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„Die Potenziale der erneuerbaren Energien sind riesig“

18.05.2021

Nachhaltige Energieversorgung: Die Ökonomin Claudia Kemfert macht sich für die umfassende Nutzung regenerativer Quellen stark. Eine Positionsbestimmung.

© IMAGO / H. Tschanz-Hofmann

Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und der Leuphana Universität gilt als Verfechterin des konsequenten Einsatzes erneuerbarer Energien. Am Donnerstag dieser Woche debattiert sie mit dem Chemiker Walter Leitner vom Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion und der RWTH Aachen über die Energie der Zukunft. Die Diskussion ist der zweite Abend in der Reihe Energy of the Future des Centers for Advanced Studies der LMU und des Exzellenzclusters e-conversion.

Wie groß ist das Potenzial der erneuerbaren Energien in Deutschland und Europa?

Kemfert: Riesig. Allein die Solarenergie hat ein gigantisches Potenzial, dies gilt aber auch für Windenergie, Geothermie, Wasserkraft, Biomasse und andere Energieformen. Sie alle zusammen können eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien ermöglichen. Das Energiesystem wird so dezentraler, flexibler und vernetzter. Wir zeigen anhand unterschiedlicher Simulationsmodelle, dass ein komplett auf erneuerbare Energien basierendes Energiesystem nicht nur technisch möglich ist, zu jeder Tages- und Nachtzeit also versorgungssicher Energie für die gesamte Volkswirtschaft bereitstellen kann. Sondern wir zeigen auch, dass es vor allem ökonomisch effizient ist, da die Energiesystemkosten viel niedriger sind als im konventionellen Energiesystem und die Investitionen Innovationen, Wertschöpfung und Arbeitsplätze hervorbringen. Ein Energiesystem, das auf erneuerbaren Energien basiert, ist nicht nur preiswerter als das konventionelle, sondern auch beschäftigungsintensiver. Und das nicht nur in Deutschland und Europa. Studien zeigen, dass eine Vollversorgung aus erneuerbaren Energien überall auf der Welt möglich und lohnend ist.

Welche sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Quellen?

Kemfert: Sonne und Wind werden die wichtigsten Bausteine sein, zur Vollversorgung aber werden alle erneuerbaren Energien benötigt. Erneuerbare Energien können genauso versorgungssicher sein wie viele herkömmliche Kraftwerke, die oft alt, ineffizient und unflexibel sind. Sie können im Verbund die zukünftigen Bedürfnisse der Energieversorgung viel besser erfüllen. Wind, Sonne, Biomasse und Wasserkraft können so gut aufeinander abgestimmt sein, dass sie eben jederzeit versorgungssicher sind. Die Dynamik und die Dezentralität der erneuerbaren Energien ist sogar ein großer Vorteil: So entlastet man die Verteilnetze und schafft beste Ausgangsvoraussetzungen für Elektromobilität und den Einsatz Erneuerbarer im Gebäudebereich. Neue, Prosumer genannte Akteure, die Strom selbst produzieren und nutzen, aber teilweise auch ins Netz einspeisen, sowie dezentrale Speicher, wie Batterien – auch von Elektrofahrzeugen – können das Netz stabilisieren. Für all dies werden wir ein intelligentes Energiemanagement benötigen, welches mittels technischer Infrastruktur und Digitalisierung ermöglicht wird.

Worin bestehen die größten Hemmnisse bei der Umsetzung?

Kemfert: Das größte Hemmnis ist der politische Wille. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, welches die Bundesregierung auffordert, Klimaschutz nicht auf die nachfolgenden Generationen zu verschieben, muss die Politik rasch nachbessern. In Windeseile wurden die Emissionsminderungsziele auf die EU-Vorgaben angepasst. Aber mit Zielen allein erreichen wir noch lange keinen Klimaschutz. Es fehlen nach wie vor die geeigneten Rahmenbedingungen. Vor allem müssen die erneuerbaren Energien viel schneller als bisher ausgebaut werden, die Ausbauziele massiv erhöht werden, die Genehmigungsverfahren erleichtert, finanzielle Beteiligungsmodelle erweitert, Marktbarrieren abgebaut und die Bürgerenergie gestärkt werden. Wir benötigen einen jährlichen Zubau von 10 Gigawatt (GW) Wind- und 20 GW Solarenergie, somit mindestens eine Vervierfachung der derzeitigen Ausbauraten, um den steigenden Stromverbrauch abzudecken. Die Bundesregierung steht aber beim Ausbau komplett auf der Bremse und ignoriert den steigenden Stromverbrauch. So laufen wir sehenden Auges in eine Öko-Stromlücke. Gleichzeitig müssen wir uns stärker dafür einsetzen, Energie in allen Bereichen einzusparen – von der energetischen Gebäudesanierung über Energieeffizienzprogramme in der Industrie bis hin zur Förderung von Schienenverkehr und Elektromobilität.

Welche politischen Weichenstellungen wären dafür – kurz- und langfristig – nötig, um das Potenzial auszuschöpfen? Ist der CO2-Preis ein adäquates Mittel?

Kemfert: Wir benötigen einen breiten Strauß an Maßnahmen, der CO2-Preis ist ein flankierendes Mittel. Im Rahmen des EU-Emissionsrechtehandels steigt derzeit der CO2-Preis aufgrund der Klimazielverschärfung stark an, wodurch zum ersten Mal eine echte Lenkungswirkung erzielt wird, Kohlekraftwerke werden immer mehr aus dem Markt gedrängt. Für die Industrie ist ein derart hoher Preis durchaus eine Herausforderung, die Modernisierung und Dekarbonisierung der Industrie ist seit langem überfällig. Daher ist es sinnvoll, flankierend sie über gezielte Investitionsallianzen und Carbon Contracts for Difference, Differenzverträge, die volatile Preise abfedern sollen, zu unterstützen.Für Heiz- und Kraftstoffe hat die Bundesregierung einen festen CO2-Preis eingeführt, welcher schrittweise von 25 auf bis zu 65 Euro pro Tonne CO2 bis 2026 ansteigen wird. Aufgrund der sehr niedrigen Preiselastizität vor allem im Verkehrssektor wird es aber kaum eine Lenkungswirkung geben, der Umstieg hin zu einer klimafreundlichen Mobilität bedarf also vieler weiterer und anderer Instrumente: angefangen von höheren CO2-Grenzwerten für Fahrzeuge, einer streckenabhängigen PKW-Maut, einer E-Auto-Quote für neu zugelassene PKWs bis hin zur Stärkung des Schienenverkehrs, des ÖPNVs, dem Ausbau von Ladeinfrastrukturen sowie Fahrrad- und Fußwegen. Eine Änderung der Straßenverkehrsordnung, die wegkommt von der starken Priorisierung des Autoverkehrs, ist überfällig. Ebenso braucht es die Abkehr von der einseitigen Fokussierung auf den Straßenverkehr bei der Bundesverkehrswegeplanung. Dringend notwendig ist eine Bundesmobilitätsplanung, die Klimaschutz und Nachhaltigkeitsziele umsetzt und nicht wie derzeit eher behindert. Der Verkehrssektor hat mit Abstand den meisten Nachholbedarf in Punkto Klimaschutz und Nachhaltigkeit.

Wird das neue Klimaschutzgesetz, das das Bundeskabinett nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes jetzt verabschiedet hat, der Entwicklung einen Schub geben?

Kemfert: Ja, das wird es. Es gibt eine Zeit vor und eine Zeit nach dem Urteil. Man sieht ja schon in den unmittelbaren Reaktionen, wie schnell es auf einmal gehen kann mit der Anpassung der Klimaschutz-Ziele. Ziele allein reichen aber nicht, nun muss gehandelt werden für einen effektiveren Klimaschutz. Der neue US-Präsident macht es derzeit eindrucksvoll vor, wie kluger Klimaschutz mit Investitionen und der Erschließung von Zukunftsmärkten gelingen kann. Klimaschutz schafft enorme wirtschaftliche Chancen, Innovationen, Wertschöpfung und zukunftsfähige Jobs. Genau darauf kommt es jetzt an. Deutschland hat einen Modernisierungs- und einen Investitionsstau, vor allem bei der Digitalisierung und dem Infrastrukturausbau. Wir könnten jetzt drei Krisen gleichzeitig angehen: die Energiekrise durch Stärkung der Resilienz und Versorgungssicherheit mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien, die Wirtschaftskrise durch Investitionen in Zukunftsmärkte und die Klimakrise durch sinkende Emissionen. Eine Win-win-win Situation.

Prof. Dr. Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sowie Professorin an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie ist Ko-Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen an, der die Bundesregierung berät.

Die Frage von effizienter und nachhaltiger Energiespeicherung ist virulenter denn je. Eine umweltbewusste Wirtschafts- und Klimapolitik kann auf neue Forschungen zur Energiespeicherung nicht verzichten. Genau diese Forschungsfragen werden am Exzellenzcluster e-conversion von LMU und TUM vorangetrieben. Mit der Vortragsreihe sollen die Potenziale der aktuellen Energieforschung einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt und ihre politische Relevanz diskutiert werden. Am 20. Mai diskutieren Professorin Claudia Kemfert und Professor Walter Leitner (MPI für Chemische Energiekonversion und RWTH Aachen) mit Professor Ueli Heiz (TUM) über das Thema „The Potential of Sustainable Energy Production“. Weitere Informationen zur Anmeldung und zur Reihe finden Sie auf den Seiten des CAS.

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