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Digitalisierung: „Wir holen auf“

22.03.2021

Über den „digitalen Zwerg Deutschland“, Unternehmen, die voranschreiten, und die Zukunft des Arbeitens: ein Interview mit LMU-Forscher Johann Kranz.

Grüne, gelbe und orangefarbene Kabel

© Jan Greune / LMU

Johann Kranz ist Leiter der Professur für Internet Business und Internet Services an der Fakultät für Betriebswirtschaft der LMU. Im Interview spricht der Ökonom über die Auswirkungen der Coronakrise auf die Digitalisierung von Unternehmen.

Was hat die Coronakrise über die Digitalisierung in Deutschland gezeigt?

Johann Kranz: Wir müssen sehr froh sein, dass wir heute vieles Alltägliche wie selbstverständlich mit digitalen Technologien machen können. Vor 20, 30 Jahren hätte eine solche Pandemie unser Leben noch viel mehr auf den Kopf gestellt.

Durch Corona ist jetzt auch vieles in Sachen Digitalisierung in Bewegung gekommen, was vorher nicht möglich war oder wofür die Dringlichkeit oft nicht gesehen wurde. Im letzten Jahr hat eine Art von „Zwangsdigitalisierung“, stattgefunden. Das wirft ein Schlaglicht darauf, wie wir in Deutschland mit Digitalisierung bislang umgegangen sind. In Zukunft können wir uns das nicht mehr leisten, weil andere Staaten viel schneller, konsequenter und pragmatischer voranschreiten. Egal, welches Ranking man sich anschaut, Deutschland liegt bei der Digitalisierung im internationalen Vergleich höchstens im Mittelfeld, vor allem in den Bereichen digitale Kompetenzen, Infrastrukturen und Verwaltung verlieren wir international den Anschluss.

Hat Corona generell einen Digitalisierungsschub ausgelöst oder gilt das vor allem bei den Kommunikationstechnologien?

Da muss man trennen. Im Bereich des Remote-Arbeitens, also des ortsungebundenen Arbeitens, wurde viel investiert, etwa in Kollaborationstools. Die Budgets musste man ja locker machen, sonst hätte man nicht mehr weiterarbeiten können.

In den produktionsnäheren Bereichen gab es eher einen kleinen Corona-Knick. Hier haben die Unternehmen ihre Budgets eher zusammengehalten. Das Industrie-4.0-Barometer, das wir jährlich erheben, zeigt, dass in den ersten Monaten der Pandemie ein Drittel der Unternehmen ihre Digitalisierungsprojekte stark zurückfahren mussten. Beim Großteil der Firmen hatte die Pandemie keinen großen Einfluss auf die Digitalisierungsbudgets. Etwa 20 Prozent der Unternehmen haben gegen den Trend sogar mehr in digitale Technologien investiert als zuvor.

Für einige Wirtschaftsbereiche war Corona wie eine Art Konjunkturprogramm, etwa in der Logistik, IT oder Pharmaindustrie und nicht zu vergessen der e-Commerce-Boom, der das Konsumverhalten noch mal massiv verändert hat. Verglichen mit dem Durchschnittsumsatz der Jahre 2015 bis 2019 ist der Umsatz in Deutschland alleine in 2020 um mehr als das Doppelte gestiegen. Die Schraube wird sich auch nicht mehr zurückdrehen.


Gibt es also eine Art digitale Spaltung in der deutschen Wirtschaft?

Die Daten legen nahe, dass es eine Zweiklassengesellschaft gibt. Der Unterschied in der Technologiereife zwischen den digitalen Vorreitern und den Nachzüglern liegt im Mittel bei 73 Prozent.

Aber der große Unterschied wurde meines Erachtens nicht durch Corona ausgelöst. Manche Unternehmen sind einfach gezwungen, stärker in Digitalisierung zu investieren, wenn zum Beispiel der Wettbewerbsdruck sehr hoch ist. In anderen Industrien kann man es sich dagegen noch immer erlauben, ein eher gemächlicheres Tempo anzuschlagen.

Aber erfreulicherweise erkennen immer mehr Unternehmen in Deutschland die Bedeutung von Software und schreiten bei der Digitalisierung voran. Sie bauen die nötigen Kompetenzen auf, machen Budgets locker und haben die authentische Unterstützung des Top-Managements. Ein gutes Beispiel ist Volkswagen, die sich zunehmend glaubhaft zum Technologiekonzern entwickeln wollen.


Wie sieht es bei der Abhängigkeit von Technologien aus dem Ausland aus?

Nachdem im digitalen Raum viele der dominanten Player vor Corona nicht aus Deutschland oder Europa kamen, hat sich das Ungleichgewicht durch die gestiegene Nutzung infolge von Corona noch einmal verstärkt. Das betrifft aber nicht nur Technologien aus den USA, oft gibt es chinesische Pendants, die inzwischen häufig noch innovativer sind.

Verglichen damit ist Deutschland ein „digitaler Zwerg“. Dafür gibt es diverse Gründe, unter anderem der zersplitterte Markt in Europa. Aber in den vergangenen Jahren hat sich wahnsinnig viel zum Besseren geändert. Schon allein, wenn ich mir das Münchner Start-up-Ökosystem anschaue. Oder auch, was wir als LMU mit dem Entrepreneurship Center und dem CDTM machen. Wir holen stark auf, wie zum Beispiel auch die drei Münchner Unicorns zeigen, also Start-Ups mit einer Unternehmensbewertung von über einer Milliarde US-Dollar, wie Celonis, Personio und Lilium. Aber es dauert einfach, bis man zu einem gewachsenen Ökosystem wie dem Silicon Valley in Sachen Ideen, Kapital und Talent aufschließt.


Wenn Sie etwas vorausblicken: Was wird sich durch Corona nachhaltig geändert haben?

Ich bin sehr gespannt, wie wir in Zukunft arbeiten werden. Natürlich müssen wir unterscheiden zwischen dem White- und dem Blue-Collar-Worker. Eine Fabrik lässt sich eben noch nicht im Homeoffice steuern. Aber im White-Collar-Bereich wird der Trend hin zu einer hybriden Arbeitswelt gehen. Interessant werden die verschiedenen Modelle und ihre Auswirkungen sein. Ich vermute allerdings, dass speziell in Deutschland viele Beschäftigte sicher gerne wieder ins Büro zurückkehren werden, wenn die Pandemie vorbei ist. Gerade in Deutschland sind wir noch sehr stark von einer Präsenzkultur geprägt und müssen erst lernen, flexibler zu arbeiten.

Was für Modelle entstehen gerade?

Bei innovativeren Unternehmen wandert womöglich die effizienzgetriebene Arbeit, also die Umsetzung festgelegter Aufgaben, komplett ins Homeoffice. Und wenn es um Effektivität geht, also darum, innovative Produkte und Ideen zu entwickeln und zu diskutieren oder die Roadmap der nächsten Wochen und Monate zu besprechen, trifft man sich. Im Zuge dessen haben im Münchner Raum Konzerne wie die Allianz oder Siemens, natürlich auch aus Kostengründen, angekündigt, ihre Büroflächen massiv zu reduzieren, und überlassen es den Mitarbeitern, wie viel sie vor Ort arbeiten wollen.

Ein paar Unternehmen treiben die Entwicklung auf die Spitze. Einige Firmen im Silicon Valley stellen es Mitarbeitern sogar ganz frei, von wo sie arbeiten und wo sie wohnen. So vergrößert sich der Talent-Pool global, und die Beschäftigten können ihren Lebensmittelpunkt frei wählen. Die kommen dann ein, zwei Mal im Jahr ins Headquarter, wenn überhaupt.


Prof. Dr. Johann Kranz

Kann das funktionieren?

Es gibt viele Herausforderungen, die dabei zu lösen sind, und es wird spannend sein zu beobachten, welche Tools diese Unternehmen dafür entwickeln: Das fängt bei IT-Security und Datenschutz an. Es geht weiter beim Wissensaustausch und dem Gedächtnis von Organisationen, das ja in den Köpfen der Menschen steckt und meist nur zu Bruchteilen dokumentiert ist.

Eine weitere Herausforderung ist das Onboarding von neuen Mitarbeitern. Es ist einfach schwierig, virtuell Teamgeist aufzubauen und neue Kollegen zu integrieren, die man nicht persönlich kennengelernt hat. Das kennt man aus der Forschung zu Outsourcing: Wenn sich die Partner regelmäßig treffen, läuft das Projekt besser. Man kann mit Menschen besser zusammenarbeiten, wenn man sie nicht nur über die Kachel-Darstellung in Zoom kennt. Videokonferenzen sind doch eher unpersönlich und steril und so gehen viele Facetten direkter Kommunikation verloren. Auch wir an der Uni leiden darunter, dass wir unsere Studierenden nicht mehr sehen und direkt mit ihnen diskutieren können. Die Dynamik im Hörsaal lässt sich online nicht ersetzen.


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