Goethes Briefe: „Dieses Kollektivwesen, das den Namen Goethe trägt“
09.07.2025
Goethes Briefe sind ein bedeutender Teil seines Werks. Interview mit Literaturwissenschaftler Frieder von Ammon über Goethes Austausch mit der Welt und seine intimsten Liebeszeilen.
Professor Frieder von Ammon, Inhaber eines Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der LMU, ist einer der Hauptherausgeber der historisch-kritischen Edition der Briefe Goethes. Vor Kurzem ist ein neuer Band erschienen.
Goethe ist in jeder Hinsicht ein außergewöhnlicher Briefschreiber.
Frieder von Ammon, Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Literatur des 20. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne
Von Goethe sind mehr als 15.000 Briefe überliefert. Ist diese Fülle eine Ausnahme oder gibt es mehrere Autorinnen und Autoren, deren Korrespondenz in einem solchen Ausmaß erhalten ist?
Frieder von Ammon: Goethe ist in jeder Hinsicht ein außergewöhnlicher Briefschreiber. Da ist einmal die riesige Zahl der überlieferten Briefe von ihm, die an eine ebenfalls riesige Zahl an Empfängerinnen und Empfängern gerichtet sind, rund 1.400 Menschen. Noch größer ist aber die Zahl der Briefe an ihn: Das sind mehr als 20.000 Briefe von ca. 3.500 Personen. Alle Welt wendet sich an ihn, und in vielen Fällen antwortet er.
Doch die Fülle ist nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative: Vielfältig ist Goethes Briefwerk vor allem auch im Hinblick auf die in ihm behandelten Themen und ihre sprachliche Gestaltung, die unendlich reichhaltig ist. Welche Ausdrucksmöglichkeiten die deutsche Sprache um 1800 hatte, kann man Goethes Briefen entnehmen.
Dieses Korpus an Briefen ist ein ganzer Kosmos, und wer sich in ihn hineinbegibt, gewinnt ein umfassenderes Goethe-Bild, als wenn er oder sie nur Goethes literarisches Werk läse.
Frieder von Ammon, Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Literatur des 20. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne
Vom intimsten Liebesbrief bis zum amtlichen Schreiben
Worum geht es in den Briefen?
Das Spektrum ist unglaublich breit: Es reicht vom intimsten Liebesbrief, in dem Goethe sich als Person vollkommen ungeschützt präsentiert, bis zu amtlichen Schreiben aus seinem Berufsalltag, in denen er hinter dem Panzer der Satzstrukturen als Person geradezu verschwindet. Es geht in den Briefen, natürlich, um Literatur, aber auch um Wissenschaft, bildende Kunst, Musik, Zeitgeschichte, und nicht zuletzt um ganz praktische Alltagsdinge wie Bestellungen von Büchern, Wein und Würsten. Es gibt ebenso zärtliche Ehebriefe wie hoch diplomatische Briefwechsel mit Fürsten sowie ausgefeilte Korrespondenzen mit Wissenschaftlern, Autorenkollegen, Komponisten und Künstlern.
Dieses Korpus an Briefen ist ein ganzer Kosmos, und wer sich in ihn hineinbegibt, gewinnt ein umfassenderes Goethe-Bild, als wenn er oder sie nur Goethes literarisches Werk läse. Nicht weniger reizvoll und ergiebig ist es aber, die Perspektive umzukehren: Dann bekommt man einen großen Teil der europäischen Geisteswelt in den sieben so spannungsvollen wie folgenreichen Jahrzehnten zwischen den 1760er- und 1830er-Jahren in den Blick. Insofern sind Goethes Briefe auch eine kulturgeschichtliche Quelle ersten Ranges.
Goethe hat seinen Nachlass selbst gut vorbereitet. Hat er sich nicht geschützt und die ganz persönlichen Briefe zurückgehalten?
Es gibt Fälle, wo er Briefe vernichtet hat, weil er nicht wollte, dass sie an die Nachwelt überliefert werden, so etwa 1770 vor seiner Abreise nach Straßburg. Goethe hat früh damit begonnen, sich selbst als eine historische Figur zu betrachten. Insofern wurde ihm auch der Wert seiner Briefe als historische Dokumente frühzeitig bewusst. Deswegen hat er selbst begonnen, sie zu archivieren und zu systematisieren, auch für die Wiederverwendung, etwa bei der Arbeit an seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit.
Für die Forschung ist das ein Glücksfall. Normalerweise geht ja sehr viel verloren. Bei ihm war das anders, was auch mit seiner herausgehobenen Position in Weimar zu tun hatte. Er hatte Schreiber, einen Sekretär, das war einer Kanzlei vergleichbar, in der professionell Briefe verfasst, verschickt und eben auch archiviert worden sind. Teilweise haben auch Mitglieder seiner Familie mitgeholfen, vor allem sein Sohn August.
Goethe wurde schon als sehr junger Mann zum Wortführer seiner Generation und hat die deutsche Literatur seitdem in vieler Hinsicht geprägt.
Frieder von Ammon, Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Literatur des 20. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne
Wie alt war Goethe damals, als er anfing, sich selbst als historische Figur wahrzunehmen?
Das setzte schon früh ein. Er war ja aber auch der berühmteste Dichter in deutscher Sprache – so wurde er schon sehr früh wahrgenommen. Als der Werther zum Welterfolg wurde, war Goethe 25 Jahre alt. Er wurde also schon als sehr junger Mann zum Wortführer seiner Generation und hat die deutsche Literatur seitdem in vieler Hinsicht geprägt. Da geht es dann natürlich schneller, dass ein Autor sich bewusst wird, dass alles, was er schreibt, für die Nachwelt einmal relevant sein wird. Ein sehr starkes Selbstbewusstsein, das er schon als Kind hatte, kam hinzu.
Und auch ein gewisses Maß der Selbstinszenierung, das er durch seine Briefe zum Ausdruck gebracht hat?
Auf jeden Fall. Das Interessante daran ist aber, dass die Selbststilisierungen sehr vielfältig sind. Wenn man die Briefe chronologisch liest, hat man den Eindruck, es begegneten einem ganz verschiedene Menschen. Das hat auch damit zu tun, dass Goethe sich auch auf die Empfängerinnen und Empfänger seiner Briefe oft stark einlässt, weil er den Brief als Gespräch mit einem imaginierten Gegenüber versteht.
Goethes Briefe sind selbst dann, wenn es amtliche Schreiben sind, häufig so gut formuliert, dass die Übergänge zwischen einem Brief als Gebrauchstext und einem literarischen Artefakt fließend werden.
Frieder von Ammon, Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Literatur des 20. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne
Was wäre, wenn es seine Briefe nicht gäbe?
Goethes literarisches Werk ist groß und bedeutend genug, das reicht schon aus, um Klassiker zu werden und zu bleiben. Den Briefen kann man aber oft ebenfalls Werkcharakter zubilligen, etwa seinem Briefwechsel mit Schiller, den er ja zu Lebzeiten selbst herausgegeben hat. Goethes Briefe sind selbst dann, wenn es amtliche Schreiben sind, häufig so gut formuliert, dass die Übergänge zwischen einem Brief als Gebrauchstext und einem literarischen Artefakt fließend werden.
Insofern fehlte, wenn die Briefe nicht überliefert wären, neben allen biographischen und sonstigen Informationen eben auch ein gewichtiger Teil seines Werks. Es wäre eine äußerst schmerzliche Lücke.
Unendliche Variationen über: „Ich liebe dich. Ich brauche dich. Ich will dir nahe sein.“
Ich lerne zum Beispiel Möglichkeiten, Liebe zu kommunizieren. Die letzten Bände, die erschienen sind, stammen aus der Hochphase seiner Liebesbeziehung zu Charlotte von Stein. Drei Viertel aller Briefe, es sind mehr als 700 aus dieser Zeit, sind an sie gerichtet. Sie haben die unterschiedlichsten Formate. Es sind oft nur kleine Nachrichten, nur zwei, drei Zeilen, die ein Bote übermittelt hat, manchmal zusammen mit Erdbeeren oder Blumen, auch ein gerade entstandenes Gedicht kann ihnen beiliegen.
Es sind unendliche Variationen über: „Ich liebe dich. Ich brauche dich. Ich will dir nahe sein.“ Das sind emotionale Erfahrungen, die alle Menschen machen. Aber die wenigsten haben die Möglichkeit, ihnen derart abwechslungsreich Ausdruck zu verleihen. Da kann man sich einiges abschauen.
Ein Brief Goethes an Charlotte von Stein
Transkription: Ich musste fort aber du sollst doch noch eine gute Nacht haben. Du Einzige die ich so lieben kann ohne dass mich’s plagt – Und doch leb ich immer halb in Furcht – Nun mag’s. All mein Vertrauen hast du, und sollst so Gott will auch nach und nach all meine Vertraulichkeit haben. O hätte meine Schwester einen Bruder irgend wie ich an dir eine Schwester habe.
Denck an mich und drück deine Hand an die Lippen, denn du wirst Gusteln seine Ungezogenheiten nicht abgewöhnen, die werden nur mit seiner Unruhe und Liebe im Grab enden. Gute Nacht. Ich habe nun wieder auf der ganzen Redoute nur deine Augen gesehn – Und da ist mir die Mücke um’s Licht eingefallen. Ade! Wunderbaar gehts in mir seit dem gestrigen lesen Morgen zu Pferd Febr d 23 Nachts halb 1 Uhr
Er hat also auch spontan geschrieben. Nicht nur mit Blick auf die Nachwelt diktiert?
Das sind unterschiedliche Phasen. Der junge Goethe hat sicher noch nicht immer an die Nachwelt gedacht. Fast immer, so kommt es mir vor, tut es aber der Goethe nach seiner Italienreise, also in der Phase des Weimarer Klassizismus. In dieser Zeit arbeitet er eng mit Schiller zusammen und die beiden schreiben sich fast täglich Briefe, obwohl sie nach Schillers Umzug dorthin in Weimar Nachbarn sind. Für den alten Goethe ist die eigene Historizität dann selbstverständlich geworden.
Was sagen denn die Briefe über seinen Blick auf sein eigenes Schreiben aus?
Sein Schreiben spielt eine große Rolle in den Briefen. Wenn er zum Beispiel mit Schiller korrespondiert, lernt man einen Autor kennen, der kalkulierend am Werk ist und sich über seine poetologischen Prämissen und deren theoretische Grundlagen Klarheit verschaffen möchte. Aber wenn er als junger Mann eruptiv aus dem Erleben heraus schreibt, dann ist das von einer solchen rationalen Kontrolle über das eigene Schreiben weit entfernt. In den Briefen begegnen uns also viele verschiedene schreibende Goethes – was auch damit zu tun hat, dass er ja sehr alt geworden ist und bis kurz vor seinem Tod Briefe geschrieben hat. Der letzte Brief, an Wilhelm von Humboldt, ein bewegendes Dokument, entstand fünf Tage vor seinem Tod.
Goethe korrespondiert mit Gelehrten in ganz Europa.
Frieder von Ammon, Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Literatur des 20. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne
Er hat sich ja auch nicht nur dem Schreiben gewidmet.
Nein. Seine Forschungen auf verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten spielen über weite Strecken sogar die dominierende Rolle, so auch in den Briefen. Er korrespondiert mit Gelehrten in ganz Europa. Ganz zentral ist das Thema Farbenlehre. Es geht aber auch häufig um seine Sammlungen, von Mineralien zum Beispiel, oder um Hof-, Theater- und Universitätsangelegenheiten.
Tauscht er sich auch, wenn er gerade an einem Werk arbeitet, darüber aus?
Das ist manchmal so und ganz stark im Briefwechsel mit Schiller. Auf dessen Rat hört er, dessen Kritik nimmt er auch an. Aber das ist eher die Ausnahme, weil er wenige Menschen so nahe an sich heranlässt und mit wenigen so auf Augenhöhe kommuniziert.
Lässt sich an den Briefen erkennen, ob dieser Austausch für sein Schreiben wichtig war?
Ja, unbedingt. Das ist ganz eindeutig so. Ohne den Briefwechsel mit Schiller und auch ohne den mit dem Komponisten Carl Friedrich Zelter, der nach Schillers Tod zu einem seiner wichtigsten Korrespondenzpartner wurde, hätte sich manches in Goethes Werk wahrscheinlich in eine andere Richtung entwickelt. Schiller ist zum Beispiel derjenige, der Goethe immer wieder daran erinnert, weiter an Faust zu arbeiten – „Sie wollten sich doch Faust wieder vornehmen…“, „Vergessen Sie nicht den Faust“ –, weil er erkannt hat, dass da ein großes Werk im Entstehen begriffen ist.
Es war Goethe selbst bewusst, dass ein ganzes Kollektiv von Menschen zu seinem Werk beigetragen hat.
Frieder von Ammon, Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Literatur des 20. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne
Wenn die Briefe und damit das soziale Umfeld für Goethes Werk so wichtig waren: Relativiert das dann die Vorstellung vom singulären Genie?
Ja. Es gibt eine berühmte Stelle, da sagt der alte Goethe (im Original auf Französisch): „Was habe ich denn gemacht? […] Mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens, und dies Werk trägt den Namen Goethe.“ Es war ihm also selbst bewusst, dass ein ganzes Kollektiv von Menschen zu seinem Werk beigetragen hat.
Das ist eine Konzeption von Autorschaft, die dem Geniekult, dem er als junger Mann angehangen hat – und er galt ja lange als das literarische Genie schlechthin in der deutschen Literatur –, diametral entgegengesetzt ist. Der Beitrag des Kollektivs wurde zu einem nicht geringen Teil in Form von Briefen geleistet. Anhand der Briefe von und an ihn kann man dieses Kollektivwesen, das den Namen Goethe trägt, also zumindest ansatzweise zu fassen kriegen.
Historisch-kritische Ausgabe der Briefe Goethes:
Als einer der Hauptherausgeber der historisch-kritischen Edition der Briefe Goethes arbeitet Professor Frieder von Ammon mit einem Team am Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar zusammen, „einem Team hoch qualifizierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler“, wie von Ammon betont. Die historisch-kritische Ausgabe der Goethe-Briefe ist Teil des Projekts Propyläen. Goethes Biographica, in dessen Rahmen alle biographischen Quellen Goethes, mit einem ausführlichen wissenschaftlichen Kommentar versehen, sowohl gedruckt als auch digital veröffentlicht werden. Neben den Tagebüchern und Briefen von und an Goethe gehören dazu auch seine Begegnungen und Gespräche. „Das wird, sobald es abgeschlossen ist, eines der ergiebigsten Recherchetools nicht nur zu Goethe, sondern für die ganze ‚Goethe-Zeit‘ sein“, sagt Frieder von Ammon.
Der jüngste Band der auf 38 Bände angelegten Briefedition enthält Briefe mit Kommentaren aus den Jahren 1782 bis 1784. „Es ist die Phase, in der Goethe in Weimar mehr und mehr als Politiker involviert wird, was ihm gar nicht immer recht ist. Seine verschiedenen Tätigkeiten haben mit Literatur oft sehr wenig zu tun. Man merkt, dass er Mühe hat, eine Balance zu finden zwischen seiner Rolle als Autor und als Politiker. Für diese Balance ist die Beziehung zu Charlotte von Stein von größter Bedeutung“, sagt Frieder von Ammon.