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„Einschneidende Maßnahme für die europäische Nachhaltigkeitspolitik“

24.09.2025

Die Europäische Kommission plant, ihr Regelwerk zur Nachhaltigkeitsstrategie aufzuweichen. LMU-Wirtschaftswissenschaftler Ali Gümüşay erklärt, welche Probleme er und andere Forschende darin sehen.

Angesichts der Klimakrise steht die Europäische Union – und die Welt – vor großen Herausforderungen. Um sie zu bewältigen, braucht es eine klare Gesetzgebung und einheitliche Regeln etwa für die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen. In den letzten Jahren hat die Europäische Kommission eine großangelegte Strategie entwickelt und in die Umsetzung gebracht, um ein einheitliches Regelwerk zu schaffen, an dem sich alle Akteure orientieren können.

Eigentlich galt dieser Prozess als abgeschlossen. Doch nun hat man in Brüssel die bereits verabschiedeten Gesetze infrage gestellt – zum Teil, bevor sie überhaupt in Kraft getreten sind. Mit dem sogenannten EU-Omnibus-Paket will man bereits festgelegte Vorgaben zur Nachhaltigkeitsberichterstattung neu verhandeln.

Warum rudert die EU nun plötzlich zurück?

Ali Aslan Gümüşay: Offiziell wird argumentiert, dass die gesamte EU-Nachhaltigkeitsstrategie einfach nicht effizient sei – zu komplex, zu herausfordernd und zu bürokratisch. Das müsse vereinfacht werden. Das zentrale Stichwort heißt Deregulierung. Doch das ist vermutlich nur die halbe Wahrheit. Ein zweiter Faktor ist sicher auch die veränderte politische Lage in Europa und der Welt. Nachhaltigkeit wird gerade nicht mehr überall großgeschrieben.

Prof. Ali Aslan Gümüşay

Wenn man regulatorische Maßnahmen in Sachen Nachhaltigkeit vereinfachen will, sollte das auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse erfolgen und Forschende verschiedener Disziplinen einbeziehen, meint Wirtschaftswissenschaftler Ali Aslan Gümüşay.

© LMU / Manu Theobald

Bürokratie abbauen klingt doch erst einmal positiv?

Grundsätzlich kann man Abläufe effizienter gestalten, das stimmt. Fragwürdig ist jedoch die Vorgehensweise: In eine jahrelang, in Zusammenarbeit mit verschiedenen Interessensgruppen und Fachleuten erarbeiteten Strategie grätscht die EU nun plötzlich rein. Wenn man sich Entbürokratisierung und Effizienzsteigerung auf die Fahnen schreibt, sollte dieser Prozess kein Schnellschuss sein, sondern vernünftig durchdacht – mit Beteiligung aller wichtigen Akteure, insbesondere der Wissenschaft.

Es spricht nichts dagegen, Regelwerke nach einigen Jahren zu überprüfen und anzupassen. Man hätte also zunächst Erfahrungen sammeln können, bevor man drastische Änderungen veranlasst. Einzelne unklare oder schwer messbare Faktoren zu korrigieren, ist natürlich sinnvoll – dafür gibt es etablierte Verfahren. Problematisch am Omnibus ist, dass er plötzlich und ohne klare wissenschaftliche oder strategische Grundlage kam.

Welche Probleme verursacht das plötzliche Umschwenken?

Das geplante Omnibus-Paket sieht grundlegende Einschnitte vor. Zum Beispiel sollen nur noch Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitenden zur Berichterstattung verpflichtet werden – bislang lag die verabschiedete Grenze bei 500 Mitarbeitenden. Außerdem will man viele Indikatoren streichen, ohne zuvor die Sinnhaftigkeit solcher Streichungen wissenschaftlich geprüft zu haben. Omnibus ist also eine einschneidende Maßnahme, bei der nicht klar ist, ob man durch die Vereinfachung Nachhaltigkeitspolitik verbessert oder verwässert.

Hinzu kommt, dass das neue Gesetzespaket Unsicherheiten schafft. Viele Unternehmen haben bereits Maßnahmen getroffen – Geld investiert, Personal eingestellt, Strukturen aufgebaut –, um den demnächst in Kraft tretenden Regularien gerecht zu werden. Und jetzt zieht die EU auf einmal in letzter Minute zurück. Unternehmen, die Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit sind, haben dadurch somit gar einen Wettbewerbsnachteil.

Was kritisieren Sie konkret?

Im Prinzip spricht nichts gegen Vereinfachung – es ist sinnvoll, überflüssige Indikatoren zu streichen. Aber die Ziele der Nachhaltigkeitsstrategie dürfen dadurch nicht gefährdet werden. Der Prozess sollte auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse erfolgen und Forschende verschiedener Disziplinen aktiv einbeziehen. Leider wurde das bisher kaum berücksichtigt: Man plant Indikatoren in großer Zahl und hohem Tempo zu streichen, ohne transparente Diskussionen oder fachliche Prüfung.

Es geht auch um Konsistenz: Zu viele verschiedene Regulierungen sind für Unternehmen und andere Akteure verwirrend. Ich plädiere wie viele Expertinnen und Experten aus meinem Feld dafür, einheitliche Regeln festzulegen – beispielsweise bei der Anzahl von Beschäftigten, dann sollte das für alle relevanten Richtlinien gleichermaßen zutreffen.

Prof. Ali Aslan Gümüşay

„Die EU hat mit dem sogenannten Brüssel-Effekt die Chance, globale Standards zu setzen“, sagt Gümüsay: „Wenn europäische Regeln klar und praktikabel sind, können internationale Akteure sich an dieser erfolgreichen Nachhaltigkeitspolitik orientieren.“

© LMU / Manu Theobald

Macht es nicht Sinn, kleinere Unternehmen zu entlasten?

Das Argument lautet oft, kleinere Unternehmen könnten die Berichterstattung nicht leisten und hätten überhaupt nur einen geringen Einfluss. Für einige kleinere Unternehmen bedeutet aber die Alternative, eine Vielfalt an unterschiedlichen Berichtsanforderungen von Unternehmen zu erfüllen, mit denen sie zusammenarbeiten.

Außerdem kann fehlende Berichtspflicht gerade in Lieferketten Schlupflöcher öffnen: Große Unternehmen könnten Verantwortung auf kleinere Zulieferer abwälzen. Die gewissenhaften Unternehmen würden sich dann schlecht vergleichbare eigene Standards setzen, während die schwarzen Schafe sich aus der Verantwortung ziehen. Einheitliche Regeln würden Transparenz schaffen und Vergleichbarkeit ermöglichen.

Klare Standards helfen auch bei der Durchsetzung bestehender Regeln. Ohne Reporting ist es schwer zu überprüfen, ob Unternehmen Menschenrechte oder Umweltstandards einhalten. Transparente Berichterstattung sorgt dafür, dass Verstöße erkannt und geahndet werden können – und Gutes gelobt und gefördert werden kann.

Hätten die Einschnitte auch Folgen für die Wissenschaft?

Für die Forschung bedeutet das Omnibus-Paket einen Verlust an auswertbaren Daten: Über 80 Prozent der Datenpunkte könnten wegfallen. Das würde wissenschaftliche Analysen erheblich erschweren. Kolleginnen und Kollegen von LMU und TUM untersuchen gerade, welche Folgen das hätte, und entwickeln Werkzeuge und Handreichungen, um auf diese Situation hinzuweisen.

Kann gute Nachhaltigkeitspolitik auch ein Vorteil für die Europäische Union sein?

Die EU hat mit dem sogenannten „Brüssel-Effekt“ die Chance, globale Standards zu setzen: Wenn europäische Regeln klar und praktikabel sind, können internationale Akteure sich an dieser erfolgreichen Nachhaltigkeitspolitik orientieren.

Ordentliche Berichterstattung verursacht zwar Aufwand und Kosten, sie schafft aber auch Wert. Für Finanzanalysen sind einheitliche Reports zum Beispiel ein Vorteil, weil sie teure individuelle Analysen ersetzen oder erleichtern. Auf Systemebene werden so Kosten reduziert und Effizienz geschaffen. Gleichzeitig ermöglicht Berichterstattung eine strategische Steuerung der Transformation, etwa bei öffentlichen Aufträgen: Staaten können mit einer klaren Regulatorik Nachhaltigkeitspraktiken gezielt fördern.

Nachhaltigkeitspolitik ist keine unnötige Bürokratie, die die Wirtschaft ausbremst. Richtig umgesetzt ist sie ein Hebel für strategische Positionierung, Wettbewerbsfähigkeit und Innovation.

Prof. Dr. Ali Aslan Gümüşay ist Professor für Innovation, Entrepreneurship & Nachhaltigkeit und forscht am Innovation & Entrepreneurship Center (IEC)der LMU. Seine Professur ist an der LMU Munich School of Management angesiedelt. Parallel dazu leitet er eine Forschungsgruppe am Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin.

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