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„Die größte Umstellung in der Geschichte der Uni"

08.06.2020

Ob Audience Response, Inverted Classroom oder Online-Seminare - drei Dozent:innen der LMU berichten von ihren Erfahrungen mit digitaler Lehre

Aufnahme eines leeren Hörsaals

© LMU

„Was wir gerade erleben, ist die größte Umstellung des Lehrbetriebs in der Geschichte der Uni“, sagt Professor Jan Lipfert, Prodekan an der Fakultät für Physik. Denn obwohl das Semester seit einigen Wochen wieder begonnen hat, sind die Hörsäle leer und die Gebäude der LMU wie ausgestorben. Studierende und Dozenten treffen sich nicht mehr im Seminarraum, sondern bei Zoom – und der Klang von „This broadcast is brought to you by LMU“ ist in den letzten Wochen für viele Studierende zu einem neuen Stück Alltag geworden.

Innerhalb kürzester Zeit musste aufgrund der Covid-19-Pandemie der Lehrbetrieb der gesamten LMU von Präsenzveranstaltungen auf digitale Lehre umgestellt werden. Für viele Dozenten sind Online-Seminare Neuland – wie Lipfert bemerkt, werden in der Physik dennoch genauso viele Veranstaltungen angeboten wie in den vorangegangenen Semestern. „Das ist schon erstaunlich und spiegelt die Bereitschaft der Kollegen wider, digitale Mittel für die Lehre zu nutzen.“

„Digitale Lehre ist ein Thema, das mehr und mehr kommt“

Lipfert selbst beschäftigt sich schon länger mit dem Thema Online-Lehre, bereits vor der Corona-Krise trieb ihn die Frage um: „Welche Lehrformate kann ich rein digital anbieten? Komplett online stattfindende Veranstaltungen sind ein wahnsinnig spannendes Thema, das mehr und mehr kommt.“

Bereits seit einigen Semestern benutzt er in seinen Vorlesungen digitale Tools als ergänzende Bausteine. Auf einem iPad rechnet Lipfert den Studenten live vor, um so den Rechenweg nachvollziehbarer zu machen. Zudem benutzt er die digitale Lehr- und Lernmethode „Audience Response“: Im Laufe der Veranstaltung stellt er Fragen zum Inhalt seines Vortrags, die die Studierenden an ihrem Smartphone oder Computer beantworten können. „Die Forschung zeigt, dass ein aktives Lernen besser ist, als nur dem Dozenten zuzuhören. Es ist ganz wichtig, dass die Studierenden selber über die Sachverhalte nachdenken, sich untereinander austauschen.“

„Audience Response“ regt zum aktiven Mitdenken an

Ein weiterer Vorteil: Lipferts Erfahrung nach melden sich in einer klassischen Vorlesung immer die gleichen Studierenden. Bei einer über „Audience Response“ gestellten Denkaufgabe beteiligt sich aber mehr als die Hälfte aller Zuhörer im Hörsaal. Die „Audience Response“ ist damit eine anregende Ergänzung zu Lipferts Vortrag und den physikalischen Versuchen, um die Studierenden besser einzubinden. Die Methode scheint zu funktionieren – denn Lipfert hat in den letzten Jahren Lehrpreise von gleich drei Fakultäten gewonnen.

Derzeit hält er für seine Masterstudierenden eine reine Online-Veranstaltung ab, eine Vorlesung kombiniert mit einer Übung. Es läuft gut, gerade das Vorrechnen in der Übung sogar besser – allerdings bemängelt Lipfert: „Dieses Format ist einfach weniger interaktiv. Wenn man die Leute live vor sich hat, finde ich es einfacher, mit ihnen zu interagieren. Online ist das bedeutend schwieriger.“

So empfindet es auch Sebastian Mader, der am Institut für Informatik in der Lehr- und Forschungseinheit für Programmier- und Modellierungssprachen arbeitet. Er benutzt seit vier Semestern digitale Tools in seinen Präsenzveranstaltungen. In großen Vorlesungen können die Studierenden über einen Backchannel anonym Fragen stellen – die dann andere Studierende oder der Dozent beantworten. Zudem verwendet Mader „Audience Response“ in Kombination mit dem Konzept des „inverted classrooms“.

Beim „inverted classroom“ wird das Gelernte gemeinsam praktisch angewendet

Idee des „inverted“ oder auch „flipped classrooms“ ist, dass die Studierenden sich selbstständig den Lernstoff aneignen, um diesen in den Präsenzveranstaltungen anzuwenden. Maders Modell weicht von dieser Methode ein wenig ab, denn die Studierenden bereiten den Stoff nicht zuhause vor. „Vielmehr beginne ich jeden Block mit einer zehn- bis fünfzehnminütigen Minivorlesung, auf die dann eine Übung folgt. Die Studierenden arbeiten dabei in Viererteams an JavaScript-Aufgaben.“

Mader hat dafür eigens Tests geschrieben, die das von den Studierenden Eingegebene automatisch überprüfen, Feedback zu jedem einzelnen Schritt der Aufgabe geben und Fehler so schnell wie möglich anzeigen. „Studierende, die es fast ohne meine Hilfe schaffen würden, werden durch den Editor in die Lage versetzt, die Aufgabe selber zu lösen – und ich kann mich auf die Studierenden konzentrieren, die meine Hilfe benötigen.“ Mader bekommt an seinem PC eine Übersicht, wie gut die einzelnen Teams sind, und greift denen persönlich unter die Arme, die gerade Hilfe brauchen.

Seine Studierenden wissen das Konzept offenbar zu schätzen: „Nach unserer Erfahrung mit traditioneller Lehre verliert man in einer normalen Vorlesung so 50-60 Prozent der Zuhörer über das Semester – ich halte aber 70-80 Prozent der Studierenden bis zum Ende der Vorlesung.“

Das persönliche Umfeld fehlt

Was Mader besonders gefällt: „Durch dieses Format entsteht im Hörsaal eine sehr angenehme Dynamik, sowohl innerhalb der Gruppen als auch zwischen den unterschiedlichen Teams.“ Diese beim E-Learning herzustellen, ist allerdings schwierig. Zwar tun sich auch in der dieses Semester rein digital stattfindenden Veranstaltung die Studierenden zu Vierergruppen in „break-out rooms“ bei Zoom zusammen – allerdings geht bei der Betreuung der Teams laut Mader viel Zeit verloren und alles dauert erheblich länger.

„Ich kann nur mutmaßen, dass die Studenten im Hörsaal viel von ihrem Umfeld mitbekommen – dass ich einer Gruppe etwas erkläre und das den Studenten zwei Reihen weiter hinten auch hilft. Oder dass die Gruppen im echten Hörsaal miteinander reden und sich gegenseitig fragen: Wie habt ihr das jetzt gemacht?“

Auch Lilia Diamantopoulou findet, dass die persönliche Interaktion zu kurz kommt, und hat den Eindruck, dass die vielen Zoom-Veranstaltungen mühsam für die Studierenden sind. „Es ist wirklich anstrengend, so viele Lehrveranstaltungen online zu besuchen, weil das eine ganz andere Aufmerksamkeit erfordert. Am Dienstag sind die Studierenden noch etwas frischer, aber wenn ich sie dann in einer Lehrveranstaltung am Donnerstag wiedersehe, denke ich schon: Oh jetzt reichts aber langsam.“

Drei Orte – ein digitaler Seminarraum

Dabei waren es Diamantopoulous Studierende bereits vor der Corona-Krise gewöhnt, an Online-Veranstaltungen teilzunehmen. Der Master für Neogräzistik wird nur an drei Lehrstühlen in Deutschland angeboten – an der LMU, der Freien Universität Berlin und der Uni Hamburg. Da dort jeweils nur Ein-Mann-/Ein-Frau-Professuren bestehen, haben sie sich zu einem interuniversitären Master zusammengeschlossen und bieten bereits seit 10 Jahren E-Learning an.

So kommt es, dass an einem Seminar von Diamantopoulou Studierende sowohl persönlich im Seminarraum als auch digital von Berlin und Hamburg aus teilnehmen – zugeschaltet über Kamera und Mikrofon. Für ihr digitales Klassenzimmer nutzt sie Adobe Connect, da die LMU nun aber viele Zoom-Lizenzen erworben hat, kommt dieses Tool inzwischen vermehrt bei ihr zur Anwendung.

Digitale Lehre funktioniert Diamantopoulou zufolge in ihrem Fach sehr gut. Allerdings bringt sie gerne Objekte in den Unterricht mit – originale Briefe, seltene Ausstellungskataloge und weiteres, wenig erforschtes Archivmaterial. „Auch um die Materialität von Gegenständen und Schriftstücken zu erforschen, wie Wasserzeichen oder etwa das Alter des Papiers. Solche Dinge kann man in digitalisierter Form nur erahnen, da das „Haptische“ nicht vermittelbar ist. Es gibt eben Vor- und Nachteile.“

In der rein digitalen Lehre falle für sie als Dozentin zudem mehr Arbeit an, das Vorbereiten von Veranstaltungen erfordere viel Zeitaufwand. Auf den digitalen Plattformen brauche es sehr viel mehr Rückkommunikation als bei Präsenzveranstaltungen. „Man darf nicht immer nur monologisieren, man muss viele Rückfragen stellen – was natürlich auch mehr Arbeit erfordert. Man muss sich vorab Fragen überlegen und wie man diese einbauen kann.“

„Man redet in das große Nichts hinein“

Auch Mader fehlt in der Online-Lehre der Rückkanal: „Man sitzt daheim und redet in das große Nichts hinein. Normalerweise geben die Studierenden auch nonverbales Feedback, was mir als Dozent bei der Zoomlehre komplett fehlt.“ Lipfert empfindet es ähnlich: „Viele Studierende machen ihre Kamera aus und dann ist es für mich schon ein bisschen so, als würde ich einfach nur mit meinem Computer reden.“

Auch wenn vieles in der digitalen Lehre bei Diamantopoulou, Mader und Lipfert sehr gut läuft, lässt sich der soziale Faktor bisher online nicht ersetzen. Gerade am Anfang des Studiums sei es oftmals gar nicht so wichtig für den Studienerfolg, was der Dozent vorne sage, sondern vielmehr, wer neben einem in der Vorlesung sitze und mit wem man sich zum Übungszettel Rechnen verabrede, findet Lipfert. „Ich denke, vor allem auch das ist der Mehrwert einer traditionellen ‚bricks and mortar university′ im Gegensatz zu einem kompletten Online Angebot.“

Die Mischung machts

Eine ausgewogene Mischung von Präsenzveranstaltungen, digitalen Tools und dem Nutzen von Online-Möglichkeiten wäre das Ideal. Das digitale Semester betrachten die drei Dozenten als Chance, neue Methoden kennenzulernen und zu erproben. So könne neuer Schwung in das Thema digitale Lehre und Digitalisierung der Universitäten in Deutschland kommen.

Mader erklärt: „Es ist nicht alles, was digital ist, auch automatisch gut, aber so findet jeder irgendetwas, irgendein digitales Tool, das die Lehre verbessern kann. Wir müssen ja nicht von jetzt auf heute komplett auf Online-Lehre umsteigen, es reicht, wenn man langsam digitale Sachen in die Lehre einführt.“

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