News

Interview: „Inflation fördert den Protest“

24.10.2022

Historiker Martin H. Geyer über Teuerung, Hyperinflation und die kollektive Erinnerung an wirtschaftliche Schocks.

Professor Martin H. Geyer ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der LMU. Im Interview erläutert er, welche Unterschiede es zwischen der aktuellen Teuerung und historischen Erfahrungen mit Inflation gibt.

Wenn Sie sich bitte diesen Geldschein der Deutschen Reichsbank aus dem Jahr 1923 ansehen: 100 Milliarden Mark. Ist es denkbar, dass die Europäische Zentralbank mal 100-Milliarden-Euro-Scheine druckt? Oder wenigstens 10-Millionen-Scheine?

Martin H. Geyer: Nein. Das ist sehr, sehr unwahrscheinlich.

Markscheine aus der Inflationszeit

Scheine mit Geldwerten von "Fünf Milliarden Mark", "Fünfzig Milliarden Mark" und "Einhundert Milliarden Mark"

© picture alliance / ZB | Sascha Steinach

Was lässt Sie da so sicher sein?

Die Lage damals war ganz anders. 1923 gab es eine Hyperinflation mit Teuerungsraten von teilweise mehreren Tausend Prozent. Was uns heute theoretisch ins Haus stehen könnte, ist eine Inflation, die sich im Bereich von zehn, 15, vielleicht 20 Prozent bewegt.

In den Medien ist aber oft von „galoppierender Inflation“ die Rede. Ist diese Wortwahl im historischen Vergleich passend?

Eher nicht. Im Sprachgebrauch von Historikern, Wirtschaftshistorikern und Ökonomen ist die Rede von galoppierender Inflation bei Teuerungsraten von um die 50 und über 50 Prozent pro Jahr, also im Übergang dann zur Hyperinflation. Nach dieser Terminologie sind wir heute an der Grenze von einer schleichenden zu einer trabenden Inflation.

Komplexe Situation im Jahr 1923

Wie kam es zu der deutschen Hyperinflation, die 1923 ihren Höhepunkt hatte?

Da kam einiges zusammen. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten alle am Krieg beteiligten Länder Probleme mit der Teuerung, wie man damals sagte. Ein Grund dafür war der Übergang in die Friedenswirtschaft nach einem totalen Krieg. Das war ein schwieriger Umstellungsprozess mit einer riesigen schwebenden Staatsverschuldung und Rohstoffknappheit.

In Deutschland kam die revolutionäre Umgestaltung dazu, neue Erwartungshaltungen an den Staat. Und natürlich spielten für Deutschland Reparationen eine Rolle, also hohe Transfers ins Ausland. Gleichzeitig gab es in der Nachkriegsgesellschaft extrem hohe Aufwendungen für Kriegsfürsorge oder auch Begleichung von Kriegsschäden, also Leistungen an die inländische Bevölkerung. Und denken Sie daran, dass es auch Konflikte wie den Ruhrkampf gab: die Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Truppen und deutschen Widerstand dagegen. Da ergänzen sich also sehr viele Faktoren. 1923 gab es wirklich extrem komplizierte Konstellationen.

Stapel von wertlosen Anleihen auf dem Dachboden

Es ist ja immer wieder die Rede davon, in Deutschland gebe es immer noch eine kollektive Erinnerung an die Hyperinflation des Jahres 1923. Ist das wirklich so, fast hundert Jahre danach?

Bei jungen Leuten heute vielleicht nicht mehr. Aber wer in den 1950er- oder 1960er-Jahren geboren ist, hatte über die Großeltern, oder vielleicht die Eltern, noch Kontakt zu Generationen, die die Hyperinflation erlebt haben. Da lagen möglicherweise zuhause stapelweise wertlose Kriegsanleihen auf dem Dachboden oder in einem Album steckten Inflationsbriefmarken mit astronomischen Zahlen, womit sich oft persönliche Geschichten verbanden.

Man spricht von einem kommunikativen, im Gegensatz zu einem abstrakteren kollektiven Gedächtnis. Ich habe dazu übrigens auch etwas mitgebracht.

Was denn?

Ein Geldschein-Imitat, wie es im Bundestagswahlkampf 1980 kursierte: In einen originalen 100 000-Mark-Geldschein aus der Hyperinflationszeit hatten politische Gegner des SPD-Kanzlers Helmut Schmidt ein Porträtfoto von ihm eingefügt. Das sollte den Vorwurf bebildern, dass die SPD über Haushaltsdefizite Inflationspolitik mit katastrophalen Folgen betreibe. So wurden vor rund 40 Jahren Hyperinflationserinnerungen neu aktualisiert und zugleich in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben.

Proteste in Inflationszeiten

Hyperinflation wie 1923 war ein zeitlich sehr begrenzter Sonderfall, aber mit zweistelligen Inflationsraten haben viele europäische Länder im 20. Jahrhundert immer wieder über Jahre hinweg gelebt, etwa Italien. Wie hat sich das auf die Gesellschaft ausgewirkt?

Was man sicher sagen kann: In Zeiten zweistelliger Inflationsraten nehmen Verteilungskonflikte rapide zu, das ist gar keine Frage. Lohnkämpfe wurden in Italien oder Frankreich in den 1970er-Jahren auch ganz anders ausgetragen als die sehr disziplinierten deutschen Tarifverhandlungen. Da gab es Fabrikbesetzungen, direkten Kampf. Inflation fördert definitiv den Protest.

Was für eine Art von Protest?

Nach dem Ersten Weltkrieg konnte man sehen, dass das ein ziemlich populistischer Protest war, der mit sehr verschiedenen politischen Argumenten verknüpft wurde. Protest in Inflationszeiten kann man mit Antikapitalismus verbinden, mit Antisemitismus, aber auch mit sozialpolitischen Forderungen, also Rentnerproteste etwa.

Gibt es da Parallelen zur aktuellen Inflation?

Ich denke schon, dass Proteste einzelner Gruppen zunehmen. Aber die Inflation vor 100 Jahren hatte eben eine völlig andere Dimension.

Wie hat man eigentlich die Hyperinflation 1923 beendet?

Hyperinflation in den Griff zu bekommen, ist immer extrem schwer. Eine Maßnahme ist eine radikale Währungsreform, dass also eine neue Währung ausgegeben wird. In Deutschland war das zunächst mal die Rentenmark als Übergangslösung, sie wurde von Reichsmark abgelöst. Dazu kam eine radikale Verringerung der Staatsausgaben. Das ist übrigens etwas, was zu der Traumatisierung breiter Bevölkerungsschichten in den 1920er-Jahren auch sehr stark beigetragen hat: Alle, die Leistungen vom Staat bekamen, erlitten drastische Einschnitte. Viele, die im öffentlichen Dienst waren, verloren ihre Stelle. Steuern wurden massiv erhöht.

News

Interview mit Ökonom Andreas Peichl: Die Vermögensungleichheit wird größer

Weiterlesen

Wenn Sie auf die jetzige Teuerung und allgemein die Wirtschaftslage schauen und dabei historische Vergleiche ziehen: Haben Sie Angst?

Nein. Angst, das würde ich nicht sagen. Es passieren zwar in letzter Zeit viele Dinge, mit denen man vor ein paar Jahren nicht gerechnet hätte. Aber ich vertraue darauf, dass die Probleme, wie wir sie jetzt im Augenblick haben, lösbar sind. Natürlich kann noch viel passieren, was wir jetzt nicht erwarten. Und wenn man da alles in Betracht zieht, schläft man natürlich nicht mehr besonders gut.

Sollte man denn keine Worst-Case-Szenarien entwerfen, um auf etwas vorbereitet zu sein, das es ähnlich in der Geschichte schon gegeben hat?

Man kann sagen, Warnungen haben den Sinn, die Bevölkerung auf Einschnitte vorzubereiten. Aber Warnungen können auch in schädlichen Alarmismus und Panikmache umschlagen. Um noch mal auf die Inflation zu kommen: Selbst wenn die noch auf zwölf oder 15 Prozent steigen würde, was natürlich schon sehr dramatisch wäre, glaube ich dennoch, dass sie in den Griff zu bekommen ist, schlimmstenfalls mit einer scharfen Rezession. Dass es in dieser Hinsicht also keinen Kontrollverlust gibt, wie ihn Deutschland schon mal erlebt hat.

Newsletter LMU aktuell

Der Newsletter „LMU aktuell“ erscheint monatlich und informiert über Aktuelles aus Forschung sowie Uni&Campus: Newsletter abonnieren

Wonach suchen Sie?