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Hat die Studentenbewegung die Wissenschaft verändert?

27.02.2018

Wie LMU-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Wirkung der Studierendenrevolte auf ihre Disziplin einschätzen.

Langfristiger Einfluss widersprüchlicher Kulturen

Kärin Nickelsen, Professorin für Wissenschaftsgeschichte, Historisches Seminar der LMU

„Auf jeden Fall hat sich nach und mit 1968 sehr viel in der Wissenschaft verändert, sei es durch die ‚68er-Bewegung‘ im engeren Sinne oder als Teil eines größeren Wandels, der sich nicht auf Deutschland beschränkt. Die Studentenproteste haben maßgeblich zur Reform universitärer Strukturen beigetragen: Mitbestimmungsrechte wurden ausgedehnt, Professuren erstmals öffentlich ausgeschrieben, Studienordnungen überprüft. Auch Formate und Inhalte universitärer Lehre änderten sich in Reaktion auf die gesellschaftlichen Debatten. An diesen waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler durchaus beteiligt, und zwar nicht nur aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern auch aus Natur- und Ingenieurwissenschaften: Der innerwissenschaftliche und öffentliche Protest in den USA gegen die enge Verflechtung von Politik, Militär, Industrie und Wissenschaft erreichte auch Europa. Ein Beispiel für langfristigen Einfluss widersprüchlicher Kulturen bietet der Aufstieg des Computers und des Internets, dessen Werdegang einerseits eng mit militärischen Interessen verknüpft ist, andererseits mit gegenkulturellen, basisdemokratischen Strömungen in der Wissenschaft.“

Fremdeln mit der Freiheit

Julian Nida-Rümelin, Professor für Philosophie und politische Theorie an der LMU

„Die 68er, selbst in der Regel aus bildungsbürgerlichen Milieus, hatten nicht nur die Vision einer ganz anderen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, sondern fremdelten mit dem Erbe ihrer Eltern. Zu diesem Erbe gehörte nicht nur das hartnäckige Beschweigen der NS-Zeit und die verklemmte Doppel-Moral der Restauration, sondern auch die bildungsbürgerliche Hochachtung von Wissenschaft und Kunst. Die im Artikel 5 des Grundgesetzes garantierte Freiheit von Wissenschaft und Kunst, Forschung und Lehre, war ihnen suspekt, die künstlerische und die wissenschaftliche Praxis sollten politischen und sozialen Zwecksetzungen unterworfen werden – gewissermaßen die soziale Finalisierung der Wissenschaft. Unterdessen erleben wir in Teilen eine ökonomische Finalisierung, und während der damalige Widerstand (Freiheit der Wissenschaft) eher von rechts kam, kommt der heutige Widerstand gegen die ökonomische Finalisierung eher von links. So kommt es, dass die Studierendenproteste gegen eine Ökonomisierung der Wissenschaft von Humboldt’schen Idealen getragen waren – eine feine Ironie der jüngeren Wissenschaftsgeschichte.“

„Schlagt die Germanistik tot, färbt die blaue Blume rot!“ (68er-Parole)

Professor Clemens Pornschlegel, Institut für Deutsche Philologie der LMU

„Der Mythos 68 in germanistischen Dingen besagt zweierlei. Erstens, die 68er-Bewegung habe den NS-Muff unter den Talaren der Germanisten entdeckt und das geleistet, was schon in den 1950er-Jahren hätte geleistet werden müssen: die Entnazifizierung des Faches. Zweitens, die 68er hätten die Literatur aus dem Elfenbeinturm der allzu schönen und allzu nationalen Künste befreit, sie sozial geöffnet und demokratisiert. Die Literatur sei seither nicht mehr nur eine Angelegenheit des „Geltungskonsums“ (Veblen), sondern stünde allen offen.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Entnazifizierung des Faches fand vor 1968 statt. Das entscheidende Datum ist nicht 1968, sondern das Jahr 1966, als der Münchner Germanistentag die seit Beginn der 1960er-Jahre schwelende Debatte aufgriff und versuchte, den NS-Nationalismus aus der Germanistik zu vertreiben – wobei allerdings die ‚dicksten Fische’, nämlich die Fälle Hans Schwerte, Hans Robert Jauß und Wilhelm Emrich, unerkannt geblieben sind. Und was die Demokratisierung der Literatur angeht, so fällt das Resultat nicht minder ernüchternd aus. Im Zuge einer rigide betriebenen marxoïden Verwissenschaftlichung des Faches, das vorher angeblich nur Ideologie betrieben hätte, setzten die 68er einen Jargon in die Welt, der das breite Publikum aus den Debatten um die literarischen Traditionen von vornherein ausschloss. Der Germanist Richard Alewyn reagierte 1974 darauf mit dem Satz: „Ich kann auch den Verdacht nicht unterdrücken, dass die seit einigen Jahren in Mode gekommene Dunkelheit nur dazu dient, die Denkarbeit, die der Verfasser sich erspart hat, auf den Leser abzuwälzen.“ Gleichzeitig führte die Ausweitung des Literaturbegriffs, der für alle Waren der boomenden Kulturindustrie geöffnet wurde, nicht zur demokratischen Aneignung und zum Wandel des literarischen Kanons, stattdessen zur Nobilitierung des Trivialen. Anders gesagt, die 68er haben dem liberalen Konsumismus Tür und Tor geöffnet; es kam nicht die rote Blaue Blume, aber Fack ju Göhte 1 bis 3. Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius stellte schon vor fast zwanzig Jahren fest: ‚Keine politische Bewegung ist so auf ihre eigenen Mythen und Klischees hereingefallen wie die 68er.‘ Das Jubeljahr 2018 könnte man dazu nutzen, wieder herauszufallen.“

Soziale und kulturelle Pluralisierung

Professor Rudolf Tippelt, Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung

„Für manche ist die 68er-Bewegung der Beginn eines fortschreitenden Werteverfalls, für andere eine Voraussetzung für die weitere gesellschaftliche Modernisierung. Diese widersprüchlichen Einschätzungen liegen sicher auch an der großen Heterogenität dieser Bewegung zwischen einerseits der pazifistischen Menschenrechte einfordernden Bewegung beispielsweise eines Martin Luther King oder des Prager Frühlings bis hin andererseits zu diversen militanten Strömungen, die glaubten, sich nur durch inhumane Gewalthandlungen aus empfundenen Formen der Unterdrückung befreien zu können. Bei einer zeitgeschichtlich distanzierten und gleichzeitig nüchternen Betrachtung wird man feststellen, dass – nicht immer intendiert – eine langfristige Wirkung der 68er-Debatten im Bildungsbereich ist, nicht legitimierte Autorität zu hinterfragen und stattdessen beispielsweise Kompetenz anzumahnen. Dies gilt für die Familie wie für Organisationen. Die anfänglichen antiautoritären und libertären Versuche scheiterten und sind wissenschaftlich kritisiert worden. Auch die Pluralisierung der Familienformen und die Emanzipation der Frauen wird – trotz auch anderer ökonomischer und kultureller Gründe – bisweilen der 68er-Bewegung zugeschrieben. Immerhin hat dies dazu geführt, dass heute Frauen an Universitäten und Hochschulen genauso häufig studieren wie Männer. Wenngleich andere damals intendierte Demokratisierungseffekte bislang nur moderat wirken – wie die Loslösung des schulischen und beruflichen Erfolgs von der familiären Herkunft – wird man sagen können, dass die in den letzten 50 Jahren entstandenen sozialen Bewegungen erheblich zu einer sozialen und kulturellen Pluralisierung der modernen Gesellschaft beigetragen haben.“

Was ist geblieben vom Geist einer Generation, die vor 50 Jahren den Aufstand probte? Zeitzeugen erinnern sich, LMU-Wissenschaftler ziehen die Bilanz einer Bewegung. Mehr zum Thema

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