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Die Vermessung der sozialen Welt

05.02.2024

Wie lassen sich die Schieflagen der Gesellschaft mit Methoden des Data Mining analysieren? Das erforscht der Soziologe Carsten Schwemmer, er ist Professor für Computational Social Sciences an der LMU.

Manchmal braucht es ein gehöriges Maß an Technik, um der versteckten Diskriminierung auf die Spur zu kommen. Carpooling, ein beliebiges Beispiel: Haben es Personen mit Migrationshintergrund schwerer, eine Mitfahrgelegenheit auf den einschlägigen Plattformen erfolgreich anzubieten? Ja, so fand Carsten Schwemmer mit einer aufwendigen Untersuchung heraus: Die Anbieter mussten im Schnitt gut ein Viertel unter den üblichen Preis gehen, um ihr Auto vollzubekommen. Gleiche Tour, gleiches Angebot, gleiche Bewertungen des Fahrenden – allein ein Vorname, der einen Migrationshintergrund signalisiert, konnte dafür sorgen, dass die Person seltener gebucht wurde.

Das sind die Fälle, die den Soziologen schon lange interessieren. Über Wochen schaltete Schwemmer, damals noch Doktorand, Computer zusammen und ließ sie Informationen solcher Plattformen aus dem Netz auswerten. „Wir haben viele wichtige und spannende Daten, die wir in den Sozialwissenschaften gerne analysieren würden, aber oft fehlt uns dafür das Handwerkszeug“, sagt Schwemmer, seit gut einem Jahr Professor für Computational Social Sciences im Fach Soziologie an der LMU. „Dafür importieren wir das technische Wissen aus der Informatik und wenden es auf sozialwissenschaftliche Fragestellungen an.“

Professor Karsten Schwemmer steht in entspannter Pose vor zwei Computermonitoren, von denen einer im Betrieb ist. Im Bildhintergrund sieht man ein Fenster mit Blick nach draußen.

Professor Carsten Schwemmer

Er untersucht Schieflagen der Gesellschaft mit Methoden des Data Mining.

© Stephan Höck

Vorreiter in einer rasant gewachsenen Subdisziplin

Egal, ob es um die nicht ganz sauberen Tricks in US-Wahlkampagnen, den Einfluss politischer Influencer oder das Erkennen von hetzerischen Inhalten im Netz geht: „Die Verbindung von Technik und Gesellschaft zieht sich wie ein roter Faden durch die Themen und die Methoden meiner Arbeiten“, sagt Schwemmer.

Schon im Soziologie-Studium an der Universität Bamberg hat er sich passende Informatik-Inhalte aus dem Lehrangebot herausgesucht. Damals gab es noch kein auf ein solches Crossover zugeschnittenes Angebot. „Ich habe mir meinen Schwerpunkt sozusagen selbst gebaut.“ Heute ist die Subdisziplin der Computational Social Sciences rasant gewachsen und Carsten Schwemmer ein gefragter Wissenschaftler und Hochschullehrer. Die bisherigen Stationen seiner Berufsbiografie konturierten sein Arbeitsfeld immer schärfer:

Nach der Promotion, ebenfalls in Bamberg, war Schwemmer Juniorprofessor am Center for Data and Methods der Universität Konstanz und für ein halbes Jahr Fellow am Weizenbaum-Institut in Berlin. Als Postdoktorand ging Carsten Schwemmer an das Center for Information Technology Policy der Princeton University, USA. Er vertrat den Lehrstuhl für Politische Soziologie in Bamberg und leitete am GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Köln ein Forschungsteam in der Abteilung Computational Social Sciences, bevor er an die LMU berufen wurde.

Über Tricks und Täuschung vor der US-Wahl

In seiner Zeit an der Ivy-League-Uni Princeton etwa war er maßgeblich an einem Projekt beteiligt, das Unregelmäßigkeiten im Vorfeld der US-Wahlen 2020 nachging. Mit ausgefeilten Methoden des Data Mining stellten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Korpus von 300.000 E-Mails zusammen, die Organisationen in ihren Kampagnen zur US-Wahl verschickt hatten – um Unterstützer und Geld für den Wahlkampf zu sammeln. Dabei mit manipulativen Taktiken zu arbeiten, sei die Norm, nicht die Ausnahme gewesen, zeigte die Auswertung der Daten.

Die Forscher fanden verschiedene Muster von „Clickbait und Täuschung“ etwa im E-Mail-Header, die Empfänger dazu bringen sollten, auf die Botschaft zu reagieren – für die Wissenschaftler eine Form unlauterer Wählerbeeinflussung. Auch was sich in den sozialen Medien tut und wie sich das mit Methoden der Computational Social Sciences analysieren lässt, ist naturgemäß ein Thema in Schwemmers Arbeiten.

Erst kürzlich bekam er zusammen mit anderen Forschenden den Zuschlag für ein neues Projekt. Gemeinsam werden sie mit KI-Methoden untersuchen, wie sich xenophobe und antisemitische Inhalte in den sozialen Medien, besonders in Bildern und Videos, erkennen lassen. Mit dabei sind Diana Rieger, Professorin für Kommunikationswissenschaft an der LMU, und Yannis Theocharis, Professor für Digital Governance an der Technischen Universität München. „Mir ist die Arbeit über Fächergrenzen hinweg sehr wichtig“, sagt Soziologe Schwemmer, „so lässt sich der Blick weiten“ – auf die Fragen von Technik und Gesellschaft.

Lesen Sie auch „Wahlkämpfer in eigener Sache“ über Carsten Schwemmers Arbeiten zu politischen Influencern. Aus dem LMU-Forschungsmagazin EINSICHTEN

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