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„Die Konflikte sind nur eingefroren“

12.06.2015

Vor 20 Jahren ermordete die bosnisch-serbische Soldateska in Srebrenica etwa 8000 Menschen: der grausame Höhepunkt der Jugoslawienkriege. LMU-Südosteuropaexpertin Marie-Janine Calic über die Last der Vergangenheit und die Frage nach der Zukunft

Wie eskalierte die Situation schließlich zur Katastrophe des 11. Juli 1995, nachdem Srebrenica schon jahrelang bosnisch-serbischen Verbänden eingeschlossen war? Calic: Die bosnischen Serben hatten bis Juli 1995 schon ganz Ostbosnien eingenommen, es fehlten nur noch die bosnischen Enklaven, darunter auch Srebrenica, um ein geschlossenes Gebiet zwischen den von den Serben gehaltenen Gebieten und Serbien herzustellen. Serbenführer Radovan Karadzic hatte schon seit dem Frühjahr angekündigt, dass die serbischen Truppen die Enklave überrennen würden. Als sich in der Nacht zum 11. Juli eine große Gruppe von bewaffneten bosnischen Muslimen, die sich in der Enklave gesammelt hatte, aufmachte, den Belagerungsring zu durchbrechen, nutzte General Ratko Mladic dies als Anlass zum Sturm auf Srebrenica. Er ließ alle Männer gefangen nehmen – und ermorden. Dabei spielten Rachsucht und nationalistische Aufhetzung als Motive wohl ebenso eine Rollen wie strategische Erwägungen.

Srebrenica stand als entmilitarisierte Schutzzone zumindest formal unter der Obhut von niederländischen UNO-Blauhelmen. Wie konnte es da zu dem Völkermord kommen? Calic: Das Mandat sah nie vor, die Schutzzone notfalls auch militärisch zu verteidigen. Die Blauhelme wären dazu auch keinesfalls in der Lage gewesen. Von 430 Soldaten, die sich in Srebrenica aufhielten, waren überhaupt nur 150 – leicht – bewaffnet. Sie waren selbst in einer desolaten Lage, die monatelange Belagerung traf auch sie, sie haben kein Essen, kein Benzin und auch sonst keine Unterstützung von außen bekommen. Sie hätten sich aber an jenem Abend um den Verbleib der festgenommenen Männer kümmern müssen. In einer völligen Fehleinschätzung der Lage haben sie den serbischen Truppen jedoch noch geholfen, die gefangenen Männer in Lager zu bringen. Sie sind ihrer humanitären Aufgabe nicht nachgekommen, das ist ihr Versagen.

Zuvor hatten in Bosnien Menschen unterschiedlichster Volks- und Religionszugehörigkeit Tür an Tür gelebt. Wie konnte es zum Zerfall jeglichen Zusammenhalts kommen? Calic : Das ist nur durch die Umstände des Krieges zu erklären. Man kann sehr gut sehen, wie in Bosnien die Entsolidarisierung zwischen den Volksgruppen in dem Maße voranschritt, in dem der Krieg näherkam. Wenn Menschen Angst haben, verwandelt sich Misstrauen leicht in Paranoia, in Gegnerschaft und Hass. Man liest häufig, dass dieser Hass sehr lange und tief verwurzelt war. Das ist nicht richtig.

Woher kamen die Drahtzieher der Gewalt und welche Interessen hatten sie? Wie schafften sie ein Klima von Hass und Angst, sodass am Ende durchaus „ganz normale Männer“ auch ihre Nachbarn massakrierten? Calic: Die „ethnischen Säuberungen“, und dazu gehört ja auch der Völkermord von Srebrenica, sind nicht aus spontanem Völkerhass entstanden. Die politische und militärische Führung der bosnischen Serben hat sie angeordnet. Es war erklärtes Kriegsziel, ethnisch homogene Gebiete zu schaffen, egal mit welchen Mitteln. Deportation, Vertreibung und eben auch Massenmord waren systematisch und strategisch. Die Armee hat dabei auf paramilitärische Verbände zurückgegriffen. Sie sollten Angst und Schrecken verbreiten, sie haben getötet und gebrandschatzt. In diesen Verbänden haben viele Männer mitgemacht, die vielleicht auch Spaß hatten an der Gewalt und sadistisch veranlagt waren. Manche kamen als regelrechte Wochenendkämpfer, manche kamen für einen Sold und die Aussicht auf Bereicherung an die Front. Die Medien haben Gewalt und Hass noch angefacht.

Auch wenn dies nicht das vorherrschende Muster ist: Die Mittäter vor Ort haben sogar ehemalige Bekannte zu den Massenexekutionen abgeführt. Aus Srebrenica gibt es ja entsprechende Berichte. Calic: Der Krieg in Bosnien schuf eine Situation, in der Gewalt nicht nur legitimiert war; man war regelrecht aufgefordert mitzutun. Viele haben sich wohl auch eingeredet, sie müssten präventiv tätig werden, bevor der Nachbar ihnen das Haus anzündet. Die Täterforschung legt nahe, dass jede Gesellschaft prinzipiell in der Lage ist, Massenverbrechen hervorzubringen.

Sie waren in jenen Monaten selbst als Beraterin des UNO-Sondergesandten im 400 Kilometer entfernten Zagreb. Wie haben Sie die Phase der Zuspitzung, die Tage der Katastrophe und des Versagens der Staatengemeinschaft erlebt? Calic: Die UNO hatte ein Mandat in Bosnien und ganz Jugoslawien, das nicht ausführbar war – eine Mission impossible. Die Blauhelme sind auf Friedensmission in ein Land geschickt worden, in dem ein heißer Krieg tobte. Entsprechend hilflos mussten sie agieren. Der Sondergesandte hat immer wieder verzweifelt versucht, die Mittel aufstocken zu lassen. Statt der 7500 Peacekeeper hätte man 34.000 in Bosnien gebraucht. Die Mitgliedsstaaten aber haben keine weiteren Kontingente gestellt, in Deutschland gab es damals noch verfassungsrechtliche Bedenken. Ich habe die Zeit in Zagreb vor allem als eine große Geschichte der Fehleinschätzungen erlebt. UNO, Militärexperten und Aufklärer gingen noch in den Tagen, als die Stadt schon vollständig umzingelt war, davon aus, dass die Serben die Enklave unmöglich einnehmen könnten, weil sich Zehntausende Flüchtlinge in der Stadt befänden, die dann gefährdet würden. Auch für mich war nicht vorstellbar, dass schließlich 8000 Menschen einem systematischen Massaker zum Opfer fielen.

Welche Lehren hat die UNO aus dem Desaster gezogen? Calic: Zum Beispiel hat die UNO mit einer Reihe von Reformen dafür gesorgt, dass sie die Friedenseinsätze künftig effektiver durchführen können. Es hat sich außerdem die Responsibility to protect als neue Doktrin durchgesetzt. Danach verpflichten sich die Staaten, Menschenrechtsverletzungen in ihrem eigenem Herrschaftsbereich zu verhindern. Und wenn sie dazu nicht in der Lage sind, ist die Völkergemeinschaft aufgefordert, dagegen auch notfalls mit Gewalt einzuschreiten. Völkerrecht und internationale Strafgerichtsbarkeit haben sich weiterentwickelt. Und letztlich haben auch die Mitglieder der UNO wie die Staaten der EU ihr Instrumentarium zu Konfliktprävention und Friedensmissionen verbessert.

Mit dem Friedensvertrag von Dayton wurde Bosnien-Herzegowina in zwei in etwa gleichgewichtige Bundesländer zerlegt, einen kroatisch-muslimischen und einen serbischen Teil. Die Zentralregierung ist demgegenüber mit schwachen Befugnissen ausgestattet. Hat sich das bewährt? Calic: Dayton hat einen überkomplexen, nicht funktionsfähigen Staat geschaffen, mit komplizierten Institutionen, Wahlsystemen und Vetorechten. Viele, viele Versuche, ihn zu reformieren und straffere Entscheidungsstrukturen zu schaffen, sind gescheitert, die betroffenen Konfliktparteien boykottieren das. Insgesamt geht nicht viel vorwärts in diesem Staat. Er wird immer noch vom Hohen Repräsentanten verwaltet, der mit sehr weitreichenden Befugnissen ausgestattet ist. Und in der Föderation, einem der Bundesländer, das noch einmal in diverse Kantone und Sondergebiete aufgespalten ist, streiten sich Bosniaken und Kroaten über das Funktionieren und die Einflusssphären. Da gibt es Gemeinden wie Mostar, in denen die Politik völlig gelähmt ist. Traurigerweise sind das alles Fragen, die schon ganz am Anfang des Krieges in Bosnien auf der Tagesordnung standen.

Wie gut sind denn die Kriegsverbrechen juristisch aufgearbeitet? Der Prozess gegen Ratko Mladic beispielsweise schleppt sich seit Jahren hin, zuvor hatte der damalige Befehlshaber der bosnischen Serben jahrelang in Belgrad unbehelligt ein und aus gehen können, trotz aller Auslieferungsersuchen. Calic: Auf internationaler Ebene ist die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen recht gut vorangeschritten. Das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag hat 161 Anklagen erhoben, 147 Prozesse sind abgeschlossen, 14 laufen noch. Der Großteil der Angeklagten ist also tatsächlich abgeurteilt. Und es ist auch niemand mehr flüchtig. Aber das Tribunal richtet nur über die Haupttäter. Nach Schätzungen der UNO müssen sich allein in Bosnien mindestens 20.000 Menschen an den Verbrechen beteiligt haben. Der Großteil der Schergen wird gerichtlich nie belangt werden. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass die Kriegsverbrecherfrage noch immer hoch politisiert ist.

Der heiße Krieg in Bosnien ist zwar längst zu Ende, aber was ist aus den alten Konflikten um Macht, Einfluss und Identität geworden? Calic: Der Vertrag von Dayton hat sie nur eingefroren. Allerdings hat der Krieg auch ganz neue Bedingungen geschaffen. Große Teile Bosniens, die früher ethnisch gemischt waren, sind heute homogen. Die nationalen Identitäten etwa der Bosniaken haben scharfe Konturen bekommen. Damit hat auch die Religion eine Aufwertung erfahren – wodurch neue Probleme auftreten wie die Islamisierung und das Phänomen, dass Bosnien heute eine Heimstatt ist für terroristische Gruppen und radikale Islamisten.

Wie leben die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen heute „zusammen“? Gibt es überhaupt Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft in Bosnien-Herzegowina? Calic: Es könnte sie geben, wenn die politischen Eliten bereit wären, etwas dafür zu tun. Das ist aber nicht der Fall. Die drei Volksgruppen haben sich völlig auseinanderdividiert, der Staat ist ethnisch gespalten in jeder Hinsicht, nicht nur politisch, sondern auch mental und psychologisch. Das geht zum Beispiel so weit, dass in der Föderation die Schulen getrennt sind – unter einem Dach. Bosnische Kinder gehen in das eine Klassenzimmer, kroatische in das andere. Obwohl sie die gleiche Sprache sprechen, lernen sie nach unterschiedlichen Schulbüchern. Und sie lernen unterschiedliche Wahrheiten. Das kann einem eine Idee davon geben, wie sich das in der Zukunft fortsetzt.

Gibt es so etwas wie eine Kultur der Normalisierung? Und wenn ja, wer sind ihre Träger? Calic: Im manche Gegenden sind Flüchtlinge zurückgekehrt. Dort leben die Menschen relativ normal wieder zusammen. Anderswo sind Rückkehrer nach wie vor nicht erwünscht, sie bekommen dort ihr Eigentum nicht zurück, finden keine Arbeit, sind vielleicht sogar Gewalt ausgesetzt. Allenthalben, auch in Sarajewo, wird alles danach entschieden, welcher ethnischen Gruppe man angehört und welche Verbindungen man hat. Und solange sich das politische Klima nicht ändert, wird die Normalität nicht von unten wachsen.

Wie steht es um die europäische Perspektive Bosniens? Wie ist da die Haltung der EU? Calic: Bosnien ist immer noch nur ein potenzieller Beitrittskandidat der EU. Neben dem Kosovo ist es tatsächlich das einzige Land auf dem westlichen Balkan, das noch keinen offiziellen Kandidatenstatus hat. Die EU-Perspektive kann vielleicht die allgemeine Reformrichtung vorgeben, aber sie kann nicht all die Probleme lösen, die in diesem Staat bestehen. Die Perspektive ist fern, der Anreiz zu abstrakt – angesichts der drängenden Alltagsprobleme. Für diejenigen, die da in politischen Ämtern sitzen, ist das Morgen einfach näher als eine ferne Zukunft. Und wo die Bosnier ihre vitalen Interessen ihrer jeweiligen Volksgruppe bedroht sehen, wo sie immer noch um ihre private Existenz fürchten, Angst vor Vertreibung haben oder davor, dass ihr Nachbar ein Kriegsverbrecher ist, der jemanden umgebracht hat, kommt man mit wirtschaftlich-politischen Anreizen nicht weit. Es gibt zwar Parteien, die sich überethnisch verstehen und deren Politik sich gegen den nationalistischen Mainstream richtet, und von der internationalen Gemeinschaft unterstützte NGOs. Sie haben aber zu wenig Einfluss. Es sind im Prinzip die alten Parteien an der Macht – mitunter mit demselben Personal, das damals den Krieg begonnen hat. Diese Politiker waren in den 90er Jahren schon da und sind es immer noch.

Interview: Martin Thurau

Prof. Dr. Marie-Janine Calic ist Professorin für Südosteuropäische Geschichte an der LMU.

Am Montag, 15. Juni 2015, um 18:15 Uhr spricht Marie-Janine Calic im Gasteig (Vortragssaal der Bibliothek, Rosenheimer Straße 5) über „Bosnien Herzegowina: Die Last der Vergangenheit und die Hoffnung auf Zukunft“. Die Vortrag ist Teil der Reihe „Bosnien-Herzegowina. 20 Jahre nach Srebrenica und Dayton“, die von der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der LMU und der Universität Regensburg zusammen mit der Münchner Volkshochschule veranstaltet wird.

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