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Erinnerung an Todesmärsche: „Unendlich war das Leid"

23.11.2022

Kurz vor Kriegsende trieb die SS rund 250.000 Häftlinge in sogenannten Todesmärschen zunächst ins KZ Dachau. Ein Leid, mit dem sich die beiden Jura-Studierenden und Brüder Aaron und Raphael Haas befassten – mit besonderem Blick auf den eigenen Heimatort.

„Die Arbeit von Aaron und Raphael Haas ist ein Glück für die Erinnerung in unserem Land. Sie ist Ausweis eines Geschichts-, Verantwortungs- und Selbst-Bewusstseins, wie es die Demokratie in unserem Land, wie wir es alle gerade in diesen unruhigen, beunruhigenden Zeiten dringend brauchen.“ Charlotte Knobloch, Holocaust-Überlebende und Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, schrieb das vor zwei Jahren in ihrem Geleitwort zu dem Buch der Haas-Brüder.

Sie recherchierten Verhörprotokolle und Entnazifizierungsunterlagen und führten Zeitzeugengespräche. Ihr Engagement hat auch mit dem Studium zu tun. „In den ersten Semestern beschäftigten wir uns auch mit der Verfassung,“ sagen die Bruder, „und wie das Grundgesetz durch die Schrecken des Nationalsozialismus entstanden ist. Das war der Grund, warum wir uns für das Thema interessiert haben. Doch die Hauptinitiative war, dass unser Dorf betroffen war, was wir anfangs noch nicht so wussten.“ .

Gewaltmärsche von Häftlingen aus Konzentrationslagern gab es kurz vor dem Kriegsende viele. In München und Umgebung erinnern mehrere Plastiken entlang der Route an den Marsch aus dem KZ Dachau in Richtung Süden.

© IMAGO Images/iblhap

In der Schule kein Thema

Tatsächlich waren die Ereignisse vom 6. und 7. April 1945 noch wenig aufgearbeitet. „Doch gerade das ist nach solchen Schreckenstaten wichtig, damit man daraus lernt“, betont Aaron Haas. In der Schule sei nichts erzählt worden, dort „hat man den Stoff einfach streng historisch durchgenommen, mit Entnazifizierung und solchen Themen, aber die ortsbezogene Geschichte und der Todesmarsch kamen nicht vor“. Der Lehrer habe einmal in einer Unterrichtsstunde ein Arbeitsblatt über Vernichtungslager verteilt und gemeint, „wem das zu schlimm ist, der soll jetzt rausgehen.“ Das, so Haas, sei die falsche Herangehensweise. Er und sein Bruder wollten es anders machen.

Eher zufällig hatten sie von ihrer Mutter, die damals noch nicht geboren war, von den Todesmärschen erfahren. Das war aber nur mittelbar, und „umso wichtiger war es für uns, hier im Ort Zeitzeugen ausfindig zu machen“. Zwölf fanden sie in ihrem Heimatort und in Ellwangen, außerdem befragten sie auch zwei KZ-Überlebende. Einige, sagt Raphael Haas, seien von sich aus auf sie zugekommen, nachdem die ersten Berichte auf einer Webseite erschienen waren. „Da hatten wir dann schon so viel Stoff, dass uns die Idee kam, ein Buch daraus zu machen.“

Zeitzeugen taten sich schwer, darüber zu berichten

Nicht immer ging es so glatt. „Wir sprachen auch mit Zeitzeugen, die sich richtig schwer damit taten, und da merkte man, dass es ein wirklich erschütterndes Ereignis in ihrem Leben war. Sie mussten erst eine Schwelle überschreiten, um darüber reden zu können.“ Dann aber seien sie erleichtert gewesen. Sie seien ja auch noch Kinder gewesen, als das passierte, und „die Vorfälle wurden in der Familie totgeschwiegen“.

In den besagten 24 Stunden des Jahres 1945 kamen allein in Neunheim 27 Häftlinge zu Tode. „Die meisten wurden erschlagen, das hat die Bevölkerung schon mitbekommen“, sagt Aaron Haas. Frauen aus dem Dorf mussten die Häftlinge versorgen. „Bei der Essensausgabe gab es Tumulte, da sind die Wächter mit ihren Knüppeln dazwischen und haben auf einzelne brutal eingeschlagen.“ Andere seien beim Laufen vor Schwäche zusammengebrochen, „sie wurden auf einen mitgeführten Leiterwagen geladen und mit den anderen im Steinbruch verscharrt“.

Trotz der scharfen Bewachung sei es einem KZ-Häftling gelungen, in ein Häuschen zu schleichen – „die Bewohner haben ihn versteckt“.

Ein Denkmal erinnert nun an die Todesmärsche

Wie die Neunheimer auf die Recherchen reagierten, schildern die Brüder Haas so: „Die Menschen unserer Generation sind alle erstaunt, weil sie das vorher nicht wussten.“ Und die Stadt? „Wir haben auch angeregt, dass die Stadt Ellwangen ein Denkmal in Auftrag gibt, das am Steinbruch in Neunheim errichtet werden soll. Die Stadt zeigte sich zunächst sehr widerwillig, wegen des Sinns und Zwecks, den Kosten. Zudem gab es unterschiedliche Vorstellungen über den Standort. Letztlich kommt nun doch ein Denkmal in den großen Steinbruch, in dem die Häftlinge verscharrt wurden.“

Die Recherchen der Brüder wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem 1. Preis des Wettbewerbs „DenkT@g 2018/19“ der Konrad-Adenauer-Stiftung und dem Landespreis für Heimatforschung Baden-Württemberg 2021.

In der KZ-Gedenkstätte Dachau fand dieser präzise Blick auf die lokale Vergangenheit ebenfalls Anerkennung. Daran sehe man, wie sehr sich die Ereignisse von damals bei den Menschen eingebrannt haben, sagte Dr. Jascha März, der Leiter der wissenschaftlichen Dokumentation. Charlotte Knobloch drückte es in ihrem Geleitwort so aus: Aaron und Raphael Haas „setzen den Opfern der Todesmärsche ein Denkmal und entreißen ihr Schicksal dem Vergessen“.

Aaron und Raphael Haas Todesmärsche 1945 – "unendlich war das Leid", 124 Seiten, Tredition 2020

Der Artikel ist der MUM, dem MünchnerUni Magazin entnommen: zur MUM

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