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Grenzen überwinden

06.12.2016

Die Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci untersucht, wie Migration die Kunst beeinflusst und welche Bedeutung die künstlerische Perspektive für die gesellschaftliche Wahrnehmung von Fluchtbewegungen hat.

„Die Rolle, die Du zur Zeit spielst, ist die schwierigste, aber auch großartigste, die Dir das Leben bieten konnte – vergiß das nicht – Max Beckmann – und gerade so, wie sie ist“, notierte der Maler am 18. Dezember 1940 im niederländischen Exil in sein Tagebuch. In Deutschland von den Nationalsozialsten als „entarteter Künstler“ diffamiert, lebte und arbeitete Beckmann zehn Jahre in Holland, bevor er nach New York emigrierte.

Wie Max Beckmann mussten in den 30er- und 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts hunderttausende von Menschen Deutschland verlassen, darunter viele Künstler, und sich auf die Gegebenheiten eines neuen Landes einstellen. „Wenn man sich als Kunstwissenschaftler damit beschäftigt, wie schwer es für sie war anzukommen und künstlerisch weitarbeiten zu können, sieht man, vor welchen Herausforderungen Menschen stehen, die heute auf der Flucht sind“, sagt Burcu Dogramaci. Max Beckmann gelang es, im Exil ein reiches Werk zu schaffen, doch manch andere Künstler konnten das nicht, selbst wenn sie vor ihrer erzwungenen Emigration erfolgreich waren. „Migration ist für Kunstschaffende nicht nur inspirierend. Es kann ein Schock sein, in neuen Kontexten arbeiten zu müssen. Exil- und Migrationsgeschichte ist immer eine Geschichte der Brüche und auch des Scheiterns.“

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PfE0135-ES-080109 Picknickpark Rostrogordo, spanisch-marokkanische Grenze, Melilla 2009: Melilla, eine von Spanien 1497 eroberte Stadt an der Mittelmeerküste Marokkos, wird, wie auch die Stadt Ceuta, seit 1956 von Marokko beansprucht und verfügt seit 1995 als spanische Exklave über ein Autonomiestatut. Zum Schutz vor undokumentierter Einwanderung wird ab 1999 mit Unterstützung der Europäischen Union um die Stadt eine 11 Kilometer lange Grenzanlage mit drei bis zu sechs Meter hohen Zäunen, sogenannten Stacheldrahtkissen, Bewegungsmeldern, Infrarotkameras und Wachtürmen errichtet. tagesschau.de, 28.8.2000; Der Tagesspiegel, 24.6.2008

Die Fotografin Eva Leitolf zeigt nur scheinbar „unschuldige Landschaften“, sagt Burcu Dogramaci. Foto: Eva Leitolf, aus „Postcards from Europe“, VG Bild-Kunst, Bonn 2016

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Gegenbilder zu offiziellen Narrativen Burcu Dogramaci ist Professorin für Kunstgeschichte und forscht insbesondere darüber, wie Migration die Arbeit und Theoriebildung von Künstlern verändert und wie sich die Auseinandersetzung damit in den unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen widerspiegelt. Dabei interessiert sie vor allem, wie Künstlerinnen und Künstler die Erfahrung von Migration umsetzen. Einige verarbeiten ihr persönliches Erleben und ihre eigene Fluchterfahrung, aber darum geht es der Kunsthistorikerin nicht. Sie betont, dass Kunstwerke dazu anregen können, anders nachzudenken – gerade über ein so hochpolitisches Thema. „In den meisten künstlerischen Werken ist nicht der Anspruch erhoben, Migration per se exemplarisch zu visualisieren. Sie sind eher Gegenbilder zu offiziellen Narrativen.“ Beispielhaft dafür ist für die Kunsthistorikerin die bildliche Darstellung der gegenwärtigen Fluchtbewegung als Massenwanderung in den Medien und auch in der politischen Rhetorik.

Grenzen und Grenzüberwindung sind Dogramaci zufolge elementar für die künstlerische Auseinandersetzung mit Migration. Für die Fotografin Eva Leitolf sind die Außengrenzen der EU sinnbildlich für die europäische Flüchtlingspolitik. „Leitolf fotografiert unschuldige Landschaften, an denen sich Grauenhaftes abgespielt hat“, sagt Dogramaci. In ihrer Serie „Postcards from Europe“ dokumentiert die Fotografin tragische Schicksale von Menschen auf der Flucht, ohne diese selbst abzubilden. So zeigt sie einen auf den ersten Blick zum Picknick einladenden Park in der spanischen Stadt Melilla, einer europäischen Enklave an der nordafrikanischen Küste, – bis der Betrachter ein Stück Stahlzaun im Hintergrund erkennt, der potenzielle Einwanderer abhalten soll. Auf einer anderen ihrer Postkarten ist der Strand von Tarifa abgebildet, der südlichsten Stadt des europäischen Festlandes an der Straße von Gibraltar. „In einem schweren Sturm am 1. November 1988 sinkt ein Boot mit 23 marokkanischen Einwanderern bei Tarifa. Am Strand Los Lances werden zehn Ertrunkene angespült. Vier Menschen überleben, neun bleiben verschwunden“, schreibt Leitolf auf die Rückseite der Karte. Erst durch diese Information wird der Strandabschnitt zu einem „politisch kontaminierten Ort“, urteilt Dogramaci in einer Beschreibung der Serie.

„Die Mittelmeerüberfahrt ist kein Thema, das auf einmal da ist. Es gibt seit Jahren Tote. Wasser hat nun eine ganz andere Konnotation und viele Künstlerinnen und Künstler beschäftigen sich damit seit Langem“, sagt Dogramaci. Durch die große Fluchtbewegung der vergangenen Monate sind die zahlreichen Ertrunkenen auch in den Medien zum Thema geworden. Der chinesische Konzeptkünstler Ai Weiwei hat im Februar dieses Jahres in Berlin eine Installation aus gebrauchten Schwimmwesten geschaffen, um auf all die Menschen aufmerksam zu machen, die auf ihrem Weg nach Europa ertrunken sind. Für sein Werk erhielt er eigenen Angaben zufolge 14.000 Westen von der Insel Lesbos, die dort angespült wurden oder nach der Rettung von Flüchtlingen am Strand liegengeblieben waren. Zuvor hatte Ai Weiwei das in den Medien sehr präsente Foto von Alan Kurdi nachgestellt. Der dreijährige Junge aus Syrien war tot an einem türkischen Strand angespült worden, nachdem das Boot, auf dem er mit seiner Familie auf der Überfahrt nach Europa saß, gekentert war. Das Foto bündelte „den ganzen Schrecken restriktiver Einwanderungspolitik in einer Momentaufnahme“, erklärte etwa Der Spiegel die starke mediale Verbreitung der Aufnahme. Burcu Dogramaci erwartet, dass es künftig mehr künstlerische Reaktionen auf diese Form der Medialisierung von Migration geben wird, durch die auch die Wahrnehmung der Fluchtbewegung in der Öffentlichkeit der Zielländer geprägt wird.

Raum zwischen Heimat und Fremde, Vergangenheit und Zukunft Während für die aktuelle Fluchtbewegung der Mittelmeerraum zentral ist, war es für die Migration in der NS-Zeit die Überwindung des Atlantik. Im Rahmen des interdisziplinären Forschungsschwerpunkts „Repräsentation und Präsentation“ am Center for Advanced Studies der LMU widmet sich Burcu Dogramaci, die auch Sprecherin des Schwerpunkts ist, den Passagen der Migration. „Mich interessiert, was auf diesen Routen passiert. Das ist in der Beschäftigung mit Migration und Exil oft eine Leerstelle. Gerade in der klassischen Exilforschung geht es stark darum, warum Menschen gehen mussten und was nach ihrer Ankunft im Zielland passiert ist. All das, was dazwischen war, die Schiffspassage zum Beispiel, bleibt sehr unklar.“

Beispielhaft dafür ist ein Werk des Fotografen Hans Günter Flieg, der 1939 zusammen mit seinen Eltern aus Chemnitz nach Brasilien emigrierte. Er hatte auf seiner Reise eine Kleinbildkamera dabei. Die beiden von ihm veröffentlichten Fotos seiner Emigration sind jedoch nur zwei Aufnahmen: die letzte Fotografie in Chemnitz und die erste in Sao Paulo. „Die Überfahrt ist nur dieser kleine schwarze Streifen zwischen den Aufnahmen. Das ist für mich Sinnbild für das Dazwischen, das sehr unklar ist – dieses ‚Bislang und noch nicht‘“, sagt Dogramaci.

Für die Kunstwissenschaftlerin ergeben sich durch die aktuellen Fluchtbewegungen über das Mittelmeer mit ihren oft tragischen Verläufen neue Fragen: Wie werden die Routen des Exils von Künstlerinnen und Künstlern reflektiert? Und wie lässt sich dieser Raum zwischen Heimat und Fremde, Vergangenheit und Zukunft in Bilder, Objekte und Texte fassen? Kunstwerke zur Migration überschreiten oft künstlerische Gattungen, Fotografie wird mit Malerei, Installation mit Zeichnungen kombiniert. Dogramaci meint, das Thema lade dazu ein, „weil es per se um Entgrenzung geht. Dieser Moment kann dazu inspirieren, auch für die eigene Kunst über eine Art von Erweiterung nachzudenken.“

Im Rahmen des CAS-Schwerpunkts werden auch historische Auswanderungsbewegungen in den Blick genommen, darunter jene aus dem Habsburger Reich, dem Osmanischen Reich und dem Zarenreich nach Süd- und Nordamerika im späten 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. „Obwohl dreieinhalb Millionen Menschen allein aus der Habsburgermonarchie in die USA, nach Kanada und Lateinamerika emigrierten, ist die Forschung dazu bislang sehr disparat. Es gibt bislang keine einzige Monographie“, sagt Professor Ursula Prutsch, Dozentin für Amerikanische Kulturgeschichte an der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der LMU und ebenfalls Sprecherin des CAS-Forschungsschwerpunktes. Vor allem die USA zogen viele Migranten aus Dalmatien oder Galizien an, damals die „Armenhäuser der Habsburgermonarchie“. Manche von ihnen ließen sich noch am Kai von Schleppern überreden, ihr Glück in Lateinamerika zu suchen – zwar teils unter falschen Versprechungen, doch die südamerikanischen Länder lockten tatsächlich mit großzügigen Einwanderungsregeln. Dem verdanken selbst ihre heutigen Nachfahren mitunter eine EU-Staatsbürgerschaft. „Die transatlantische Verbindung ist nie abgerissen“, sagt Prutsch, die in Zusammenarbeit mit anderen Historikern untersuchen wird, wie sich die Einwanderer integrierten. Ethnische Konflikte wurden oft auf symbolischen Weg ausgetragen. So feiern die Bewohner der argentinischen Stadt Apóstoles bis heute den Jahrestag der Einwanderung ihrer polnischen und ukrainischen Vorfahren aus dem österreichischen Galizien, indem sie jeweils Büsten von Marie Curie und dem Lyriker Taras Schewtschenko aufstellen und damit alte Rivalitäten zwischen den römisch-katholischen Polen und den griechisch-unierten Ukrainern in der neuen Heimat weitertradieren. Das Ziel des Schwerpunkts ist, die damaligen Migrationsbewegungen aus zwei Imperien und ihre Auswirkungen in den Aufnahme- und Herkunftsländern in erstmals in einem übergreifenden Kontext zu betrachten und auch Bezüge zu aktuellen Fluchtbewegungen zu ziehen.

Weiter mit Seite 2: „Ich weiß gar nicht, was Heimat überhaupt ist. Ich glaube, dass sie irgendwo in mir ist“

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