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Das frühe Christentum kannte das individuelle Lesen

17.11.2021

Der evangelische Theologe Professor Jan Heilmann befasst sich mit dem Lesen in der Antike. In seiner Forschung zur Rezeption von frühchristlichen Schriften konnte er eine alte Lehrmeinung entkräften.

Professor Jan Heilmann

Frühchristliche Texte wurden in Gottesdiensten laut vorgelesen. Eine andere Rezeptionsweise ist gar nicht möglich, da die Texte im Altgriechischen üblicherweise, und anders als wir es heute gewöhnt sind, ohne Wortzwischenräume abgefasst wurden. Dieses Postulat der frühen Altertumswissenschaften zum lauten Vorlesen hat sich lange gehalten und war immer wieder Gegenstand von Diskussionen, in denen es um Lesegewohnheiten in der Antike ging. Dieses Postulat hat aber einen Haken: „Texte des Neuen Testaments wie das Johannesevangelium oder das Markusevangelium sind zwar in ihrer Sprache leicht zu erfassen, aber theologisch anspruchsvoll, und ihre narrative Struktur ist reich an Querverweisen. In einem Vorlese-Kontext können sie gar nicht in ihrer Tiefe erfasst werden“, weiß Jan Heilmann, seit Mai 2021 Professor für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LMU. Daraus folgert er, dass entweder die exegetischen Methoden anachronistische Zugänge zu den Texten produzieren, eben weil diese durch ein einmaliges Vorlesen nicht verstanden werden konnten. Oder aber, dass die Vorstellung davon falsch sei, wie die frühen Christen gelesen haben. Dieses Spannungsverhältnis hat Jan Heilmann zum Ausgangspunkt für seine Forschung zum Leseverhalten in der Antike genommen – und ist dabei zu neuen Erkenntnissen gelangt.

Mithilfe von Methoden der Digital Humanities hat er zunächst begonnen, Lesetermini zu untersuchen. „Ich habe versucht, alle Verben zu finden, mit denen das Lesen in der Antike konzeptualisiert wurde – etwa Begriffe wie ‚lego‘ im Lateinischen“, erläutert der Theologe. Er versuchte dann zu systematisieren, wie „lesen“ etwa durch Metaphern in verschiedenen antiken Quellen beschrieben wird. „Antike Leser konnten durch Texte ‚durchrennen‘, sie konnten Texte ‚essen und trinken‘ oder ‚treffen‘“, erklärt er. Heilmann definierte insgesamt neun Bildspendebereiche, in die er die mehr als 60 identifizierten Lesetermini einordnete.

Auch flossen in Heilmanns Untersuchung kognitionspsychologische Aspekte und sprachkulturelle Vergleiche ein – zum Beispiel mit dem Thailändischen, das auch ohne Wortzwischenräume auskommt. „Menschen, die in einem derartigen Schriftsystem aufgewachsen sind, können genauso gut lesen wie solche, die in einem System ähnlich dem unseren zuhause sind.“ Vergleichbar sei es auch im Lateinischen oder Griechischen. Deren distinktes Wortendungssystem mache Wortzwischenräume für das Lesen unnötig. Jan Heilmann fokussierte aber nicht allein auf die Textuntersuchung. Seine Forschung ordnete er zudem in größere historische Zusammenhänge ein. „Man kann einen christlichen antiken Text nur dann verstehen, wenn man auch die ganze Kultur berücksichtigt, also auch gesellschaftliche, religionshistorische oder wirtschaftliche Aspekte mit einbezieht.“

Das Fazit seiner Untersuchungen: Auch in der Antike war Lesen ein „Totalphänomen“. Das heißt, es war deutlich vielschichtiger und die Lesekontexte waren viel differenzierter, als dies bisher von der hiesigen Forschung angenommen wurde. „Es gab durchaus einen antiken Buchmarkt, es gab Rezensionen und Überarbeitungen. Und Texte wie etwa das Markusevangelium sind durchaus auch für den individuell Lesenden abgefasst worden“, ist Jan Heilmann überzeugt. Entsprechend seien auch die Annahmen nicht ganz korrekt, Bücher seien absolute Luxusprodukte und nur für eine Handvoll Menschen erschwinglich gewesen. „Bücher waren ein Handwerksprodukt und breit zugänglich, sofern man des Lesens kundig war.“ Er ist überzeugt, dass der alten Gewissheit, frühchristliche Texte seien laut vorgelesen worden, ein kulturspezifisches Problem zugrunde liegt, nämlich der unreflektierte Rückschluss von einem – unserem – Schriftsystem auf ein kulturell komplett verschiedenes.

Jan Heilmann führt dies auf ein aus der Romantik im frühen 19. Jahrhundert überkommenes Bild der Antike zurück. „Das Fortschreiten der industriellen Entwicklung, der industriellen Buchproduktion und die damit verbundene Individualisierung ist als Verlust erfahren worden. Man versuchte, diesen Verlust mit einem Rückgriff auf die Antike als gesellschaftlichen Idealtypus zu kompensieren.“

Bevor Jan Heilmann an die LMU berufen wurde, lehrte und forschte er an der Technischen Universität Dresden. Im vergangenen Wintersemester vertrat er die Professur Neues Testament II mit dem Schwerpunkt Neues Testament und griechisch-römische Kultur an der LMU.

Heilmann studierte von 2004 bis 2012 Evangelische Theologie, Geschichte und Germanistik in Bochum und Wien und war von 2010 bis 2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Exegese und Theologie des Neuen Testaments und am Käte Hamburger Kolleg „Dynamics in the History of Religions“ an der Ruhr-Universität Bochum.

Er sieht seine Berufung an die LMU als großen Glücksfall. „Die Altertumswissenschaften an der LMU sind hervorragend aufgestellt und es gibt zahlreiche Möglichkeiten zur wissenschaftlichen Kooperation. So etwas findet man nur an ganz wenigen Universitätsstandorten“, freut sich Heilmann. Insbesondere lasse sich seine Forschung sehr gut mit den Schwerpunkten an der Fakultät verzahnen. Auch das an der LMU etablierte Münchner Zentrum für Antike Welten (MZAW) biete viele Schnittstellen. „Ich hoffe, dass im Wintersemester viele Veranstaltungen stattfinden können, um die Kolleginnen und Kollegen besser kennenzulernen.“

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