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Grundgesetz: „Besser abgesichert, als manchmal der Eindruck erweckt wird“

23.05.2024

Staatsrechtler Peter M. Huber über die Belastbarkeit des Grundgesetzes als Basis einer offenen Demokratie.

Das Grundgesetz

gilt seit dem 23. Mai 1949. | © IMAGO Janine Schmitz photothek

Professor Peter M. Huber hat den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der Juristischen Fakultät der LMU inne. Er war zwölf Jahre lang Richter des Bundesverfassungsgerichts und ein gutes Jahr Innenminister des Freistaats Thüringen. Im Interview erläutert er, auf welche Weise sich das Grundgesetz in seiner 75-jährigen Geschichte als Schutzmauer der Demokratie bewährt hat.

Gibt es einen oder mehrere Artikel des Grundgesetzes, die Sie auswendig können?

Peter M. Huber: Mehrere, denke ich. Es fängt an mit: „Eigentum verpflichtet“. Dann: „Die Bundesflagge ist Schwarz-Rot-Gold.“ Und: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Ich kenne aber auch noch eine Reihe anderer Vorschriften auswendig.

Mit Artikel eins haben Sie jetzt gar nicht angefangen.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – das ist natürlich die wichtigste Bestimmung des Grundgesetzes, keine Frage. Aber da sie geradezu ein Kondensat des Grundgesetzes ist, habe ich daran jetzt gar nicht gedacht.

Ist es auch für Normalbürger sinnvoll, Inhalte des Grundgesetzes zu kennen?

Natürlich: Je mehr man davon versteht, desto besser. Notwendig ist es natürlich nicht. Gleichwohl ist die Idee wichtig, dass man auf der Basis des Grundgesetzes und mithilfe des Bundesverfassungsgerichts so etwas wie Gerechtigkeit erreichen kann. Das ist wichtig für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Institutionen und die Stabilität unseres Landes, und das steht ja letztlich auch hinter der verbreiteten Redewendung: „Dann gehe ich bis nach Karlsruhe.“ Zum Grundgesetz gehört untrennbar, was das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen in 165 Bänden aus diesem relativ kurzen Text gemacht und wie es diese Verfassung immer wieder auch an die Entwicklungen der Zeit angepasst hat – von der Überwindung obrigkeitsstaatlicher Strukturen nach dem Krieg bis zum Klimaschutz.

Das Grundgesetz ist jetzt 75 Jahre alt. Ist es im internationalen Vergleich inzwischen eine Verfassung mit Tradition?

An die amerikanische Verfassung mit 237 Jahren reicht es natürlich noch nicht heran, aber die Briten und die Israelis haben bis heute überhaupt keine geschriebene Verfassung. Auch die meisten anderen Verfassungen der Welt sind jünger als das Grundgesetz. Für viele andere Länder war und ist es, vor allem nach der Überwindung von Diktaturen, ein Vorbild: Griechenland, Portugal, Spanien oder Südafrika kann man hier nennen. Seit der Reichsgründung 1871 gab es jedenfalls keine Verfassung, die länger als 75 Jahre gegolten hat.

War zwölf Jahre Richter des Bundesverfassungsgerichts: Professor Peter M. Huber | © KLAUS LORENZ FOTODESIGN

Sie waren in einer CDU-geführten Landesregierung Innenminister von Thüringen. Dort wird eine Partei immer stärker, deren dortiger Landesverband vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft wird. Ist das Grundgesetz auf solche Entwicklungen ausgelegt?

Das Grundgesetz statuiert eine wehrhafte Demokratie, „resilient democracy“, wie man es in der internationalen Diskussion nennt. Es enthält die Möglichkeit von Parteiverboten, die Verwirkung von Grundrechten, Vereinsverbote u. a. m. Es verlangt von seinen Beamten, Soldaten und Richtern Loyalität und sanktioniert Verstöße. Das sind alles Instrumente, die die Weimarer Verfassung so nicht kannte. Und es gibt eine austarierte Gewaltenteilung, sodass es einen Durchmarsch und eine schlichte „Machtergreifung“ unter dem Grundgesetz eigentlich nicht geben kann. Auch im internationalen Vergleich ist der demokratische Rechtsstaat des Grundgesetzes besser abgesichert, als es in der öffentlichen Debatte manchmal den Eindruck hat. Das gilt übrigens auch für die Thüringer Landesverfassung, über die jetzt viel geredet wird. Letztlich aber beruht eine Demokratie auf der Volkssouveränität und darauf, dass die Mehrheit des Volkes vernünftig bleibt.

Auch eine politische Minderheit kann Einfluss nehmen auf die Besetzung des Verfassungsgerichts. Es gibt Warnungen, dass auf diesem Weg verfassungsfeindliches Gedankengut in höchstrichterliche Entscheidungen einfließen könnte. Haben Sie da Sorgen?

Offen gestanden, nicht so große. In Bayern gibt es jetzt in der zweiten Legislaturperiode zwei AfD-Richter im Verfassungsgerichtshof. Das ist nicht so schön, aber die haben, soweit ich es überblicke, in der Rechtsprechung keine erkennbaren Spuren hinterlassen. Am Bundesverfassungsgericht dürfte in der Regel schon die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit die Bestellung von Verfassungsfeinden verhindern. Zudem bräuchte eine solche Richterin bzw. Richter auch eine Mehrheit im Senat, d. h. die Unterstützung von vier Kolleginnen und Kollegen. In der Kammer muss sogar einstimmig entschieden werden. Wenn die Mehrheit der Verfassungsrichterinnen und -richter aus Verfassungsfeinden besteht, wäre die freiheitlich-demokratische Ordnung allerdings längst gekippt.

Wäre es denkbar und wünschenswert, eine europäische Verfassung zu haben?

Die verschiedenen Verträge zur Gründung und Arbeitsweise der EU sind ja eine europäische Verfassung. Aber die Vorstellung, dass man aus der Europäischen Union eine Art aufgeblasene Bundesrepublik machen könnte, in der die Mitgliedstaaten die Rolle der deutschen Länder spielen, ist nicht von dieser Welt. Fragen Sie mal in Italien, Frankreich oder auch bei uns, was die Menschen von so einer Idee halten … Das Schöne an Europa ist – wie es auch in seinem Wahlspruch „In Vielfalt geeint“ heißt – die enorme Vielfalt der Kulturen und Sprachen. Bei der EU geht es darum, die Dinge zusammen zu machen, für die die einzelnen Mitgliedstaaten zu klein oder zu schwach sind, und das möglichst effektiv und überzeugend. Aber die Nationen sind das historisch gewachsene Fundament, auf dem die Union aufbaut, und zwar mit ihren jeweiligen Verfassungen. Wer das nivellieren will, schadet Europa und scheitert.

Es gibt Sozialkundelehrer, die ihren Schülern und Schülerinnen empfehlen, immer ein Grundgesetz dabei zu haben. Eine gute Idee?

Wenn Sie das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe besuchen, gibt es kleine Grundgesetze als Give-away. Es gibt solche Mini-Exemplare auch anderswo. Um die appellative Funktion der Verfassung den Einzelnen nahezubringen, ist es natürlich eine gute Idee, wenn sie immer ein kleines Grundgesetz dabeihaben können.

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