„Freiheiten werden selten höflich errungen“
03.11.2025
Sozialtheoretische Vortragsreihe „Thinking Publics“: Interview mit Pierre-Héli Monot
03.11.2025
Sozialtheoretische Vortragsreihe „Thinking Publics“: Interview mit Pierre-Héli Monot
Professor Pierre-Héli Monot | © Stephan Höck / LMU
Wie funktioniert Öffentlichkeit im Zeitalter von Plattformen, Polarisierung und künstlicher Intelligenz? Die sozialtheoretische Vortragsreihe „Thinking Publics“, mitorganisiert von LMU-Amerikanist Professor Pierre-Héli Monot, geht den Chancen und Widersprüchen öffentlicher Debatten nach – und der Frage, ob Streit, Emotion und Irrationalität vielleicht unverzichtbare Bestandteile einer lebendigen Demokratie sind.
Was bedeutet „Thinking Publics“ konkret?
Pierre-Héli Monot: Im Titel unserer Vortragsreihe liegt eine gewisse Mehrdeutigkeit. Er kann bedeuten, dass wir über Publika, also Öffentlichkeiten, nachdenken – oder aber, dass wir sie selbst als denkende, handelnde Akteure begreifen. In beiden Fällen geht es darum, wie Menschen gemeinsam darüber nachdenken, wie eine gute Gesellschaft aussehen könnte oder was eine gerechte Norm ausmacht – als Thinking Public, rationale Öffentlichkeit.
Was ist Öffentlichkeit überhaupt – aus soziologischer Sicht?
Der Begriff der Öffentlichkeit ist einer der ehrwürdigsten und zugleich umstrittensten Begriffe in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Öffentlichkeit wird heute häufig daran gemessen, wie rational, fair oder inklusiv sie funktioniert. Gleichzeitig werden reale Öffentlichkeiten dafür kritisiert, zu polarisiert oder zu affektgeladen zu sein. In der Vortragsreihe interessiert uns, wie dieser zentrale Begriff der Moderne unter heutigen Bedingungen überhaupt noch funktionieren kann – und vielleicht auch, ob er das muss.
Eine ,gute' Öffentlichkeit darf auch eine ,schmutzige' sein – eine, in der Streit und Unvollkommenheit dazugehören. Rechte werden nicht höflich errungen, und Gerechtigkeit entsteht selten durch Konsens.Pierre-Héli Monot
Wie hat sich der Begriff historisch verändert?
Der Begriff der Öffentlichkeit ist schon seit seiner einflussreichsten theoretischen Formulierung durch Jürgen Habermas in den 1960er-Jahren von Kritik begleitet: Die Öffentlichkeit war immer ein Raum rationaler Debatte und zugleich von Ausschluss und ideologischen Verformungen. Gerade in den vergangenen 20 Jahren hat sich die Öffentlichkeit abermals massiv verändert. Das Internet hat neue Räume geschaffen, in denen sich Menschen äußern und vernetzen können – aber auch neue Abgründe geöffnet.
Gleichzeitig scheint auch die akademische Debatte darüber manchmal in eine Dauer-Polonaise von Begriffen zu geraten – Wahrheit, Meinung, Fakt, Affekte, Fake News –, die sich endlos im Kreis drehen. Künstliche Intelligenz bringt eine weitere, noch unübersichtliche Ebene hinzu, die erneut eine unüberschaubare Zahl an Kommentaren hervorgerufen hat.
Sie organisieren die Vortragsreihe im Rahmen des ERC-Projekts „The Arts of Autonomy“. Worum geht es darin?
Wir befassen uns mit der Geschichte der Öffentlichkeit – und besonders ihren polemischen, oft unbequemen Seiten. Schon seit dem 16. Jahrhundert war politische Literatur voller Streit, Drohungen und persönlicher Angriffe. Diese Formen galten oft als unschön, erfüllen aber eine wichtige Funktion: Sie verhindern, dass Öffentlichkeit zu glatt, zu harmonisch oder zu elitär wird. Unser Projekt zeigt, dass auch scharfe, polemische Redeweisen eine essenzielle Rolle spielen.
Worüber sprechen die Vortragenden der „Thinking Publics“-Reihe konkret?
Fran Osrecki, Professor für Allgemeine Soziologie an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, spricht über die Rolle von Laien in öffentlichen Debatten. Denn in der Demokratie ist der Nicht-Experte die Normalfigur: Wir alle sind dazu aufgerufen, über Dinge zu urteilen, die wir nur teilweise verstehen – etwa an der Wahlurne. Dr. Teresa Griebau von der Universität Oldenburg untersucht in ihrem Vortrag die neuen Kommunikationsformen, die Plattformen und soziale Medien hervorgebracht haben – und wie sie zugleich Freiheit und Kontrolle verändern.
Dr. Nils C. Kumkar, Soziologe an der Universität Bremen, spricht darüber, dass Polarisierung vielleicht nicht unbedingt ein Defizit, sondern ein notwendiges Merkmal ausdifferenzierter Gesellschaften ist. Und schließlich untersucht Dr. Carolin Amlinger, Literaturwissenschaftlerin und Soziologin an der Universität Basel, wie sich extreme Bewegungen sprachlich und ästhetisch in der Öffentlichkeit positionieren – und was das über unsere eigene demokratische Kultur aussagt.
Was ist Ihre eigene Perspektive auf das Thema?
Ich finde es wichtig, Debatten über Debatten zu führen. Dabei soll Öffentlichkeit nicht als Ideal, sondern als soziale Realität betrachtet werden. Sie war immer ein Ort begrenzter Rationalität – und das ist vielleicht gar nicht schlecht. Vielleicht sollten wir uns weniger darum sorgen, ob Debatten kompetent geführt werden, sondern mehr darum, welche Inhalte wir überhaupt noch miteinander verhandeln. Eine „gute“ Öffentlichkeit darf auch eine „schmutzige“ sein – eine, in der Streit und Unvollkommenheit dazugehören. Rechte werden nicht höflich errungen, und Gerechtigkeit entsteht selten durch Konsens.
Vortragsreihe „Thinking Publics“
Die öffentliche Vortragsreihe „Thinking Publics“ an der LMU wendet sich ausdrücklich auch an fachfremde Besucherinnen und Besucher.
Am 4. November, 18.15 Uhr, spricht Fran Osrecki zum Thema „Idealisierte Öffentlichkeiten: Eine Wissenssoziologie der Laien“ (Hörsaal A 022, Geschwister-Scholl-Platz 1).
Am 9. Dezember, 18.15 Uhr, hält Teresa Griebau einen Vortrag über „Digitalisierte Öffentlichkeiten: Zwischen Enthemmung und Zensur“ (Hörsaal A 022, Geschwister-Scholl-Platz 1).
Am 14. Januar, 19 Uhr, widmet sich Nils C. Kumkar dem Thema „Polarisierung und die Selbstbeobachtung demokratisierter Öffentlichkeit“ (Glockenbachwerkstatt, Blumenstr. 7, München).
Carolin Amlinger hält am 3. Februar um 18.15 Uhr den Vortrag „Zum Stil autoritärer Agitation“ (Hörsaal A 022, Geschwister-Scholl-Platz 1).
Eine Anmeldung ist nicht nötig.