News

„Die Welt wächst immer enger zusammen“

22.10.2017

Das Programm Erasmus feiert in diesem Jahr seinen 30. Geburtstag. Genauso lange ist auch Jean Schleiss an der LMU für die Erasmus-Koordination zuständig und hat in 30 Jahren zwischen „Incomings“ und „Outgoings“ einiges erlebt. Im Interview erzählt die...

Sie sind jetzt seit 30 Jahren für das Programm Erasmus an der LMU zuständig. Wie hat damals alles angefangen? Jean Schleiss: Los ging es mit dem Beschluss 87/327/EWG des Rats der Europäischen Union am 15. Juni 1987. Zehn Tage später zum 1. Juli trat Erasmus in Kraft, das weiß ich noch genau. An der LMU waren damals alle etwas skeptisch, keiner wusste ganz genau, was das Programm eigentlich bringen soll. Weil die Antragsfristen auch so knapp waren, ist dann auch im ersten Jahr an der LMU nicht viel passiert. Ich war damals seit ‘83 an der LMU und alleine für den gesamten Outgoing-Bereich verantwortlich. Im gleichen Jahr, in dem Erasmus gestartet ist, bin ich in Elternzeit gegangen. Eigentlich wollte ich drei Jahre Elternzeit nehmen, aber nach einem Jahr hat mein damaliger Dezernatsleiter angerufen und gesagt: ‚Sie müssen zurückkommen, aus diesem Programm wird mal was ganz Großes.‘ Dieser Herausforderung konnte ich nicht widerstehen! In der Zwischenzeit war das Programm mit einer Handvoll sogenannter ICPs (Inter-universities Cooperation Programmes) gut angelaufen und ich habe eine Halbtagsstelle für die Erasmus-Koordination an der LMU übernommen. Damals war ich von dem restlichen International Office räumlich getrennt und hatte ein Büro im Zwischengeschoss des Hauptgebäudes mit Blick auf den Eulenhof – dort, wo heute ein Teil der Hausverwaltung sitzt.

Die Organisation von Erasmus war zu Beginn noch sternförmig und eher dezentralisiert: Es gab einen Koordinator an einer der Partnerfakultäten im ICP-Netzwerk, der die Hoheit über die Finanzen und die Verwaltung hatte. Dieser Koordinator war u.a. für die Verteilung der Zuschussmittel unter den Partneruniversitäten verantwortlich. Ich war an der LMU für den Aufbau neuer Strukturen für die Unterstützung der In- und Outgoing-Mobilität und die nicht-fachliche Koordination und Abwicklung zuständig. Es hat dann auch nicht lange gedauert, bis die Anzahl von Netzwerken mit Beteiligung der LMU wuchs. Einige der ersten Fakultäten waren die BWL und die Tiermedizin, es folgten die Juristen und die Ethnologen. Auch die Amerikanisten haben ein kleines Netzwerk aufgebaut. Obwohl das Erasmus-Programm heute ganz anders strukturiert ist, laufen die Partnerschaften mit den damaligen Netzwerkpartnern immer noch sehr gut.

Wie hat sich das Programm Erasmus im Laufe der Zeit entwickelt? Da gab es viele Veränderungen: Mitte der 90er Jahre wurde Erasmus zu einem Unterprogramm des neuen Dachprogramms „Sokrates“. In der Zeit vor dem Euro mussten wir unsere Zahlen für die Abschlussberichte sogar noch in den Vor-Euro-Kurs ECU umrechnen – das war jedes Mal aufs Neue kompliziert und eine schreckliche Rechnerei. Im Jahr 2003 wurde dann das Nachfolge-Dachprogramm „Lifelong-Learning“ ins Leben gerufen. Unter dem Dach des Programms für Lebenlanges Lernen gab es neben Erasmus drei weitere Säulen: Comenius (für die Schulbildung), Grundtvig (für die Erwachsenbildung) und das Praktikumsprogramm „Leonardo“ Diese drei Programmteile wurden damals nicht so direkt vom International Office betreut. In der zweiten Phase des LLP-Programms ist „Leonardo“ ins Programm Erasmus übergegangen. Seit 2014 wurde das LLP-Programm durch das Erasmus+ Programm ersetzt und nun sind alle bisher eigenständige Bildungsprogramme der EU unter einem Dach und werden von uns betreut.

Zusätzlich zur Dozentenmobilität konnten im Laufe der Jahre auch Verwaltungsmitarbeiter für eine Zeit ins Ausland gehen. Seit 2015 beteiligen wir uns an dem neuen Erasmus+ Programm für Partnerländer. Ganz neu genehmigt sind Projekte mit strategisch wichtigen Partneruniversitäten in Kanada, Australien, Vietnam, Äthiopien, Thailand und Israel. LMU-Studierende können zwar nicht ausgetauscht werden, dafür können wir aber Dozenten für einen Lehraufenthalt an die Partneruniversiäten schicken und wir empfangen an der LMU sowohl Studierende als auch Personal von den Partnerhochschulen. Erasmus ist inzwischen so gewachsen, dass wir heute fast 400 Partnerschaften mit Universitäten und Hochschulen in Europa haben.

Erinnern Sie sich noch, in welches Land Sie die ersten Studierenden der LMU geschickt haben? Die ersten Austauschländer waren Italien, Frankreich, Spanien, Großbritannien und Griechenland. Damals waren Studenten, die ins Ausland gegangen sind, noch richtige Exoten. Zu Beginn wurde nur eine Hand voll Studenten ausgetauscht – das ist natürlich kein Vergleich zu heutigen Dimensionen! Im 25. Jubiläumsjahr wurde eine LMU-Studentin zur 400.000. Erasmus-Studierenden Deutschlands gekürt! Dieses Jahr schicken wir rund 900 LMU-Studierende ins Ausland, außerdem 43 Dozenten und 35 Verwaltungsmitarbeiter. Die Zahlen sind zu unserer großen Freude seit Jahren steigend: Im Hochschuljahr 2002/03 haben wir ca. 320 Outgoings und ca. 280 Incomings verzeichnet, im Hochschuljahr 2011/12 waren es schon rund 670 Outgoings und ca. 520 Incomings und heute liegen die Zahlen wie gesagt noch höher. Nach der Umstellung auf Bachelor und Master gab es einen kleineren Einbruch, weil Verunsicherung bestand: Ich muss mein Bachelorabschluss spätestens in 6 Semestern in der Tasche haben - schaffe ich das überhaupt mit einem Auslandsstudium? Das hat sich aber zum Glück schnell wieder normalisiert.

Gibt es prägende Erfahrungen oder Ereignisse, die Sie besonders in Erinnerung behalten haben? Gerade am Anfang haben wir immer wieder Überraschungen erlebt, vor allem im Incoming-Bereich. Ich erinnere mich noch gut an eine Incoming-Studentin, die im Rollstuhl saß. Wir haben im Vorfeld nicht gewusst, dass sie eigentlich eine ständige Begleitung benötigt. Mein Instinkt hat mir damals gesagt, zum Flughafen zu fahren, um sie abzuholen. Das war auch gut so, denn sie kam mit sehr vielen Koffern an – ich weiß nicht, wie sie den Weg ins Wohnheim alleine geschafft hätte. Ich habe sie dann ins Wohnheim gebracht und für die ersten Tage mit Daunendecke, Kaffee und allem, was man so braucht, versorgt. Am nächsten Tag habe ich wie eine Wahnsinnige telefoniert, um eine Betreuung für die Studentin zu finden. Wir hatten Glück und haben einen sehr engagierten Rentner gefunden, der sie zur Uni und in die Vorlesungen gebracht hat. So eine intensive Betreuung wie damals leisten wir heute natürlich nicht mehr, aber das ist zum Glück auch nicht mehr nötig: Wir sind inzwischen gut vernetzt und kennen die zuständigen Stellen sehr gut, zum Beispiel beim Studentenwerk. Im Laufe der Zeit gab es dann auch an der LMU die ersten „Erasmus-Babys“ – ich weiß gar nicht, wie viele Kinder und Ehen aus Erasmus hervorgegangen sind. Ich freue mich sehr über diese Vernetzung, die Welt wächst immer enger zusammen.

Wovon, würden Sie sagen, profitieren Erasmus-Teilnehmer am meisten? Ich denke, die Studierenden lernen, toleranter und flexibler zu sein und gewinnen interkulturelle Sensibilität. Das kommt von ganz alleine. Ich staune immer noch oft über den Vorher-Nachher-Effekt: Wenn sie zurückkommen, haben sich viele Studierende massiv verändert. Auch negative Erfahrungen können ja schulen. Man ist vielleicht zum ersten Mal im Leben auf sich allein gestellt und muss lernen, selbstständig eine Lösung zu finden. Seit ein paar Jahren gibt es zur Vorbereitung auf den Erasmus-Aufenthalt auch ein interkulturelles Training. Wichtig finde ich auch die Nachbereitungstrainings für Rückkehrer aus dem Ausland: Darin lernen die Studenten, wie sie ihren Auslandsaufenthalt auch für ihre Zukunft nutzen können, beispielsweise durch die richtige Platzierung in Bewerbungen und Lebensläufen. Die Treffen dienen auch zum Austausch. Viele wollen von ihren Erfahrungen erzählen, aber bei Freunden und Familie schwindet das Interesse mit der Zeit.

Waren Sie selbst auch schon für eine Zeit im Ausland? Mein Studiengang – ich habe Sprachen in Glasgow studiert – war damals sehr fortschrittlich: Jeder Student musste für ein Jahr ins Ausland gehen. Ich habe als Fremdsprachenassistentin in einer französischen Vorschule gearbeitet und Zwei- bis Achtjährige in Englisch unterrichtet. Die Schule lag in der kleinen Stadt Rodez in der südlichen Auvergne. Außer mir gab es dort kaum Ausländer, ich war gezwungen, viel Französisch zu sprechen und die Dinge auf Französisch zu regeln. Nach einem kurzen Vorbereitungskurs mit anderen Fremdsprachenassistenten hieß es: Jetzt geht’s los, fahrt in eure Stadt! Ich bin mit einer kleinen Bimmelbahn hingefahren, musste mir erstmal ein Zimmer suchen und wurde zum Glück in einem „Foyer pour Jeunes Filles“ fündig, einer Art Wohnheim für junge Frauen, das von Klosterschwestern geführt wurde. Dieses Jahr hat mein Leben sehr geprägt. Ich kenne das Gefühl, neu in einer fremden Umgebung zu sein und habe Verständnis für die Situation der Outgoings und Incomings. Gerade im Umgang mit den Incomings dürfen wir nicht vergessen: Für sie passiert immer alles zum ersten Mal, auch wenn die Abläufe für uns jedes Jahr dieselben sind.

Wonach suchen Sie?