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In welchem Lebensabschnitt sind die Deutschen am glücklichsten?

31.05.2021

Die zweite Lebenshälfte ist die bessere? Ein Mythos, sagen die LMU-Soziologen Fabian Kratz und Josef Brüderl. Ein Interview über die glücklichste Zeit im Leben.

Marienkäfer

© IMAGO / imagebroker / Patrick Frischknecht

Dr. Fabian Kratz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Quantitative Ungleichheits- und Familienforschung am Institut für Soziologie der LMU und beschäftigt sich insbesondere mit Methoden der Sozialforschung, sozialer Ungleichheit, Bildung und Migration.

Sie haben nachgerechnet, wie sich das Glück über die Lebenszeit der Menschen verteilt, und sprechen vom „Mythos der U-Kurve“. Was sagte diese denn aus?

Fabian Kratz: Die U-Kurve beschreibt das populärste, auch von den Medien am meisten rezipierte Muster für den Zusammenhang von Alter und Lebenszufriedenheit. Sie besagt, dass Menschen in jungen Jahren am glücklichsten sind und dann unglücklicher werden bis hin zu einer Midlife-Crisis. Danach soll das Glück wieder ansteigen. Nach der U-Kurve sind die Menschen also in jungen Jahren und im Alter am glücklichsten.

Worüber sprechen wir überhaupt, wenn wir von Glück reden?

Wir haben Glück durch Lebenszufriedenheit operationalisiert. Hier wird gefragt: „Wie zufrieden sind Sie gerade alles in allem mit Ihrem Leben auf einer Skala von null bis zehn?“ Das ist die am weitesten verbreitete Skala zur Messung von Lebenszufriedenheit, und Lebenszufriedenheit wird am häufigsten verwendet, um subjektives Wohlbefinden oder umgangssprachlich „Glück“ zu messen.

Es geht also weniger um besondere Glücksmomente?

Ja, bei der Lebenszufriedenheitsmessung, die wir verwenden, schon. Sie ist mehr oder weniger eine kognitive Einschätzung, wie gut das eigene Leben derzeit ist. Das steht aber in einem starken Zusammenhang mit besonderen Glücksmomenten. Diese fallen in der Forschung unter das Konstrukt „positive affect“: Menschen, die mehr von solchen Glücksmomenten erfahren, geben auch höhere Werte bei der Zufriedenheit an.

Und wie sieht jetzt die Glückskurve Ihrer Berechnung nach aus?

Zwischen 18 und 55 Jahren geht es auf einer elfstufigen Skala einen Skalenpunkt runter. Dann geht es zwischen 55 und 65 Jahren 0,1 Punkte rauf. Und zwischen 65 und 90 geht es um vier Skalenpunkte abwärts. Der stärkste Effekt ist der sogenannte Old-Age-Decline: Die unglücklichsten Jahre im Leben sind ganz klar die letzten drei bis fünf Jahre vor dem Tod. Es sei denn, man erlebt einen plötzlichen Tod in jungen Jahren.

Aber der Old-Age-Decline widerspricht doch allem, was uns in den Medien vorgelebt wird, wo lächelnde Silver Agers dominieren?

Ja, hier wird ein verzerrtes Bild gezeichnet. Diese Silver Agers gibt es sicher. Repräsentativ für die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen sind sie nicht. Das Problem ist hier, dass falsche Erwartungen geweckt werden, und enttäuschte Erwartungen sind Gift fürs Glück. Bei vielen Menschen wird die zweite Lebenshälfte überschattet von Krankheit und vom Verlust von nahestehenden Menschen. Hier ist es wichtig, die Dinge realistisch zu sehen und früh Mechanismen zu erlernen, damit umzugehen, um eine gewisse Resilienz zu erreichen.

Wobei doch Optimismus bestimmt auch zur Lebenszufriedenheit beiträgt?

Ja, optimistischere Menschen scheinen im Durchschnitt zufriedener zu sein. Wobei der Zusammenhang auch umgekehrt sein könnte: Zufriedenere Menschen sehen die Dinge optimistischer. Enttäuschte Erwartungen machen aber unglücklich. Hier zeigt die Forschung eindeutig, dass niedrigere Aspirationslevel, also geringere Erwartungen, Menschen dabei helfen, besser mit den Widrigkeiten des Lebens zurechtzukommen. Man ist dann eher für die Verletzlichkeiten, die das Leben zwangsweise mit sich bringt, gewappnet, als wenn man denkt, ab jetzt geht es aufwärts, und dann kommt es knüppeldick.

Wenn es Ihrer Berechnung zufolge von jungen Jahren an abwärts mit dem Glück geht: Was ist denn dann der beste Moment im Leben?

Wir verwenden die Daten des deutschen sozioökonomischen Panels, das ist die am längsten laufende Panelstudie mit Informationen über Lebenszufriedenheit, für die Menschen verschiedener Geburtskohorten immer wieder befragt werden. Nach diesen Daten ist der beste Moment schon mit 18 Jahren.

Macht es Sie traurig, dass Sie den besten Moment Ihres Lebens also schon hinter sich haben?

Naja, man muss schon sagen: Das sind gemittelte Kurven, im Durchschnitt ist das so. Es gibt auch individuelle Lebensverläufe, bei denen es steigendes Glück mit dem Alter gibt. Aber bei vielen Menschen ist das Alter ab 65 überschattet von gesundheitlichen Problemen. Und das zeigt die Forschung eindeutig: Es ist wahnsinnig schwer, glücklich zu sein, wenn man Schmerzen oder gesundheitliche Probleme hat.

Noch einmal zurück zu Ihrer Skala: Auf welchem Punkt liegt die durchschnittliche Lebenszufriedenheit − wenn 0 unglücklich und 10 das Maximum an Glück bedeutet?

Das ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. Der World Happiness Report zeigt, dass die zufriedensten Menschen in Finnland leben. Hier beträgt die durchschnittliche Zufriedenheit fast 8. Die unzufriedensten Menschen leben in Afghanistan: Hier beträgt die durchschnittliche Zufriedenheit nur etwa 2,5. In Deutschland sind die Menschen auch recht zufrieden mit einem Schnitt von etwa 7. Diesen groben Wert findet man sowohl im World Happiness Report als auch in den von uns verwendeten Daten des sozioökonomischen Panels.

Das ist doch nicht schlecht, oder?

Nein, das ist in Ordnung. Gleichzeitig gibt es eine starke soziale Stratifizierung. Personen, deren Eltern hochgebildet sind, sind im Durchschnitt glücklicher als andere aus weniger gebildeten Familien. Und Menschen, die selbst hochgebildet sind, sind glücklicher als niedriger Gebildete, das gilt für jedes Lebensalter.

Da gibt es bestimmt viele, gerade Hochgebildete, die in dieser Phase nicht unglücklicher werden. Wenn man aber schon früh negative Erfahrungen gemacht hat und nicht die Ressourcen hat, um sein Glück zu verwirklichen, dann geht es viel steiler bergab. Das Tolle ist, dass man mit seinem Handeln sein Glück beeinflussen kann.

Wie meinen Sie das?

Man kann sein biologisches Altern verzögern, indem man Sport treibt und sich gut ernährt. Man kann auf seine sozialen Netzwerke achten, seine familiären Strukturen und Umzüge so gestalten, dass man immer umgeben ist von Menschen, die man mag. Man kann Wege suchen, mehr soziale Anerkennung zu erfahren, zum Beispiel durch das Ausüben von Ehrenämtern. Viel dreht sich auch darum, das Verhältnis von Stimulation und Komfort zu balancieren: Viel Unzufriedenheit entsteht einerseits dadurch, dass einem alles gerade einfach viel zu viel ist und man deshalb jede einzelne Aufgabe nicht mehr so gut machen kann, wie man eigentlich möchte.

Auf der anderen Seite kann auch zu wenig Stimulation zu tiefer Traurigkeit führen. Hier sei nur auf Tyson Fury verwiesen, der, nachdem er Boxweltmeister wurde, in eine tiefe Depression gestürzt ist, obwohl er scheinbar alles hatte. Es fehlte ein Ziel im Leben. In der Soziologie ist dieses Phänomen unter dem Label „Anomie“ seit Emil Durkheim bekannt.

Aber Sie sagen ja auch, dass die soziale Situation, gerade zu Lebensbeginn, eine große Rolle für die Lebenszufriedenheit spielt. Wird der Unterschied immer größer zwischen denen, die im Alter immer unglücklicher werden, und denen, die es schafften, glücklich zu bleiben?

Ganz genau. Für Bildung haben wir das in einem Artikel gezeigt, der im Fachmagazin European Sociological Review veröffentlicht ist. Die Höhergebildeten haben steilere Einkommensprofile, geringere Wahrscheinlichkeiten, arbeitslos zu werden, und Zugang zu besserer Gesundheitsversorgung. Bei den niedriger Gebildeten ist es umgekehrt. Das sind alles Mechanismen, warum die Schere zwischen den Höhergebildeten und dem Rest im Lebensverlauf immer weiter auseinandergeht. In einem anderen Artikel zeigen wir, dass das auch für die Bildung der Eltern gilt und dass sich damit die Chancen, Glück zu verwirklichen, vererben.

Wenn man solche Muster analysiert, zeigt sich, dass unglückliche und benachteiligte Menschen auch noch eine kürzere Lebenserwartung haben.

Wer früh unglücklich ist, stirbt also auch früh?

Genau. Diese traurige Tatsache führt dazu, dass ab 55 Jahren die Unglücklichen nach und nach aus dem Sample herausfallen, weil sie eben sterben. Teilweise kommt die Verzerrung in der U-Kurve so zustande: Wenn man nur vergleicht, wie glücklich die Menschen mit 20 und mit 90 sind, dann vergleicht man die extrem robuste Happy-Survivor-Population im Alter von 90 mit allen anderen im Alter von 20. Wenn dann behauptet wird, die Menschen würden im Alter glücklicher, liegt das daran, dass die Unglücklichen schon gestorben sind.

Haben Sie Informationen darüber, wie sich die Coronakrise auf unsere Lebenszufriedenheit auswirkt?

Belastbare Erkenntnisse gibt es hier noch wenig. Es gibt aber die folgenden ersten Befunde: Allein lebende Singles sind besonders von fehlender Intimität durch die Abschottung betroffen, was sie unglücklich macht. Insbesondere Selbstständige, die starke wirtschaftliche Verluste hinnehmen müssen, sind unglücklicher geworden. Außerdem bestätigen sich bekannte Muster. So kommen beispielsweise religiöse Menschen besser mit Krisen zurecht. Die Coronakrise könnte im Übrigen dazu führen, dass sich der Mythos, die Lebenszufriedenheit sei U-förmig, im Lebensverlauf weiter verstärkt.

Warum das?

Studien zeigen eindeutig, dass die Wahrscheinlichkeit, einen schweren Verlauf zu haben und daran zu sterben, für benachteiligte Gruppen mit hohem Alter am höchsten ist. Somit könnte sich der sogenannte Mortality Selection Bias verstärken. Es könnte dann so aussehen, als ob Glück nach der Midlife-Crisis stärker ansteigt, nur weil die benachteiligten, unglücklicheren Personen durch die Pandemie eine nochmal kürzere Lebenserwartung haben.

Fabian Kratz hat berechnet, welchen Einfluss Altern auf die Lebenszufriedenheit der Deutschen hat.

Warum beschäftigen sich Forscher überhaupt damit, in welchem Alter wir am glücklichsten sind?

Für Forscher steht das Erkenntnisinteresse im Mittelpunkt. Wir wollen mit unserer Studie dazu beitragen, den Effekt von Altern auf Lebenszufriedenheit richtig zu berechnen, um ein realistisches Bild zu zeichnen. Das Muster, in welchem Lebensalter Menschen zufrieden sind, ist aber auch für politische Maßnahmen relevant. Die Vertreter der U-Kurve fordern beispielsweise Maßnahmen, um den Effekt der Midlife-Crisis abzufedern.

Unsere Ergebnisse würden eher nahelegen, dass wir Lösungen für die Ältesten brauchen. Es gibt alte Menschen, die niemanden mehr haben und vereinsamen. Wenn Menschen pflegebedürftig werden, ist das auch eine Herausforderung für alle, die ihnen nahestehen.

Als ich an der Uni zum ersten Mal von der U-Kurve gehört habe, habe ich mich gewundert. Die Behauptung, im Alter sei man am glücklichsten, war konträr zu allem, was ich persönlich erfahren habe. Ich hatte das Glück, mit drei Uromas und beiden Omas und Opas aufzuwachsen, und war immer sehr viel mit alten Menschen zusammen. Sie haben mir immer vermittelt: Wenn du alt bist, wird es schwierig, genieß dein Leben, solange du noch jung bist.

Dr. Fabian Kratz und Professor Josef Brüderl haben ihren Artikel „The Age Trajectory of Happiness“ auf einem Preprint-Server zur Diskussion gestellt.

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