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Interview zum Krieg in der Ukraine: „Wir rechnen mit vielen psychischen Problemen“

20.04.2022

Flucht unter Lebensgefahr, während die Angehörigen teilweise noch vor Ort sind. Was macht das mit den geflüchteten Menschen aus der Ukraine in Deutschland? Nachgefragt beim Traumaexperten Thomas Ehring.

Am Berliner Hauptbahnhof kommen Kriegsfluechtlinge aus der Ukraine an

Am Berliner Hauptbahnhof kommen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine an (März 2022). | © IMAGO / Jens Schicke

Professor Thomas Ehring ist Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der LMU sowie Leiter der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz.

Schätzungsweise rund vier Millionen Flüchtlinge sind bisher aus der Ukraine geflohen. Gibt es Menschen, die das wegstecken können?

Thomas Ehring:
Menschen reagieren unterschiedlich, das merken wir auch in der aktuellen Situation. Gefühle wie Angst, Trauer, Wut sind übliche Reaktionen auf extreme Ereignisse und werden sicherlich auch von vielen der geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer empfunden. Aber die Reaktion hängt stark davon ab, was Menschen im Krieg, auf der Flucht oder bei der Ankunft erlebt haben.

Wenn die unmittelbare Bedrohung vorbei ist, gibt es unterschiedliche Verläufe. Viele schaffen es, die Erfahrungen gut zu verarbeiten und ihr Leben psychisch weitgehend unbeeinträchtigt weiterzuführen. Aber es gibt auch Personen, die eine psychische Störung entwickeln. Wir wissen von den letzten Fluchtbewegungen nach Deutschland, dass dies leider auf eine große Anzahl zutrifft. Aber wie gesagt: Es betrifft nicht jeden. Es ist erstaunlich zu sehen, wie resilient Menschen auch auf extreme Situationen reagieren können.

Was lösen Bilder aus dem Kriegsgebiet, wie jene aus Butscha, die getötete Zivilisten zeigen, bei Menschen aus, die selbst gerade vor dem Krieg geflüchtet sind?

Selbst für uns sind diese Bilder ja schwer auszuhalten. Umso mehr ist die Konfrontation damit natürlich für Menschen belastend, die selbst gerade vor dem Krieg geflüchtet sind. Bei manchen werden die Bilder Erinnerungen an eigene Erlebnisse hervorrufen. Andere werden sich große Sorgen um Angehörige machen, die sich noch in der Ukraine befinden.

Ab wann spricht man von einem Trauma?

Wir müssen zwischen dem Erlebnis und der Reaktion darauf unterscheiden. Von einem Trauma sprechen wir, wenn Menschen massive Bedrohungen erleben, mit dem Tod bedroht oder verletzt werden oder sexuelle Gewalt erleben. Die Reaktion auf diese Ereignisse kann aber sehr unterschiedlich sein. Manche Personen entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung, bei der Erinnerungen an die Erlebnisse immer wieder kommen, zum Beispiel in Form von Flashbacks oder Albträumen. Betroffene versuchen, alles zu vermeiden, was sie an die Erlebnisse erinnert. Sie sind sehr schreckhaft oder entwickeln Schlafstörungen.

Worauf muss bei der Integration von geflüchteten Kindern und Erwachsenen geachtet werden?

Grundsätzlich ist es hilfreich, wenn Kinder und Jugendliche in die Schule, aber auch Erwachsene in Ausbildung oder Beruf integriert werden. Das kann stabilisierend wirken. Wichtig ist, dass eine Struktur entsteht und Perspektiven aufgezeigt werden.

Wenn geflüchtete Menschen merken, dass sie dauerhaft keiner sinnvollen Beschäftigung nachgehen können, wirkt sich das negativ aus. Generell braucht es vor allem am Anfang viel Verständnis, weil die Personen oft nicht wissen, wie es ihrer Verwandtschaft geht, und entsprechend in großer Sorge sind.

Sollten Helferinnen und Helfer mit den Geflüchteten über ihre Erfahrungen sprechen?

Bei den Menschen aus der Ukraine sind die Erlebnisse noch sehr frisch. Es ist immer gut, Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Wichtig ist aber, dass niemand dazu gezwungen werden sollte, über die Erlebnisse zu sprechen.

In dieser frühen Phase geht es vor allem darum, Sicherheit zu erlangen, soziale Unterstützung zu erfahren und zum Beispiel wieder eine Tagesstruktur zu bekommen. Die Betroffenen können dann am besten selbst entscheiden, ob, wann und mit wem sie über die Erlebnisse sprechen möchten.

Wo können sich traumatisierte Menschen Hilfe suchen?

Es gibt einige Einrichtungen, die auf geflüchtete Menschen eingestellt sind. Das Beratungs- und Behandlungszentrum Refugio München hat sogar spezielle Angebote für Geflüchtete aus der Ukraine. Auch in der Traumaambulanz an der LMU, die ich leite, bieten wir Therapie für traumatisierte Geflüchtete an.

Die psychosoziale und psychotherapeutische Behandlung von Menschen aus einer anderen Kultur hat einige Besonderheiten – zum Beispiel die Herausforderung der anderen Sprache. Bei den Fluchtbewegungen 2015/2016 war das Gesundheitssystem noch nicht so gut auf geflüchtete Menschen eingestellt, aber wir haben aus den Erfahrungen gelernt.

Was genau hat sich seitdem geändert?

Viele Einrichtungen haben Erfahrungen mit der Behandlung von Geflüchteten gemacht. Außerdem wurden verschiedene Studien durchgeführt, um herauszufinden, wie geflüchteten Menschen geholfen werden kann.

So haben wir in der Traumaambulanz zum Beispiel Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan oder afrikanischen Ländern behandelt und untersucht, welche Behandlungsmethoden wir beibehalten und welche wir neu erarbeiten müssen. So ist es zum Beispiel wichtig, die Behandlung so zu adaptieren, dass sie zum kulturellen Hintergrund der geflüchteten Menschen passt.

Reichen denn die vorhandenen Kapazitäten für die Menschen aus der Ukraine aus?

Das müssen wir abwarten. Noch wissen wir zu wenig, was sie erlebt haben und wie viele unter posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen psychischen Störungen leiden werden. Wir wissen aber von früheren Kriegen und Vertreibungen, dass diese Menschen deutlich stärker von psychischen Störungen betroffen sind als die einheimische Bevölkerung. Daher erwarten wir mit etwas Verzögerung viele psychische Probleme.

Betroffene sollten sich unbedingt professionelle Hilfe suchen. Die gute Nachricht ist: Posttraumatische Belastungsstörungen und auch andere psychische Störungen sind gut behandelbar.

Wie lange halten sich die Folgen von Traumata?

Kurz nach einem extremen Ereignis sind viele Menschen davon beeinträchtigt. Wir sprechen in diesem Fall aber noch nicht von Störungen, da dies ja eigentlich eine normale Reaktion auf ein sehr extremes Erlebnis ist. Außerdem gibt es in den ersten Monaten eine steile Erholungskurve – insbesondere, wenn Menschen wieder in Sicherheit sind.

Es wird aber auch immer eine Gruppe geben, die posttraumatische Belastungsstörungen entwickelt. Wenn diese nicht behandelt werden, können sie sogar ein Leben lang anhalten. Zwar gibt es noch die sogenannte spontane Erholung, aber sie wird mit der Zeit seltener.

Auch in Deutschland sind die Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg für einige ältere Menschen selbst im hohen Alter noch eine große Belastung.

Können Traumata auch auf nachfolgende Generationen übertragen werden?

Das ist eine interessante Frage. Es gibt durchaus Hinweise auf einen solchen Effekt. Dafür gibt es verschiedene mögliche Erklärungen, die zum Beispiel mit dem Einfluss der Traumatisierung auf das Erziehungsverhalten oder in der Familie weitergetragene Geschichten und Überzeugungen zu tun haben können. Auch gibt es in der Wissenschaft Hinweise auf biologische Anpassungsprozesse. Aber es bleibt natürlich ein Unterschied, ob man von extremen Ereignissen lediglich gehört oder sie selbst erlebt hat.

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