.

Aber aktuell stehen Erwerbsarbeit und Care-Arbeit in Konkurrenz zueinander?

Wenn wir Care-Arbeit zunehmend vergeschlechtlicht ausbeuten, gleichzeitig aber sagen, auch Frauen und Mütter müssen zusätzlich noch erwerbstätig sein, geht das einfach nicht auf. Die Alternative ist, Care-Arbeit outzusourcen und andere dafür zu bezahlen – sei es den Kindergarten, die Nachhilfelehrerin, oder das Pflegeheim –, was aber immer mit einem Verlust von Einkommen einhergeht und sich nicht alle leisten können.

Das ist übrigens auch kein neues Phänomen. Care wird vielfach externalisiert, also anderen übertragen, zum Beispiel Migrantinnen. Putzen und Reinigen sind hierzulande ein gutes Beispiel dafür, ebenso die Altenpflege. Care ist immer intersektional, nie geht es nur um Geschlecht: Klasse, Migrationsstatus und so weiter kommen immer maßgeblich hinzu.

Die Problematik der Verunmöglichung von Care in unserer Gegenwart wird strukturell individualisiert und privatisiert. Die Leute sollen also all das individuell für sich alleine irgendwie lösen, obwohl es eigentlich eine gesellschaftliche Aufgabe ist. Wirtschaft und Politik kümmern sich nicht angemessen darum, wie wir als Gesellschaft Sorge- und Erwerbstätigkeit gleichermaßen ermöglichen – für alle Menschen und vor allem unabhängig vom Geschlecht.

Wir sollten gesellschaftlich den gesellschaftlichen und persönlichen Wert von Care-Arbeit viel stärker betonen. Sie ist nachweislich auf eine sehr spezifische und nicht ersetzbare Weise sinnstiftend und gehört zu einem guten Leben dazu. Männer bereuen am Sterbebett am häufigsten, nicht genug Zeit mit der Familie verbracht zu haben. Deswegen sollten wir Care-Arbeit auch in den Mittelpunkt von Sozialpolitik, von Arbeitszeitmodellen, von Karrieren, von Erwerbsarbeit-Kulturen rücken.

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