News

Im Sog des Datenflusses

12.02.2016

Das neu geschaffene „Munich Center for Internet Research“ untersucht die Digitalisierung und ihre gesellschaftliche Dynamik. LMU-Forscher Thomas Hess über neue Formen von Organisation und Führung, die Zukunft der Arbeit und die Herausforderungen der t...

Herr Professor Hess, nehmen wir an, Sie arbeiteten bei einem dieser modernen Unternehmen, die die Möglichkeiten der Digitalisierung voll ausschöpfen. Was könnte Ihr Arbeitgeber da schon heute so alles über Sie wissen? Hess: Nach den traditionellen Methoden des Personalmanagements hat er vergleichsweise wenig über mich in seinen Datenbanken. Er kennt meine Stammdaten, er weiß an anderer Stelle vielleicht etwas über meinen Hintergrund und an einer dritten Stelle etwas über meine Stationen im Unternehmen. Das ist die alte Welt. In der digitalen Welt kommt da schrittweise immer mehr hinzu. Man kann schon heute theoretisch zumindest Informationen darüber sammeln, was ich am Arbeitstag mache, wem ich E-Mails schreibe, wie ich mit anderen interagiere. Mein ganzes Verhalten im Betrieb ließe sich so dokumentieren, man könnte alle digitalen Spuren erfassen, die ich im Arbeitsalltag hinterlasse.

Das Interessante und Neue daran ist ja weniger das Sammeln von Daten, sondern das Korrelieren und umfangreiche Auswerten unter vielerlei Aspekten. Was könnte dabei herauskommen? Es ließe sich letztlich ein Profil anfertigen: Wo liegen meine Fähigkeiten, wo meine Erfahrungen? Wo fehlt mir Fach- oder Führungskompetenz? Man könnte schnell aus den Daten lesen, welche Aufgaben ich noch nicht gemacht habe oder welche Fragen ich recherchiere, und womöglich eine gezielte Weiterbildung für mich maßschneidern. Man kann aus dem Datenmaterial auch Informationen darüber ziehen, was die gesamte Belegschaft oder einzelne Gruppen von Mitarbeitern gerade beschäftigt oder wie neue strategische Initiativen ankommen. Aber zunächst gibt es zwei technische Herausforderungen: Wie führe ich die unterschiedlichen Formate zusammen, so dass sich am Ende die Informationen über meine Person zu einem Ganzen fügen, obwohl sie an unterschiedlichen Orten gespeichert sind? Und: Wie lassen sich aus den Massen von Daten tatsächlich Informationen herausziehen, gegebenenfalls sogar Verhaltensprognosen? Moderne Techniken zum Aggregieren und Auswerten von Daten im großen Stil zu etablieren – solche Entwicklungen nehmen unter dem Stichwort Big Data jetzt langsam an Fahrt auf.

Die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung machen die Beschäftigten nicht nur jederzeit verfügbar, Big Data schafft auch den vollkommen „gläsernen“ Mitarbeiter – ist das ein realistisches Szenario? Kurz- und mittelfristig sicher nicht, auf lange Sicht könnte man sich tatsächlich ein Szenario vorstellen, in dem das Unternehmen die Belegschaft und den einzelnen Mitarbeiter aus jedem Blickwinkel betrachtet und bewertet – wenn man die Entwicklung denn frei laufen ließe. Aber es gibt einen rechtlichen Rahmen, den es auf die neuen Möglichkeiten anzupassen gilt. Und nicht an allen Informationen hat ein Unternehmen auch Interesse. Es kostet ja schließlich auch was, Informationen zu sammeln und zusammenzuführen. Beide Einschränkungen zusammengenommen werden aus meiner Sicht dazu führen, dass am Ende der Entwicklung nicht das vollkommene Durchleuchten der Mitarbeiter die Regel ist, obwohl es technisch langfristig sicher möglich wäre.

Kann eine solche Transparenz die Arbeit besser und effizienter machen? Und: Kann sie sie, schlicht gefragt, auch menschlicher machen? Prognosen sind nach heutigem Stand sehr schwer zu leisten. Was sich aber bereits abzeichnet: Die Unternehmen werden neue Konzepte von Führung brauchen. Sie haben viel mehr Daten und können ein viel schärferes Bild ihrer Mitarbeiter zeichnen. Wie sich das auf Arbeitsorganisation und Führung auswirkt, wollen wir in einem Projekt zusammen mit dem Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF), München, untersuchen, das sich auf das Thema „Zukunft der Arbeit“ spezialisiert hat. Dabei könnte sich beispielsweise herausstellen, dass Firmen gar nicht der Idee verfallen werden, alles bis ins letzte Detail zu betrachten, sondern dass sich Führungskonzepte durchsetzen könnten, die sozusagen nur Rahmenbedingungen vorgeben. So könnte am Ende das genaue Gegenteil vom befürchteten „gläsernen“ Mitarbeiter stehen. Dafür sprechen erste Zusammenhänge, die Wissenschaftler bereits gefunden haben: Ein ständiges Überwachen der Mitarbeiter kann sich negativ auf ihre Leistung auswirken; ein gewisser Grad an Privatheit dagegen fördert zum Beispiel kontinuierliche Verbesserungsprozesse.

Was heißt all das für die Arbeitsorganisation in Unternehmen? Firmen werden Aufgaben sehr viel flexibler zuordnen als heute. Gegenwärtig sind Unternehmen noch eher stabil und hierarchisch organisiert. Die Mitarbeiter haben ein Set von Aufgaben, das sie erledigen. In Zukunft wird die Zuordnung von Aufgaben viel stärker projektbezogen geschehen. Neue Aufgabe gehen nicht automatisch qua Zuständigkeit an einen Mitarbeiter oder eine Abteilung, sondern eben flexibel auf Basis vielfältiger und detaillierter Informationen über Fähigkeiten, Erfahrungen und Kapazitäten.

Sie untersuchen dabei beispielsweise, auch wie Firmen Cloud Computing nutzen können und wo sie dabei aufpassen müssen. Wie verändert eine solche technische Dienstleistung das Arbeiten grundsätzlich? Cloud Computing ist eigentlich ein technisches Konzept das die Verlagerung vieler Funktionen vom Endgerät auf einen zentralen Rechner vorsieht. Im übertragenen Sinne wird es aber benutzt um zu beschreiben wie die Idee der Flexibilisierung innerhalb eines Unternehmens auch über die Grenzen eines Unternehmens über das Internet (die Cloud) angewendet werden kann. Wenn Sie einen Prozess von, sagen wir, zehn Schritten haben, um ein Ergebnis zu erzielen, können Sie im Unternehmen einzelne Schritte zuordnen, Sie können aber auch, das ist die angesprochene Cloud-Idee, über das Internet einzelne Aufgaben nach außen geben, sodass am Ende eine Mischung herauskommt aus Tätigkeiten im Unternehmen und spezialisierten Dienstleistungen. Damit entsteht ein wesentlich flexiblerer und spezifischerer Zusammenschluss von Aufgabenträgern, um eine höherkomplexe Aufgabe zu realisieren. In vielen Fällen werden die technischen Möglichkeiten es zulassen, eine solche Zuordnung sogar zu automatisieren. Eine Maschine also wird das Zerlegen der Arbeit übernehmen und vielleicht sogar die Ergebniskontrolle, soweit man das formalisieren kann. Was früher eine Führungskraft gemacht hat, wird dann in Teilen auf eine Maschine übertragen.

Fragen von Organisation und Führung „in digitalen Arbeitswelten“ zu skizzieren, ist nur eines der Pilotprojekte, mit dem jetzt das neue „Munich Center for Internet Research“ startet, an dem Sie maßgeblich beteiligt sind. Welche Idee steht hinter dem neuen Zentrum? Die Arbeiten des Zentrums sollen die Veränderung von Gesellschaft und Wirtschaft durch das Internet, die heute längst begonnen hat, breit und in seiner ganzen Komplexität erfassen. Es gibt bereits eine Reihe von Forschungsinitiativen auf nationaler wie auf internationaler Ebene, die aber eher Einzelaspekte beleuchten, seien es technische, seien es gesellschaftliche Fragen. Wir werden neben der Wissenschaft auch andere gesellschaftliche Gruppen einbeziehen, etwa bei der Definition von Themen. Dies soll einen kontinuierlichen Prozess der Ideenfindung in einem sich schnell entwickelnden Umfeld garantieren. Mit neuen Mangement-Ansätzen, die aus der Software-Entwicklung kommen, wollen wir zudem die interdisziplinäre Zusammenarbeit und ihr Organisation auf neue Beine stellen.

Um welche konkreten Forschungsvorhaben geht es? In dieser ersten Phase des neuen Münchner Zentrums, an dem sich die LMU, die Technische Universität München, die Max-Planck-Gesellschaft und weitere Hochschulen und Forschungseinrichtungen wie das erwähnte ISF beteiligen, wollen wir neben dem Projekt zu Führung und der Organisation der Arbeit in der digitalen Welt drei weitere Fragestellungen exemplarisch bearbeiten. Das erste Projekt liegt im Schnittfeld von Informatik und Rechtswissenschaft. Es geht dabei um die sogenannte Accountability bei selbststeuernden Systemen: Wer trägt technisch und juristisch die Verantwortung dafür? Wer haftet beispielsweise, wenn ein fahrerloses Auto einen Unfall verursacht? Der Insasse? Die Programmierer der Steuerungssoftware? In einem weiteren Projekt steht die Medienbranche im Fokus, ein fast schon klassisches Feld der Digitalisierung. Die beteiligten Experten untersuchen, wie Mediatheken der Zukunft von öffentlich-rechtlichen Anbietern mit ihrem speziellen Versorgungsauftrag aussehen könnten. Und schließlich geht es um die Frage, wie Plattformen, wie sie heute für die Vermittlung von Autos oder von Wohnraum benutzt werden können, ökonomisch effizienter gemacht, gleichzeitig aber auch in einen regulativen Rahmen gestellt werden können.

Das klingt aber nach sehr spezifischen, exemplarischen Fragen, nicht nach einem Breitwandpanorama der digitalen Welt. Es sind Pilotprojekte - damit wollen wir in der Tat punktuell zeigen, wie unser Themenspektrum aussieht, aber auch, wie wir interdisziplinär zusammenarbeiten, weil interdisziplinäre Zusammenarbeit ja bekanntlich kein Selbstläufer ist. Daneben hat das MCIR aber noch zwei weitere Säulen. Eine dieser Säulen des Zentrums sind Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen, in denen internationale Größen der Internetforschung und –praxis auftreten und die Debatte über das Internet und seine Folgen bereichern. Sprechen werden beispielsweise Alessandro Acquisti, Experte für Informations­technologie und Public Policy aus Pittsburgh, Jarim Lakhani, Experte für Management of Technology Innovation, Harvard Business School, und Helen Nissenbaum, Expertin für Privacy und Online Trust von der New York University. Und schließlich geht es in der dritten Säule darum, Daten zur Internetnutzung auf einer neutralen Basis zu erfassen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das alles soll letztlich zeigen, wie man ein größeres Institut aufbauen könnte, das der angestrebten breiten Ausrichtung entspricht.

Die Staatsregierung baut außerdem seit Kurzem das Zentrum Digitalisierung.Bayern auf. Wie ergänzen sich die beiden Initiativen? Das Zentrum Digitalisierung. Bayern hat einen Fokus auf die Förderung des Wirtschaftswachstums in Bayern, insbesondere durch die Förderung angewandter Forschung, aber auch durch das Schaffen einer Plattform für die Kooperation von Industrien, die bislang nicht zusammengearbeitet haben. Unser Zentrum ist inhaltlich auf die Folgen dieser Entwicklung ausgerichtet und versucht, alle gesellschaftlichen Aspekte und damit auch die unterschiedlichsten Interessensgruppen in den Blick zu nehmen.

Interview: Martin Thurau

Prof. Dr. Thomas Hess ist Direktor des Instituts für Wirtschaftsinformatik und Neue Medien an der LMU, unter anderem Koordinator des Zentrums für Internetforschung und Medienintegration (ZIM), LMU, und gehört der Leitungsgruppe des MCIR an.

Das Munich Center for Internet Research (MCIR) ist ein interdisziplinäres Forschungszentrum der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und untersucht die Auswirkungen des Internet auf Gesellschaft und Wirtschaftsleben. Initiatoren des MCIR sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für Angewandte und Integrierte Sicherheit, des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF), der LMU München, des Max-Planck-Instituts für Innovation und Wettbewerb, der TU München und der Universität der Bundeswehr München.

Wonach suchen Sie?