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„Ich würde der Natur Grundrechte geben“

07.06.2022

Verfassungsrechtler Jens Kersten forscht zu Umwelt und Gesellschaft im Anthropozän – und engagiert sich für die internationale Bewegung für einen besseren Rechtsschutz der Natur.

Bayerische Voralpen

Blick vom Brauneck in Oberbayern auf die Bayerischen Voralpen. | © LMU

Interview mit ProfessorJens Kersten, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der LMU.

Herr Kersten, inwieweit ist unsere Umwelt bislang rechtlich geschützt?


Jens Kersten: Bei uns in Deutschland gibt es Regelungen und Gesetze zum Schutz von Umwelt und Natur quasi auf allen Ebenen – von der Gemeinde über Länder und Bund: Die Gemeinden haben sehr gute planungsrechtliche Instrumentarien, wenn etwa die Natur im Umfeld eines neuen Baugebiets geschützt werden muss.

Schwieriger ist es dagegen schon, bestehende Häuser zu ökologisieren – weil der Umweltschutz da zum Beispiel mit dem Grundrecht auf Eigentumsfreiheit der Besitzer kollidiert. Auf Landesebene gibt es viele neue Ansätze zum Verhältnis von Natur und Eigentum. Gerade in den ostdeutschen Verfassungen und auch auf EU-Ebene sehen wir in den letzten Jahren viele innovative umweltrechtliche Regelungen – vor allem was Umweltinformationen, die Umweltverträglichkeitsprüfung oder Verbandsklagerechte angeht. Darüber hinaus wendet sich das Strafrecht gegen Umweltzerstörungen, etwa wenn Müll illegal entsorgt wird.

Reformbedarf in Deutschland

Dennoch unterstützen Sie eine weltweite Bewegung von Juristen und Umweltschutzorganisationen, die einen besseren Rechtsschutz der Natur fordern. Was könnte verbessert werden?

In Deutschland besteht grundlegender ökologischer Reformbedarf, vor allem auf Bundesebene und hier insbesondere beim Grundgesetz. Bislang sieht es hier verfassungsrechtlich ziemlich mau aus.

Zwar wurde 1994 in der Verfassungsreform nach der deutschen Einheit das Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz eingefügt und 2002 um den Tierschutz ergänzt. Es handelt sich um die Regelung des Art. 20a des Grundgesetzes – im Wortlaut: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.”

Aber diese sogenannte „Staatszielbestimmung” ist juristisch viel zu weich formuliert. Darüber hinaus kennt sie nur einen Akteur: den Staat.

Allein der Staat entscheidet in Deutschland, wie und vor allem wie weit die Natur und die Tiere zu schützen sind. Die Bürgerinnen und Bürger haben keine ökologischen Rechte, um den Staat verfassungsrechtlich zu zwingen, die Natur und die Tiere effektiv zu schützen. Deshalb brauchen wir eine grundlegende ökologische Transformation des Grundgesetzes.

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Was ist mit dem ökologischen Nachhaltigkeitsprinzip, das eine Ausprägung des Staatsziels Umweltschutz darstellt?

Sicherlich ist es gut, dass sich das Nachhaltigkeitsprinzip zu einer Art Weltprinzip entwickelt hat. Doch das Problem des Nachhaltigkeitsgrundsatzes besteht darin, dass es keine normative Steuerungskraft mit Blick auf die drängenden ökologischen Probleme mehr entfaltet. Das liegt daran, dass wir eine nachhaltige Entwicklung als Ausgleich zwischen sozialen, ökonomischen und ökologischen Interessen verstehen.

Doch dieses dreidimensionale Verständnis von Nachhaltigkeit führt angesichts des exponentiellen Artensterbens, der Vermüllung der Welt und vor allem der Klimakatastrophe schlicht nicht weiter. Deshalb müssen wir uns die Frage stellen: Was kommt nach der Nachhaltigkeit? Und die Antwort lautet meiner Auffassung nach: die ökologische Revolution unserer Verfassungsordnung.

Ökologische Rechte einführen

Wie könnte eine „ökologische Revolution”, für die Sie plädieren, aussehen?

In vergangenen Revolutionen wurden Bürgerrechte und soziale Rechte erstritten. Nun brauchen wir nach der bürgerlichen und der sozialen eine ökologische Revolution unserer Verfassungsordnung. Im Zuge dieser ökologischen Transformation des Grundgesetzes müssen wir ökologische Rechte einführen, etwa ein Recht auf ökologische Integrität, also auf eine gesunde Umwelt. Es ist aber auch notwendig, bestehenden Grundrechten effektive ökologische Schranken zu setzen, vor allem der Wirtschafts- und der Eigentumsfreiheit. Schließlich sollten wir auch die Natur als Rechtssubjekt anerkennen.

Gibt es Vorbilder für die Rechte der Natur im Ausland?

In der Verfassung von Ecuador wird die Natur – gerade auch vor dem Hintergrund indigener Einflüsse – als Rechtssubjekt anerkannt. Nach der Ecuadorianischen Verfassung verfügt die Natur über das Recht eines umfassenden „Ökosystemschutzes”. Die ökologischen Kreisläufe werden damit als Recht der Natur geschützt. Sie können von Bürgerinnen und Bürgern mit einer Popularklage eingeklagt werden.

Auch bei uns wird in der Rechtswissenschaft dafür plädiert, einen umfassenden Ökosystemschutz als Rechte der Natur in das Grundgesetz einzuführen und das konkret im Anschluss an das Staatsziel Umweltschutz im neu zu schaffenden Art. 20b ff. des Grundgesetzes zu verankern.

Die Ökologie mit in die „DNA” des Staates aufnehmen

Halten Sie das für sinnvoll?

Mein Weg wäre ein anderer. Ich würde der Natur Grundrechte geben, diese aber differenziert ausgestalten. Der Anknüpfungspunkt dafür ist die Regelung des Art. 19 Abs. 3 des Grundgesetzes. Nach dieser Vorschrift können sich juristische Personen – also beispielsweise Vereine, GmbHs und Aktiengesellschaften – auf die Grundrechte berufen, die ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind. Diese Regelung sollte auch für ökologische Personen gelten. Dann könnten sich beispielsweise Tiere auf das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit berufen. Oder ein Ökosystem auf die Unverletzlichkeit seiner Wohnung.

Es wäre dann die Aufgabe des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, dies näher auszugestalten, wie er es auch im Wirtschaftsrecht für Handelsgesellschaften, GmbHs und Aktiengesellschaften gemacht hat. Was im Fall von totem Kapital funktioniert, geht erst recht bei der lebendigen Natur.

Welche Regelungen müssten noch im Grundgesetz geändert werden?

Wir sollten die Ökologie in die Staatsfundamentalnorm des Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes aufnehmen. Auf diese Weise wird die Bundesrepublik zu einem demokratischen, sozialen und ökologischen Bundesstaat. Die Ökologie tritt so neben das Demokratie-, Republik-, Rechts-, Sozial- und Bundesstaatsprinzip. Damit gehört die Ökologie auch zur „DNA” unseres Staates, und der Umweltschutz muss in der gesamten Staatsorganisation zum Ausdruck kommen.

Was würde das konkret bedeuten?

Wir müssen beispielsweise unser parlamentarisches Regierungssystem natursensibler gestalten, indem wir einzelnen Staatorganen neue ökologische Funktionen zuweisen. So müsste der Bundestag jedes Jahr eine ökologische Haushaltsdebatte führen, in der die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler die ökologischen Richtlinien der Bundesregierung vorstellt und verantwortet. Auch wäre es unbedingt notwendig, dass die Umweltministerin ein Widerspruchsrecht gegen Entscheidungen der Bundesregierung von ökologischer Bedeutung erhält. Aber das sind nur Beispiele, hier würde einem noch sehr viel mehr einfallen.

Prof. Jens Kersten

Professor Jens Kersten | © privat

Der Verfassungsrechtler Jens Kersten hat seit 2008 den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der LMU inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen neben dem Umweltschutz Staats-, Verwaltungs- und Europarecht, Biomedizin und Recht, digitale Governance und Demokratie, demographischer Wandel und sozialer Zusammenhalt. Vor seiner Zeit an der LMU war Kersten Professor für Raumplanungs- und Umweltrecht an der Technischen Universität Dortmund und von 2012 bis 2013 Carson-Professor am Rachel Carson Center for Environment and Society der LMU.

Publikation

Jens Kersten: „Natur als Rechtssubjekt. Für eine ökologische Revolution des Rechts” . In Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte” vom 6.3.2020

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