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„Es geht um Fragen von Macht und Teilhabe“

02.07.2021

LMU-Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky im Interview über die gesellschaftliche Sichtbarkeit der LGBTQ-Bewegung.

CSD-Parade vor der Siegessäule, Berlin, Regenbogenflagge

CSD-Parade in Berlin | © Omer Messinger/ZUMAPRESS.com/Picture Alliance

Professor Paula-Irene Villa Braslavsky ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie/Gender Studies an der LMU. Im Interview spricht sie über die Politisierung von Geschlechterfragen, die Symbolik der Regenbogenfarben und die Melancholie der LGBTQ-Bewegung über ihre verlorene Schrillheit.

Ein Gesetz in Ungarn, das homosexuelle Menschen diskriminiert. Ein tschechischer Staatspräsident, der Transgender-Menschen „widerlich“ nennt. Eine russische Gesellschaft, in der homophobe Übergriffe, auch der Sicherheitskräfte, an der Tagesordnung sind – gibt es für die weltweite queere Szene einen neuen Eisernen Vorhang?

Paula-Irene Villa Braslavsky: Ich würde das nicht nur als einen Ost-West-Gegensatz sehen. Es gibt einen immanenten Zusammenhang zwischen bestimmten Formen autoritärer, illiberaler, antipluralistischer Politik und einer starken, sehr problematischen Rückwärtsgewandtheit bei Queer-, Trans- und Geschlechterfragen. Wir sehen das in einigen Ländern Osteuropas, aber nicht nur dort. Es war auch zu beobachten unter Trump in den USA und ist es noch unter Bolsonaro in Brasilien oder in bestimmten asiatischen Ländern. Da werden Rechte beschnitten und Gruppen diffamiert. Es wird versucht, bestimmte Lebensweisen und Einstellungen zu diskreditieren, und Formen von Sexualität werden kriminalisiert.

Sind solche Phänomene auch Altlasten ehemals kollektivierter Gesellschaften, in denen es keine Feier der Individualität gab?

Villa Braslavsky: Das spielt sicherlich eine Rolle, ist aber nicht darauf beschränkt. Bestimmte antipluralistische Mobilisierungen in Westeuropa oder Nordamerika argumentieren vehement genau umgekehrt. Sie reden von Homo-Lobby und Brainwashing und geben dem das Framing, dass Queerness oder LGBTQ eine neue Form von totalitärer Ideologie seien. Aber tatsächlich gibt es auch umgekehrt die Erzählung, wonach das dekadente, westliche, ultrakapitalistische und globalisierte Erscheinungsformen seien. Es gibt also Projektionen in beide Richtungen. Aber es ist nicht verkehrt zu sagen, dass es eine autoritäre kollektivistische Tradition gibt, die sich sehr schwer tut mit liberalen Rechten, auch in Bezug auf Sexualität, Geschlecht und Partnerschaft.

Zum EM-Spiel Deutschland gegen Ungarn wollte der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter die Allianz Arena in den Regenbogenfarben leuchten lassen. Hat Sie dieser Vorschlag erstaunt?

Villa Braslavsky: Nein, das hat mich nicht überrascht. Das war eine Form von Symbolpolitik, und die würde ich nicht unterschätzen. Also: Kann man machen. Warum nicht? Dass die UEFA wiederum sagt, wir würden gern, aber wir können nicht, leuchtet mir auch ein. Deutlich gravierender finde ich in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass es in Deutschland keinen aktiven Profifußballer gibt, der sich geoutet hat. Das ist meines Erachtens kein Zufall.

Ist unsere Gesellschaft also gar nicht so offen? Wie vielfältig sind wir?

Villa Braslavsky: Vielfalt beschränkt sich nicht darauf, zu sagen: Es ist alles so schön bunt hier. Aber es geht auch nicht ohne das. Insofern würde ich sagen, wir sind als Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland sehr viel weiter, als wir es vor Jahren noch waren. Unser Selbstverständnis ist heute: Wir sind eine vielfältige, eine in sich heterogene, pluralistische Gesellschaft. Aber diese Unterschiedlichkeit, und dessen sind wir uns zunehmend bewusst, ist auch verbunden mit Fragen von Macht, Teilhabe, Ungleichheit, von Inklusion und Exklusion. Das ist ein wichtiges Thema in Bildung, Kultur und Politik und darf sich nicht auf reine Symbolik beschränken. Ansonsten könnte es zu einem Problem werden.

Was meinen Sie damit? Inwiefern könnte das zu einem Problem werden?

Villa Braslavsky: Themen wie Vielfalt, wie LGBTQ und ihre Symbolik sind zurzeit sehr marktgängig und werden von vielen Unternehmen mittlerweile zur Imagepflege genutzt. Das ist aber nicht das, was mit Diversity als kritischem Konzept gemeint ist, nämlich den Zusammenhang zwischen Vielfalt, unterschiedlichen sozialen Positionen und Fragen von Macht, Teilhabe, Ungleichheit und Diskriminierung aufzuzeigen. Da gibt es noch viel zu tun.

Hat sich die LGBTQ-Szene selbst verändert? Ist sie größer, lauter, selbstbewusster geworden?

Villa Braslavsky: Sie ist in sich vielfältiger geworden, es gibt ganz unterschiedliche Strömungen. Und es gibt auch Frustration über die Vermarktung, diese Einbettung in einen Mainstream, auch über die Verbürgerlichung, wie manche sagen würden.

Es gibt in dieser Szene einen wichtigen Strang der Kritik, der sagt: Das hat mit den ursprünglichen, historischen und nach wie vor wichtigen Kämpfen um Teilhabe, um ein Leben frei von Gewalt und um das Ende der Stigmatisierung nicht mehr viel zu tun. Dazu gehört auch die Kritik an einem Verlust von Lautstärke und Schrillheit, daran, dass die schrillen Paraden, die viele Menschen auch merkwürdig finden, dieses Exzessive, dieses Glittrige zum Teil zu einem Karnevalspektakel geworden sind. Das ist verbunden mit einer Melancholie darüber, dass man doch nie sein wollte wie die bürgerlichen heteronormalen Menschen, sondern angetreten war für eine Gesellschaft, die bunter, freier und entspannter ist.

Andererseits hat die Bewegung auch viel erreicht.

Villa Braslavsky: Ja, es gibt auch eine große Dankbarkeit für die Sichtbarkeit, die heute da ist, und eine Anerkennung der vorausgegangenen Kämpfe.

Die Themen haben sich auch etwas verändert. Es geht heute mehr um allgemeine Menschenrechte und auch die Verbindung mit Flucht und Migration, internationaler Solidarität, also weg von einer selbstgefälligen „Uns geht es gut hier“-Haltung. All diese Ausdifferenzierungen bedeuten aber auch, dass es Konflikte zwischen den Strömungen gibt um die richtigen Formen, um die richtigen Forderungen.

Auch in Deutschland gibt es noch Hassverbrechen gegen Menschen, die nicht der heterosexuellen Norm entsprechen.

Villa Braslavsky: Ja sicher, es gibt auch hierzulande Gewalterfahrungen, das ist gut belegt und gut erforscht. Auch bei uns ist das Aufwachsen als queerer Teenager alles andere als undramatisch, in der Familie, aber auch in Schule und Freizeit. Nach wie vor erleben Jugendliche und junge Erwachsene viel Angst, Beschämung und Unsicherheit, Mobbing und Gewalt im Alltag. Und das nicht nur auf dem Land oder in sehr katholischem Umfeld.

Verschwindet das allzu leicht hinter einer Regenbogen-Euphorie?

Villa Braslavsky: Ja, ich glaube, das marktkompatible, gefällige, symbolische Feiern der Regenbogenfarben verhindert mitunter, dass wir diese ernsten Seiten sehen. Andererseits würde ich die glitzrige, gefällige Sichtbarkeit der LBGTQ-Bewegung nicht nur geringschätzen. Es ist auch eine wichtige Form der Normalisierung und ermöglicht einen Zugang, der nicht gleich bedeutet: Das ist ein Problem, ein dramatisches Thema. Nein, er zeigt, was möglich ist.

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