News

Eine Einheit von Leben und Werk

06.12.2023

LMU-Philosoph Thomas Meyer hat eine neue Biografie über Hannah Arendt geschrieben. Im Interview erklärt er, welchen Reiz ihr Denken auch heute noch hat. Aus dem Forschungsmagazin EINSICHTEN

EINSICHTEN: „Denkerin der Stunde“ – ein Etikett, das Hannah Arendt anhaftet. Was macht deren Hauptwerke, die ja aus den 50er- und 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts stammen, in den Augen vieler so „aktuell“?

Meyer: In der Tat, sie ist 1975 gestorben, vor nahezu 50 Jahren. Sie ist also in einer ganz anderen Welt geboren, sie ist von Emigrationserfahrung, vom Kalten Krieg geprägt. Um mit dem Offensichtlichsten anzufangen: Es ist zunächst einmal ihr direkter Ton. Es gibt keine wissenschaftliche Distanz in ihren Werken, die sie zwischen Leserinnen und ihrer Prosa einbaut. Sie ist unmittelbar zugänglich, sie hat einen sehr klaren Stil, den man oftmals als leicht bezeichnet oder essayistisch. Sie ist auf Widerspruch aus. Das mögen viele Menschen eher, als belehrt zu werden, was man oft der akademischen Prosa zuschreibt. Sie ist die erste, die 1951 unter dem Titel The Origins of Totalitarism nicht nur einen Erklärungsversuch des Nationalsozialismus anbietet, sondern ganz aktuell auch noch den Kommunismus/Bolschewismus einbezieht. Sie beleuchtet auch die Vorgeschichten dieser beiden Bewegungen, die Gewaltgeschichte des Kolonialismus bis hin zum modernen Antisemitismus.

Porträt Hannah Arendts in einer Ausstellung des Deutschen Historischen Museums

„Mein Thema heute ist, so fürchte ich, fast schon beschämend aktuell“, so beginnt Hannah Arendt eine ihrer Schriften. Sie gehe also, so sagt Biograf Thomas Meyer „anders als viele andere Denkerinnen und Denker das Risiko ein, fast auf den Tag hinzuschreiben“. Das Deutsche Historische Museum in Berlin widmete ihr 2020 die Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“.

© Jens Kalaene/picture alliance/dpa/dpa-Zentralbbild

Sie liefert also eine allererste Gesamtschau.

Meyer: Ja, und in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, wie das Buch dann vier Jahre später auf Deutsch heißt, verschärft sie sozusagen noch mal diesen Aktualitätsbezug, indem sie es nahezu bis hin zur Absetzung Stalins fortschreibt. Und der Band, Die Freiheit, frei zu sein, beginnt mit den Worten: ,Mein Thema heute ist, so fürchte ich, fast schon beschämend aktuell.‘ Sie geht also anders als viele andere Denkerinnen und Denker das Risiko ein, fast auf den Tag hinzuschreiben. Und gleichzeitig weist sie allgemeine Strukturen aus, die man glaubt, im Heute wiedererkennen zu können: die Krise der Demokratie, Aufstieg autoritärer totalitärer Systeme, Einschränkung von Freiheiten, die Flüchtlingsfrage. Alles das ist bei Hannah Arendt da.

Eine Aktualität im Sinne einer Problemlösung? Das bezweifle ich sehr.

Und es ist tatsächlich anschlussfähig? Also: Ist es aktuell?

Meyer: Da bin ich sehr vorsichtig. Ich versuche zu verstehen, wie Menschen in ihrer Zeit gedacht und gehandelt haben. Die Übertragbarkeit von Ideen aus der Vergangenheit auf unsere Gegenwart, die mögen uns helfen, uns zu orientieren. Aber dass sie eine Aktualität im Sinne einer Problemlösung bieten? Die bezweifle ich doch sehr.

Einsichten-Cover: Echt Jetzt - Künstlich, Natürlich: Die Grenzen verschwimmen

Echt jetzt

Lesen Sie mehr über die Grenze zwischen Künstlichem und Natürlichem in der aktuellen Ausgabe unseres Forschungsmagazins EINSICHTEN unter www.lmu.de/einsichten. | © LMU

In Hannah Arendts Biografie bündeln sich wichtige Linien der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Obendrein mit einer Lebensgeschichte, die die historischen Brüche ihrer Zeit tief geprägt haben. Macht einen Teil des Arendt-Booms aus, dass vielen ihre Arbeiten durch Arendts eigene Biographie, ihr eigenes Schicksal beglaubigt erscheinen?

Meyer: Ganz genau, das ist tatsächlich der Punkt, auf den alles sternförmig zuzulaufen scheint. Hier gibt es keine Diskrepanz wie bei vielen anderen, die alles getan haben, um ihre Biographie hinter ihrem Werk zu verstecken, oder die wir heute in erster Linie biografisch lesen, wobei dann das Werk nahezu dahinter verschwindet. Wie etwa bei Martin Heidegger. Sein, wie es gerne heißt, Engagement für den Nationalsozialismus ist ein prominenter Moment. Und dann wird sein Werk, das ja immerhin über 60 Jahre Schreibaktivität bedeutet, quasi um dieses Ereignis herum angeordnet. Im Falle Arendt ist es genau anders. Es scheint unmittelbar ein Korrespondieren von Leben und Werk zu geben, sodass dieses ,und‘ praktisch verschwindet und beides ineinander überzugehen scheint, mit all den Irrtümern, die sie begangen hat, wie man das heute sieht, mit allen Risiken. Hannah Arendt ist sozusagen ihr eigenes Werk in Praxis.

Welche Lebensstationen sind es denn, die ihre Erfahrung und ihr Engagement speisen?

Meyer: Sie studiert ab 1924 in Marburg bei Martin Heidegger, mit dem sie kurzzeitig auch eine Liebesbeziehung verbindet. Er gilt als der kommende Mann der deutschen Philosophie, alle wollen zu ihm. Und verstehen ihn nicht, aber er sei faszinierend, heißt es. Arendt verlässt ihn, geht 1927/28 nach Heidelberg zu Karl Jaspers, in dessen Selbstwahrnehmung und auch nach heutiger Lesart so etwas wie der Antipode Heideggers. Beide ringen um das, was man später Existenzphilosophie nennen wird, beide versuchen in den 1920er-Jahren die Philosophie neu zu begründen, wählen dazu radikale existenzialistische Ansätze.

Auch das nur eine Station.

Meyer: Ja, es folgt eine Politisierung: Nach der Promotion geht Hannah Arendt nach Frankfurt und lernt bei dem Soziologen Karl Mannheim und in seinem Umfeld ein völlig anderes Arbeiten kennen. Die Weimarer Republik endet um 1930. Inflation, Arbeitslosigkeit, Parlamentarismuskrise, Aufstieg der Nationalsozialisten. Hannah Arendt schlägt sich hier publizistisch und auch aktivistisch auf die einzige Seite, die ihr noch bleibt, da man ihr Deutschsein nicht mehr akzeptieren möchte: nämlich auf die jüdische Seite. Sie emigriert 1933 über Prag nach Genf und weiter nach Paris, wo ihr erster Ehemann Günter Stern, den wir heute als Günther Anders kennen, bereits auf sie wartet. Und dann stürzt sie sich in das, was sie ,soziale Arbeit‘ nennt: die Kinder- und Jugend-Alijah, die Verbringung von Kindern und Jugendlichen nach Palästina, um sie zu retten. Das macht sie bis Ende September 1939. Danach die Flucht aus zwei Lagern und die Emigration mit ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher über Lissabon 1941 nach New York.

Porträt Hannah Arendt

„Hannah Arendt war tatsächlich lange Zeit nahezu die einzige kanonisierte weibliche Intellektuelle, Philosophin, politische Theoretikerin. Sie hat den Nimbus, fast immer die erste gewesen zu sein“, sagt Biograf Thomas Meyer.

© picture-alliance / dpa

Arendt war Hochschullehrerin, Autorin und Journalistin, Rednerin im Nachkriegsamerika, umworbene Vorzeige-Intellektuelle dann auch später in Deutschland. Zieht das auch heute noch, weil es eine gewisse Sehnsucht nach Public Intellectuals gibt?

Meyer: Hannah Arendt war tatsächlich lange Zeit nahezu die einzige kanonisierte weibliche Intellektuelle, Philosophin, politische Theoretikerin. Sie hat den Nimbus, fast immer die erste gewesen zu sein. Außerdem war sie lange Zeit eine ,sozial freischwebende Intellektuelle‘. Sie bekam in den USA relativ schnell eine Professur angeboten und sagte Nein. Sie habe so viel zu erledigen, das nur außerhalb der Universität sagbar und machbar sei. Da war sie lange Zeit Role Model. Es gibt eine Stilisierung schon zu Lebzeiten durch Schülerinnen und Schüler, auch durch Freundinnen und Freunde, die ihr den Rang des Außergewöhnlichen zuschreiben. Die Schriftstellerin und Essayistin Susan Sontag indes gehörte zu den ersten, die Hannah Arendt scharf kritisierten, weil sie nie die Frauen gefördert hat. Also ambivalent mindestens, darum ja und nein.

Eine Art Gegenerzählung zur Erfolgsgeschichte der jüdischen Emanzipation

Sie schreiben im Vorwort, dass Sie sich ,dafür entschieden‘ haben ,einen Schritt zurückzutreten und Hannah Arendts Leben und Werk nahezu vollständig in ihrer Zeit darzustellen‘. Warum?

Meyer: Es kann gar nichts schaden, wenn man mal faktenbasiert über Hannah Arendt spricht. Ich meine damit ganz simple Dinge wie: Aus welcher Familie kommt sie? Welchen Background hat Hannah Arendt, welche Schulgeschichte? Gibt es wirklich in Marburg nur Martin Heidegger und den Theologen Rudolf Bultmann? Was tut sie eigentlich in Paris, wenn sie da so viele Jahre ist? Ich nenne Ihnen ein simples Beispiel, das mich immer verwundert hat. Es hieß immer: In Paris lernte Hannah Arendt Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus kennen. Klar, die saßen ja 24/7 in Cafés herum. Bei dem leisesten Antippen in den Archiven stellt sich heraus: Nein, alles nicht wahr, immer sehr schön ausgedacht. Hannah Arendt hat Camus erst in Amerika kennengelernt und dann nur noch einmal ganz kurz nach 1950 in Paris getroffen. Die Biografie stellt, wenn Sie so wollen, für künftige Interpretationen sehr viel Material zusammen. Also: Wie ist der Fluchtweg Hannah Arendts? Über Prag nach Genf ist keine normale Route. Wer hilft ihr? Wie sind die Anfänge in Paris, hat sie gleich einen Flüchtlingsstatus? Wie steigt sie dort in das Exilleben ein? Wie kommt sie in die jüdischen Organisationen? Was ist ihre Tätigkeit? Das sind keine Dinge, die irgendwie nebensächlich sind, sondern eigentlich für jede Biografie grundlegend.

Sie haben die Jahre in Paris und dann in den USA mit Leben und neuen Fakten befüllt. Sie beschreiben ja geradezu akribisch die Blasen, würde man heute wahrscheinlich sagen, in denen sich Hannah Arendt bewegt hat.

Meyer: Ich wollte auch Menschen ins Spiel bringen, die man entweder nicht kennt oder allenfalls ganz am Rande mit Hannah Arendt in Verbindung bringt – die aber gleichwohl über Jahre hinweg zentral für Hannah Arendts Wirken und Tun waren. Der Politikwissenschaftler und Publizist Waldemar Gurian etwa ist eine Person, über die es bis zum heutigen Tag exakt zwei Bücher gibt. Aber ohne den Austausch mit ihm hätten wir dieses monumentale Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bis zum heutigen Tag nicht vor uns liegen. Es ging mir also darum, die Szene mal ein bisschen anders zu auszuleuchten. Und dann sind es eben nicht Heinrich Blücher, die eng befreundete Schriftstellerin Mary McCarthy und die ewigen Happy Few, die da bei Martinis um Hannah Arendt herumstehen wie in dem Film von Margarete von Trotta.

Sie sprechen von einem ,monumentalen Werk‘ sicher nicht nur, weil es gut 1.000 Seiten hat. Womit war Hannah Arendt mit dem Buch ihrer Zeit voraus?

Meyer: Es sind wie schon gesagt der frühe Versuch der Gesamtschau – und das Crossover der Disziplinen. Sie geht einerseits als Historikerin vor und versucht mit der Geschichte des modernen Antisemitismus im 18. Jahrhundert eine Art Gegenerzählung zur Erfolgsgeschichte der jüdischen Emanzipation zu erzählen. Soziologisch fragt sie sich: Welche Schichten treffen da aufeinander? Die jüdische Welt wird Arendt zufolge früh aufgespalten in solche, die teilhaben können, weil sie in irgendeiner Weise Funktionen für die bürgerliche Gesellschaft haben, und alle anderen.

Der Beginn der Ausgrenzung.

Meyer: Ja, damit entsteht eine Pluralisierung von Judenheiten, nicht nur konfessionell, sondern auch in Einkommensschichten, in der Lebensführung, die es der bürgerlichen nichtjüdischen Gesellschaft auch ermöglicht, bestimmte Gruppen zu Freunden und andere zu Feinden zu erklären. Das radikalisiert sich. Dann kommt die politische Theoretikerin, die die Historikerin und die Soziologin braucht, um zu verstehen, wie die kapitalistische Welt in dieses Moment einbricht. Für Hannah Arendt sind Kapitalströme auch immer Gewaltströme. Kapitalströme brauchen immer mehr Platz, sie brauchen Expansion, sie müssen ständig neue Ressourcen entdecken. Es beginnt der Kolonialismus und mit ihm eine Geschichte der Gewalt, die sich verselbständigt – und fortlaufend steigert, bis hin zu den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten.

Ein solches Zusammenziehen von Stalinismus und Nationalsozialismus missachte den singulären Charakter der Judenvernichtung, lautet eine gängige Kritik.

Meyer: Das ist eine Figur, die vor allem später in der sogenannten Eichmann-Kontroverse mobilisiert wird. Ich bin da jedes Mal überrascht. Ich kann aus meinen Lektüren nur ableiten, dass sie die sogenannte Singularitätsthese, neben einigen anderen wie den Historikern Léon Poliakov und Raul Hilberg, überhaupt erst eingeführt hat. In dem berühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus 1964 hat sie ihr die kürzest mögliche Fassung gegeben. Sie sagt dort, es habe sich ein Abgrund aufgetan, über den wir alle nicht mehr hinwegkommen. Da ist etwas geschehen, wie sie sagt. Das Beunruhigende ist für sie, dass Menschen dazu in der Lage waren, das durchzuführen, worüber wir alle nicht mehr hinwegkommen werden. Das Böse zeige sich in seiner radikalen Leere, im reinen Vernichtungswillen. 1961 hat Hannah Arendt in Jerusalem den Prozess gegen den NS-Schreibtischtäter Adolf Eichmann begleitet – und in Zeitungsreportagen und dem Buch Eichmann in Jerusalem davon berichtet, wie er über seine Taten Zeugnis ablegen musste. In der Art und Weise, wie er dann über diesen Abgrund spricht – das ist dann mit dem berühmten und berüchtigten Wort die pure Gedankenlosigkeit.

Die ,Banalität des Bösen‘.

Meyer: Ja. Ich denke, dass Arendts Rolle in ihrem Schreiben über Eichmann vielleicht am besten mit dem schwierigen Wort der Tabubrecherin zu bezeichnen ist. Sie hat etwas öffentlich gemacht, und zwar durchaus verletzend. Keine zeitgenössische Kritik daran von jüdischer Seite würde ich auch nur in Ansätzen beiseite wischen wollen. Es muss schockartig für Überlebende der Lager und Angehörige der dort Ermordeten gewesen sein, diese Texte im New Yorker zwischen Reklame für Limonade und Reizwäsche lesen zu müssen. Wir heute haben einen Abstand dazu, das ist ein Vorteil. Wir können sehen, dass Hannah Arendt so ungeschminkt und so hart zu sich selbst und den anderen, die diesen Massenmord überlebt haben, sein wollte, wie sie glaubte, es aus der Kenntnis der historischen Zusammenhänge sein zu können.

Interview: Martin Thurau

Porträt Biograf Thomas Meyer

© Frank Rumpenhorst/picture alliance/dpa

Es ging mir darum, die Szene mal ein bisschen anders zu auszuleuchten“, sagt Prof. Dr. Thomas Meyer über sein neues Buch zu Hannah Arendt. Er lehrt Ideengeschichte und Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts an der LMU und hat mehrere Schriften Hannah Arendts ediert. Sein Buch Hannah Arendt. Die Biografie ist Ende September im Piper-Verlag, München, erschienen.

Lesen Sie weitere Beiträge von „EINSICHTEN. Das Forschungsmagazin“ im Online-Bereich und verpassen Sie keine Ausgabe, indem Sie den E-Paper-Alert aktivieren.
Oder abonnieren Sie die Printversion von EINSICHTEN kostenlos.

Wonach suchen Sie?