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Historische Handels-Experimente: Blick zurück in die Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts

30.05.2022

Claudia Steinwender, neuberufen an der LMU, ist Professorin für Innovation und Internationalen Handel der Volkswirtschaftlichen Fakultät.

Professorin Claudia Steinwender | © Tobias Hase

„Die tatsächliche erste ICT-Revolution (Informations and Communications Technology)”, erklärt Professorin Claudia Steinwender, „war die Entwicklung der Telegrafie im 19. Jahrhundert – größer und dramatischer als die des Internets. Denn zum ersten Mal in der Geschichte konnte man Informationen schneller verschicken als physische Güter.” Die Volkswirtschaftswissenschaftlerin interessieren dabei insbesondere die Effekte des weltweiten Telegrafenmasten-Netzwerks auf den Handel – um Lehren für unser digitales Zeitalter zu ziehen.

Seit Juli vergangenen Jahres hat die gebürtige Österreicherin die Professur für Innovation und Internationalen Handel an der Volkswirtschaftlichen Fakultät der LMU inne. In Wien hatte sie „International Business Administration” sowie Wirtschaftsmathematik studiert und im Anschluss drei Jahre lang bei der Unternehmensberatung McKinsey gearbeitet. „Auch wenn mein Ziel immer die Wissenschaft war, wollte ich zunächst wissen, wie Wirtschaft in der Praxis aussieht.” Anschließend ging sie für ein Ph.D.-Studium an die London School of Economics (LSE) und stieß zum ersten Mal in die Wirtschaftsgeschichte vor.

In ihrem Paper Real effects of Information Frictions: When the States and the Kingdom became United, das später im renommierten American Economic Review publiziert werden sollte, beleuchtete sie die Entwicklung des weltweiten Telegrafensystems 1866 – und die Frage, wie sie den Handel beeinflusste. „Eine Grundidee war, aus historischen Parallelen für Herausforderungen des digitalen Zeitalters zu lernen”, so Steinwender. „Denn die Effekte der Digitalisierung selbst lassen sich wegen ihrer schleichenden Entwicklung nur schwer analysieren." Sogenannte „historische Experimente” seien dagegen schärfer, weniger komplex und erlaubten es damit, einzelne Mechanismen besser zu isolieren.

Eine Erfindung, die den Wohlstand steigerte

Konkret betrachtete Steinwender die Effekte des Transatlantik-Kabels zwischen New York und Liverpool auf den Handel mit Baumwolle. „Dabei konnte ich erstmals zeigen, dass Informationen nicht nur die Preise beeinflussen, sondern auch die Handelsgüterströme selbst.” Denn das Telegrafensystem schaffte eine nie dagewesene Transparenz darüber, wo Angebot und wo Nachfrage nach Baumwolle herrschte – und steigerte damit den Wohlstand in den betreffenden Ländern. Man habe mit diesem Experiment generell zeigen können, welche Probleme ein Informationsmangel für den internationalen Handel bringe. „Denn die Märkte sind nur effizient, wenn es weitreichende Informationen gibt – wobei vollständige Marktinformationen eine Illusion sind”, erklärt die Volkswirtschaftlerin. „Das blieb nach der Erfindung der Telegrafen auch mit dem Telefon so, mit dem Fax – erst in Schwarzweiß, dann in Farbe – und auch noch im Zeitalter des Internets.”

2014 trat Claudia Steinwender eine Postdoktorandenstelle an der Princeton University an und hatte ab 2015 eine Assistenzprofessur an der Harvard Business School, Boston, inne. 2017 wechselte sie an das Massachusetts Institute of Technology (MIT), um als Assistenzprofessorin an der MIT Sloan School of Management zu wirken.

Das Thema Wirtschaftsgeschichte ließ sie dabei nie los. Besonders interessieren Steinwender Einflüsse wichtiger Ereignisse auf den Welthandel – wie Kriege, Pandemien, aber auch Neuerungen wie die Umstellung auf den Warentransport mit Containern. „Die ‚Containerisierung’ nach dem Zweiten Weltkrieg senkte die Transportkosten stark – weil das Verladen viel schneller und effizienter verlief”, so Steinwender.
Bei genauerer Betrachtung wurde dem Forscherteam aber klar, dass die Containerisierung auch einen Preis hatte. „Der Vorteil der Container lässt sich nur dann in Kosten- und Zeitvorteile umsetzen, wenn man sie auf einer großen Fläche sortieren und umladen kann.” Entsprechend lösten „sekundäre” Städte wie Liverpool und Rotterdam die eng besiedelten Metropolen wie New York und London als Hafenzentren ab. Und auch die Hafen-Designs veränderten sich. „Die vielen schmalen ‚Finger Piers’ des früheren Hafens von New York etwa, die mit je einem Schiff links und rechts in den Atlantik ragten, wurden mit der Containerisierung breiter, es kamen Lagerhäuser dazu – bis man die Frachter parallel zum Land andocken ließ.”

„Information Frictions” bei Pizza und Pulli

Im August vergangenen Jahres überquerte Steinwender selbst den Atlantik, um eine Professur für Innovation und Internationalen Handel an der Volkswirtschaftlichen Fakultät der LMU anzutreten. Mit dem Wechsel wollte sie „einerseits näher bei der größeren Familie in Österreich sein und die Lebensqualität in Europa genießen, dabei aber an einer intellektuell fordernden Universität forschen”. Die LMU sei dabei herausgeragt. „Bei einem Forschungsbesuch waren mir am Economics Department der Universität so viele engagierte und intellektuell inspirierende Kollegen begegnet wie noch selten auf einer Reise.” Dazu biete das Netzwerk der LMU – mit der Technischen Universität, dem Ifo-Institut, dem Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb, dem eigenständigen Center for Economic Studies an der LMU und natürlich der Universität selbst – „ein regelrechtes ökonomisches Ökosystem”. Eine derartige Dichte hochrangiger Forschungseinrichtungen habe sie bislang nur in Cambridge, USA, erlebt. Dazu kamen Kontakte zu Wissenschaftlern am Historischen Seminar der LMU, mit denen es ebenfalls Schnittstellen gibt.

An ihre Erkenntnisse zum Einfluss der Telegrafie knüpft Steinwender mit ihrer noch unveröffentlichten Arbeit Spinning the Web: Codifiability, Information frictions and Trade an. Darin geht es um die Frage, ob bestimmte Güterströme seinerzeit besonders stark auf den Informationsfluss unter dem Atlantik reagierten. „Zu unserer Überraschung waren es aber nicht konsumentennahe Waren wie Bekleidung, für deren Handel die Telegrafie wichtig war, sondern die stärker standardisierten Güter wie Rohstoffe”, so die Forscherin. „Wir stellten fest, dass das an ihrer einfacheren Kodifizierbarkeit liegt. Komplexe Charakteristika lassen sich einfach schwerer vermitteln als die von einfachen Gütern.“

Auch heute, trotz Internets, könnten gewisse Attribute noch nicht kommuniziert werden – wie Geschmack, Geruch oder Tastsinn. „Der Pulli, der sich kratziger anfühlt, als er aussah, die Pizza, die nicht schmeckt wie erwartet: Das sind ‚Information Frictions’, die den Handel noch immer erschweren – auch wenn mit Machine Learning und Künstlicher Intelligenz bereits daran geforscht wird, wie man auch diese Produktattribute über die Entfernung spürbar machen kann.”

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