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Interview: „Das Recht in sein Gegenteil verkehrt“

02.03.2022

Wie sind die Invasion der Ukraine und die Begründung Putins dafür völkerrechtlich einzuordnen? Nachgefragt bei dem Völkerrechtler Christian Walter.

Professor Christian Walter ist Inhaber des Lehrstuhls für Völkerrecht und Öffentliches Recht an der LMU.

Wie ist die russische Begründung für die Invasion in der Ukraine aus völkerrechtlicher Perspektive zu sehen?

Christian Walter: Es ist eine rechtsmissbräuchliche und das Völkerrecht verdrehende Argumentation der russischen Regierung. Die russische Regierung kombiniert falsche oder bestenfalls unbelegte Behauptungen mit umstrittenen Rechtspositionen so, dass das Recht in sein Gegenteil verkehrt wird. Fundamentale Grundsätze des Völkerrechts wie die territoriale Integrität und das Gewaltverbot werden mit fadenscheinigen Argumenten auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker, das den Russen im Donbass angeblich vorenthalten wird, übergangen, um einen Angriffskrieg zu rechtfertigen. Tatsächlich ist es eben keine kleine Militäroperation, wie von Putin behauptet, sondern es ist ein militärischer Angriff, der alle Voraussetzungen einer Aggression im Sinne der UN-Definition von 1974 erfüllt.

Was beinhaltet das Selbstbestimmungsrecht der Völker?

Christian Walter: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist primär auf Autonomie im bestehenden Staatsverband gerichtet. Allenfalls bei schlimmsten Rechtsverletzungen wie Völkermord wird ein Recht auf Sezession erwogen. Aber es gibt im derzeitigen Fall der Ukraine keine Anhaltspunkte dafür, die eine solche Rechtsverletzung belegen würden.

Den instrumentalisierten und missbräuchlichen Umgang mit dem Recht kann man bei der Invasion der Krim 2014 sehen. Die Eigenstaatlichkeit der Krim war damals nur ein extrem kurzes Durchgangsstadium. Unmittelbar nach der Erklärung der Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit ist die Krim Russland beigetreten und damit – wenn sie denn als eigenständiges Völkerrechtssubjekt entstanden ist – sofort wieder untergegangen. Wer so argumentiert, missbraucht das Recht. Die instrumentalisierte Nutzung des Selbstbestimmungsrechts durch Russland zielt auf eine Erweiterung des eigenen Gebiets durch gewaltsame Annexion. Das ist ein Angriff auf die Grundlagen der internationalen Ordnung.

Menschen auf der Flucht

Tausende Menschen flüchten vor den vorrückenden russischen Streitkräften.

© IMAGO / imageBROKER / Florian Bachmeier

Welchen Einfluss können inter- und supranationale Institutionen auf die Befriedung eines Konflikts haben?

Christian Walter: Das erste Forum ist der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Im Krieg gegen die Ukraine ist er offensichtlich nicht entscheidungsfähig, weil ein ständiges Mitglied selbst betroffen ist. Die starke Ausrichtung auf die fünf ständigen Mitglieder ist ein Relikt der machtpolitischen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg. Ob das so bleiben wird, ist eine der Fragen, die nun durch den Ukraine-Krieg zugespitzt werden. Es ist jedenfalls kaum nachvollziehbar, dass Russland in dieser Situation nicht nur über ein Vetorecht verfügt, sondern aufgrund der zufälligen Verteilung der Sitzungsleitung sogar den Vorsitz bei einer Beratung in eigener Sache führt. Es ist offensichtlich, dass eine solche Verfahrensregelung dysfunktional sein muss. Die UN-Generalversammlung berät derzeit ebenfalls über eine Reaktion auf den Angriff auf die Ukraine. Sie kann aber keine verbindlichen Entscheidungen treffen. Unabhängig vom Ausgang des Krieges werden sich nach seinem Ende grundsätzliche Fragen nach der zukünftigen Bedeutung der UN und der Rolle der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat stellen. Auch hier könnte sich der Krieg als eine Zeitenwende erweisen.

Welche Rolle hat der Internationale Gerichtshof?

Christian Walter: Der IGH ist nur zuständig, wenn die Streitparteien seine Gerichtsbarkeit über den konkreten Rechtsstreit anerkannt haben. Das ist für den Einsatz militärischer Gewalt zwischen Russland und der Ukraine nicht der Fall. Eine solche Anerkennung kann aber auch abstrakt und schon vor dem konkreten Streit erfolgen, zum Beispiel in einer Klausel eines völkerrechtlichen Vertrags, mit welcher die Gerichtsbarkeit des IGH für Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien über seine Auslegung und Anwendung begründet wird. Eine solche Klausel findet sich in Art. IX der Völkermordkonvention aus dem Jahr 1948. Auf dieser Basis hat die Ukraine nun eine Klage gegen Russland eingereicht mit dem Ziel festzustellen, dass von ihrer Seite kein Völkermord begangen wurde. Das ist ein kreativer Ansatz, der es dem IGH erlauben könnte, indirekt mittels eines Umwegs über die Völkermordkonvention eine Aussage zur Rechtswidrigkeit des militärischen Angriffs auf die Ukraine zu machen.

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Was kann das Völkerrecht überhaupt leisten, wenn es doch, wie im Fall der Ukraine zu sehen, Kriege offenbar nicht verhindern kann?

Christian Walter: Die zentrale Funktion des Rechts liegt darin, Macht zu begrenzen und einzuhegen. Das setzt voraus, dass dahinter eine gemeinsame Rechtskultur steht, ein grundlegender Respekt vor Werten, die im Recht abgesichert sind und die unbedingt beachtet werden müssen. Vereinfacht formuliert geht es um den Respekt vor dem Recht. Wer die Bilder vom Krieg in der Ukraine sieht und das mit den juristischen Argumenten der russischen Regierung vergleicht, der erkennt sofort, dass es an einem solchen Minimalkonsens, dem Respekt vor dem Recht, fehlt. Wenn es so weit gekommen ist, tut sich das Recht natürlich schwer.

Umso positiver ist die – nach anfänglichem Holpern – überraschend schnell hergestellte große Einigkeit des Westens. Die offensichtliche Völkerrechtswidrigkeit der russischen Invasion wird von allen gebrandmarkt. Ohne diese klare gemeinsame Rechtsüberzeugung und die daraus entstehende Empörung wäre die Einigkeit in der Reaktion, wie wir sie derzeit sehen, nicht zu erreichen. Das ändert leider nicht im Geringsten etwas an der humanitären Katastrophe, die der Krieg in der Ukraine ausgelöst hat. Aber es nährt die Hoffnung, dass der Angriff Russlands auf eine von gemeinsamen Werten getragene internationale Ordnung scheitern wird.

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