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Erika Mann Lecture: Masterclass über das Ich im Text

15.06.2023

Essayistin Asal Dardan hält im Anschluss an die Erika Mann Lecture eine Meisterklasse für LMU-Studierende über das Ich in nichtfiktionalen Texten und gibt Impulse auch für das akademische Schreiben.

Die Essayistin Asal Dardan, deren 2021 erschienenes Debüt „Betrachtungen einer Barbarin“ für den Deutschen Sachbuchpreis und den Clemens-Brentano-Preis nominiert war, hielt in diesem Jahr die erste Erika Mann Lecture an der LMU. Dabei sprach sie über Erika Mann als Autorin und Denkerin, die mutig, kreativ und progressiv auf ihre Zeit blickte und als „militante Liberale“, wie Mann sich selbst beschrieb, eine klare Haltung einnahm. An diese Betrachtungen anschließend, hielt Asal Dardan in der Monacensia im Hildebrandhaus eine Masterclass für zwanzig Studierende der LMU – und ließ sich für das zweistündige Seminar vom Titel einer Textsammlung Erika Manns inspirieren: „Ausgerechnet ich“.

Ein Schatz aus dem Archiv der Monacensia

Essayistin Asal Dardan mit LMU-Studierenden

Essayistin Asal Dardan

Beim Schreiben, so Dardan, gehe es darum, das richtige Maß zwischen Nähe und Distanz des schreibenden Ichs nicht nur zu den Lesenden, sondern auch zum eigenen Sujet immer wieder neu auszutarieren. | © Stephan Höck / LMU

Bevor die Masterclass beginnt, dürfen die Studierenden eine Rarität bestaunen: Die Schülerfahrkarte Erika Manns, auf der die Fahrstrecke von der Wohnung in der Poschingerstraße zum Mädchengymnasium in der Stadtmitte rot markiert ist. Ein Schatz aus dem Archiv der Monacensia, den eine Mitarbeiterin mit weißen Handschuhen aus einer Schachtel nimmt und den Teilnehmenden zeigt.

„Ich kannte Erika Mann bis vor Kurzem noch nicht gut“, gesteht Asal Dardan zu Beginn der Masterclass. Bei der Vorbereitung auf die Lecture habe sie sich dann intensiv mit Manns Texten auseinandergesetzt. „Inzwischen ist sie mir sehr ans Herz gewachsen“, sagt Dardan. Erika Mann stehe für „ein Schreiben vom Ich aus, ein fühlendes, beobachtendes, ausdrucksstarkes Ich, das sich nicht zurückgenommen hat“. Trotzdem, sagt Dardan, „war sie keine Person, die viel von sich geschrieben hat – in ihren Texten finden wir ein lautes Ich, das aber nicht über sich selbst redet. Ihr ging es darum, dass andere sich in diesem Ich finden und spiegeln können.“

Wer ist das „Ich“ in nichtfiktionalen Texten? Diese Frage steht im Zentrum der Masterclass, und die Studierenden nähern sich ihr einen Vormittag lang aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und Interessen: Manche, wie Pauline, die derzeit Philosophie im Master studiert, oder Lehramtsstudent*in Chrissy, schreiben selbst Lyrik, Prosa oder andere Texte und möchten aus dem Kurs Erkenntnisse für ihr eigenes Schreiben gewinnen. Andere sind vor allem als Lesende gekommen und wollen ihr Verständnis für Literatur vertiefen oder sich für das Verfassen wissenschaftlicher Texte inspirieren lassen. All diese Fragen knüpfen an das an, was Asal Dardan mit den Studierenden erarbeiten möchte: Es geht ihr darum, das in nichtfiktionalen Texten auftretende Ich zu präzisieren. „Es gibt nämlich überall ein Ich“, sagt sie. „Selbst in Fachtexten, aber vor allem in dem Genre, in dem ich schreibe: dem Essay.“

Das Schreiben als „Akt, ich zu sagen“

Asal Dardan hat für die Masterclass drei Texte vorbereitet, anhand derer sie verschiedene Formen und Haltungen des Ich mit den Studierenden herausarbeiten will: Auszüge aus Joan Didions berühmtem Vortrag „Why I Write“, Siri Hustvedts „Das schreibende Selbst“ und Vivian Gornicks „The Situation and the Story – the Art of Personal Narrative“. Ein wichtiger Bezugspunkt ist immer wieder Erika Mann.

Die Studierenden bringen unterschiedliche kulturelle und wissenschaftliche Hintergründe mit, beziehen sich teilweise auch auf die Verwendung des Ich in verschiedenen Muttersprachen und führen bei der Analyse der Texte bald eine lebhafte, inspirierte Debatte. So diskutieren sie etwa mit Bezug auf Joan Didions Vortrag über das „Ich, ich, ich“, wie es in dem berühmten Text heißt, und das Schreiben als „Akt, ich zu sagen, sich anderen aufzudrängen, zu sagen: Hör mir zu, sieh es wie ich, ändere deine Haltung“.

Von der Situation zur Story

Bei der Lektüre von Siri Hustvedts Text nähern sich die Studierenden und die Dozentin gemeinsam der These an, ob das schreibende Ich immer in einem Kontext steht, sich in Relation stellt zu den Lesenden, sich dabei aber auch häufig in eine neue Beziehung zu sich selbst setzt. „Schreiben ist immer für jemanden“, wie Hustvedt es in ihrem Essay formuliert. „Es findet auf der Diskursfläche zwischen mir und dir statt.“ Zugleich aktiviere das Schreiben, so Hustvedt, „reflexives Selbstbewusstsein, die Erforschung des Selbst als ein anderer.“ So ist auch das Schreiben als Entdeckungs- und Verarbeitungsprozess persönlicher Gedanken und Erfahrungen ein Thema im Seminar: Wen spricht das schreibende Ich an? Was verrät das Ich in einem Text über sich selbst, bewusst oder unbewusst? Und wie wird aus einer erlebten Situation eine erzählbare Geschichte, eine Story?

Um diese Fragen geht es speziell in dem dritten Text von Vivian Gornick: Wie gelingt es dem Ich, das Rohmaterial der eigenen Erfahrung in eine Form zu bringen? Wie viel muss das schreibende Ich von sich verhüllen, wie viel preisgeben, wie viel persönliche Erfahrung ist zumutbar? Das Verhältnis zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren beschäftige auch sie selbst beim Schreiben immer wieder, erzählt Dardan: Es gehe darum, das richtige Maß zwischen Nähe und Distanz des schreibenden Ichs nicht nur zu den Lesenden, sondern auch zum eigenen Sujet immer wieder neu auszutarieren.

Diskussion über das hegemonial-normative „Wir“

Vivian Gornick schreibt, dass das Ich im Essay sich, anders als etwa im Roman, nicht verstecken könne hinter erfundenen Figuren mit verschiedenen Haltungen, es stehe für sich selbst ein.

Diesen Unterschied betont auch Asal Dardan: „Das ist die Schönheit der Literatur“, sagt sie, „dass man ein unzuverlässiges Ich haben kann, ein Ich, das lügt, gegenüber sich selbst oder anderen. Das Ich in nichtfiktionalen Texten muss zuverlässig sein.“ Erika Mann sei übrigens nicht immer ganz bei der Wahrheit geblieben: Gelegentlich habe sie fabelhafte Anekdoten erfunden, „sie hatte ein erzählerisches Talent“.

Die Studierenden diskutieren über Wahrheit und Wahrhaftigkeit und über Mechanismen des nichtfiktionalen Ichs, sich hinter einem „man“ zu verstecken oder ein allgemeiner gefasstes, manchmal hegemonial-normatives „Wir“ zu verwenden. Auch das müsse man beim Schreiben immer wieder ausloten, sagt Dardan: „Wie stehe ich zu diesem Wir? Wo finde ich mich da wieder? Womit mache ich mich gemein, wenn ich es verwende?“

Auch die Fluidität des Ichs interessiert die Studierenden, wie das Erzählte andere Formen annimmt und das Ich verschiedene soziale Rollen ausfüllt, je nachdem, in welcher Situation und gegenüber welcher Person das Ich spricht.

„Im akademischen Schreiben versuchen wir, das Ich zu vermeiden. Aber so vieles hängt damit zusammen; ich habe mir vorgenommen, darauf stärker zu achten“, sagt eine Studentin im Gymnasiallehramt Germanistik/Anglistik mit Erweiterung Philosophie/Ethik

in ihrem Fazit des Seminars. Eine andere Teilnehmerin fasst zusammen, sie fühle sich durch die Masterclass darin bestärkt, das wissenschaftliche Schreiben wieder mehr als Entdeckungsprozess zu begreifen. „Mich hat es beim akademischen Arbeiten oft blockiert, dass ich das Gefühl hatte, mir müsste so vieles schon klar sein. Unsere Diskussion hat mich ermutigt, auch Fragende sein zu dürfen.“

Asal Dardan beendet die Masterclass mit einem Verweis auf Ruth Klüger. Die Schriftstellerin habe als Lesende und Schreibende den Mut gehabt, leidenschaftlich für einen neuen Blick auf den literarischen Kanon zu streiten, indem sie sagte: Ich lese diese Texte, über die ihr euch alle einig seid, anders, als Frau, als Jüdin. „Sich den Raum zu nehmen, Ich zu sagen, ist auch ein emanzipatorischer Akt“, sagt Dardan.

Start der Erika Mann Lecture (Mai 2023): Vorlesungsreihe zu gesellschaftlich drängenden Fragen

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