Interview zur EU: „Alleine in der Welt“
23.06.2025
Warum es der Europäischen Union schwerfällt, sich in einer Zeit globaler Krisen geopolitisch zu positionieren: Interview mit LMU-Jurist Ulrich Haltern.
23.06.2025
Warum es der Europäischen Union schwerfällt, sich in einer Zeit globaler Krisen geopolitisch zu positionieren: Interview mit LMU-Jurist Ulrich Haltern.
Ulrich Haltern ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsphilosophie an der LMU. Im Interview erläutert der LMU-Jurist, wie im Zuge der europäischen Integration eine Utopie Wirklichkeit geworden ist und vor welche Herausforderung der Selbstbehauptungswillen ihrer Mitgliedstaaten die Europäische Union stellt.
vom 18.04.1951 (oben die Unterschrift von Konrad Adenauer | © IMAGO / biky
Was kann die EU zu mehr Frieden in der Welt beitragen? Sie wurde ja selbst gegründet mit dem Ziel, Frieden zu sichern.
Ulrich Haltern: Das war ein Friedensprojekt zwischen den Mitgliedstaaten, das nach wie vor extrem erfolgreich ist. Der Ausgangspunkt war die Schuman-Erklärung 1950, die auf die Gegnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland reagierte. Darin hieß es: Wir vergemeinschaften Kohle und Stahl, damit Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur materiell unmöglich, sondern auch undenkbar ist. Die Utopie schien damals zu sein: Krieg ist undenkbar. Realistisch umsetzbar schien zu sein, dass er materiell unmöglich wird. Das Gegenteil ist heute der Fall: Krieg ist materiell immer möglich. Aber zwischen Deutschland und Frankreich, inzwischen innerhalb der gesamten Union, ist er undenkbar. Das Utopische ist Realität geworden. Aber dieser Erfolg bricht an der Außengrenze. So stark das Friedensprojekt im Inneren ist, so schwach ist es nach außen.
Woran liegt das?
Die Außen- und Sicherheitspolitik der EU ist in der Geschichte der Integration oft kraftlos gewesen, mitunter sogar blamabel. Das liegt allerdings vor allem daran, dass sie keine Kernkompetenz der EU geworden ist. Die Schuld, die hier der EU in die Schuhe geschoben wird, liegt eher bei den Mitgliedstaaten, die ihre außenpolitischen Kompetenzen eifersüchtig bewachen und der Union nicht die Möglichkeit geben, in diesem Bereich eine große Rolle zu spielen. Auch die Mechanismen, die die Union verwendet hat – ihr sogenannter „soft power“ –, sind in der neuen Härte geopolitischen Stühlerückens nicht länger gefragt.
Die EU ist kein Staat, sondern bewohnt den gedrängten Raum zwischen den Staaten. Da stoßen viele Ansprüche aneinander und effektives Handeln ist extrem schwer.Ulrich Haltern, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsphilosophie
Sie haben kürzlich in einem ZEIT-Interview gesagt: „Europa hat eine leere Seele und ein kaltes Herz.“ Warum sehen Sie die EU so?
Das ist die negative Seite dieses großen Erfolgsprozesses. In der Union und ihren 27 Mitgliedstaaten gibt es zwei ganz unterschiedliche Räume des Politischen. Der Raum des Staates ist rechtlich durch den Anspruch auf souveräne Letztentscheidung, politisch durch originäre Ableitung der Herrschaftsgewalt vom Volk und kulturell durch primäre politische Identität geprägt. Staaten gelingt es, tiefe politische Loyalitäten aufzurufen. Im Gegenzug erhalten die Bürgerinnen und Bürger nicht nur Schutz und Sicherheit, sondern auch so etwas wie eine politische Heimat. Sie wissen, wer sie sind.
Das ist in der EU anders. Es fehlt an genau diesen drei Eigenschaften auf den Gebieten Recht, Politik und Kultur. Rechtlich ist die Union in ihren Kompetenzen auf das beschränkt, was die Mitgliedstaaten ihr zubilligen, politisch fehlt es an einem pouvoir constituant und kulturell fehlt es an primärer politischer Identität. Sie ist eben kein Staat, sondern bewohnt den gedrängten Raum zwischen den Staaten. Da stoßen viele Ansprüche aneinander und effektives Handeln ist extrem schwer. Viel hängt außerdem daran, dass die EU nach wie vor in erster Linie durch einen Markt integriert ist: Der Binnenmarkt ist der Kern der Integration, eine veritable Prosperitätsmaschine. Aber Märkte können uns nicht sagen, wer wir sind. Sie sind gleichgültig gegenüber Historizität und Individualität, und ohne diese beiden lässt sich keine Identität hervorbringen. Märkte sehen Menschen als Platzhalter für Bedürfnisse und deren Befriedigung. Damit ist die EU definitiv am dünneren Ende der Skala politischer Vergemeinschaftung angesiedelt.
Zugleich war die Integration gerade aus diesem Grund eine großartige Erfolgsgeschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es ja genau darum, die Historizität und Erdgebundenheit von staatlicher Souveränität zu relativieren und das in der Bevölkerung plausibel zu machen. Der Binnenmarkt und sein Medium, das Geld, vergleichgültigten die furchtbare Vergangenheit, lösten Politik von der Scholle ab, desubstantialisierten das Politische im Liquiden der Geldflüsse und Handelsströme und richteten den Blick auf die Zukunft. Eine geniale Strategie.
Sie wird aber in dem Moment zum Problem, in dem politische Entscheidungen getroffen werden müssen, die dann legitim sind, wenn sie sich auf eine politische Identität stützen können. Das ist aktuell in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Fall.
Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg steht Europa recht alleine in der Welt. Wir verlieren die USA als zuverlässigen Partner. Und die anderen globalen Player sind keine engen Verbündeten. Die Weltordnung, wie wir sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kennen, ist jetzt nicht mehr gegeben, der Westen zerbröselt. Die Erwartungen an Brüssel sind immens: Wollen die Mitgliedstaaten weiter auf der Weltbühne mitspielen und am Tisch sitzen, wenn die Macht neu verteilt wird und die Regeln neu geschrieben werden, bedarf es vertiefter und verbreiterter europäischer Einigung.
Die Erwartungen an Brüssel sind immens: Wollen die Mitgliedstaaten weiter auf der Weltbühne mitspielen und am Tisch sitzen, wenn die Macht neu verteilt wird und die Regeln neu geschrieben werden, bedarf es vertiefter und verbreiterter europäischer Einigung.Ulrich Haltern, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsphilosophie an der LMU
Ist die fehlende politische Identität also der Grund, warum sich die EU schwertut, auf die aktuelle Weltlage zu reagieren?
Ja. Politische Identität ist das Merkmal einer tiefen politischen Vergemeinschaftung. In einer solchen Vergemeinschaftung kann man erstens langfristig strategisch denken und zweitens Handel, Investitionen, Verteidigung und Politik zu einer einheitlichen Strategie verschmelzen. Man kann die drei Elemente von Geopolitik – Macht, Territorium, Narrativ – bündeln und ausrichten. Das ist der Union immer fremd geblieben: Macht ist bei den Mitgliedstaaten angesiedelt, Territorium ist in der Union mit ihren Erweiterungsrunden, dem Brexit und den mitgliedstaatlichen Zugriffen auf alles Territoriale geradezu klassisch unplausibel, und ein gemeinsames europäisches Narrativ hat sich gegenüber den konkurrierenden mitgliedstaatlichen Narrativen nie durchsetzen können.
Die Union kann diese Leerstellen nicht einfach von heute auf morgen füllen. Politische Vergemeinschaftung ist nicht nur eine Frage des Interesses und der Vernunft, sondern auch des Glaubens – in der politischen Theorie spricht man von „imagined communities“, vorgestellten Gemeinschaften. Man kann sich aber nicht durch gute Argumente zum Glauben hangeln.
Das hat sich im Laufe der Integrationsgeschichte immer wieder gezeigt. Fortschritte auf der Unionsebene, die vernünftig waren, im langfristigen Interesse aller Mitgliedstaaten waren und europäisches Regieren effektiv machten, führten auf mitgliedstaatlicher Ebene regelmäßig und politikbereichsübergreifend zu tiefen Ambivalenzen.
Nehmen Sie die Art, wie im Ministerrat Entscheidungen getroffen werden. Ursprünglich ging das nur einstimmig. Dadurch hatte jeder Mitgliedstaat ein Veto und kontrollierte 100 Prozent der entstehenden Normen. Mit steigender Mitgliederzahl funktionierte das immer weniger, sodass das Mehrheitsprinzip für erst einzelne, dann immer mehr Bereiche eingeführt wurde. Das ist viel effizienter, führt aber dazu, dass Mitgliedstaaten überstimmt werden können und an Normen gebunden sind, die sie nicht wollen.
Mehrheitsabstimmungen sind in einer Demokratie selbstverständlich. Aber in einer Gemeinschaft, in der wir nach wie vor Polinnen und Deutsche, Italiener und Französinnen sind, kommt dadurch der Gedanke auf, der zum Brexit geführt hat: Ich fühle mich plötzlich fremdbestimmt. Das ist ein tiefes demokratisches, aber auch identitätspolitisches Problem.
Aber mit inzwischen 27 Mitgliedstaaten lässt sich nicht immer einstimmig entscheiden.
Absolut. Und die Heterogenität ist atemberaubend. Wir haben Staaten mit Außengrenze und ohne, mit und ohne Euro, groß und klein, arm und reich, Ost und West, Nord und Süd, agrargeprägt und industriell. Das ist ungeheuer schwierig unter einen Hut zu bekommen. Es ist ein Zeichen der Resilienz der EU, dass es möglich war, von sechs auf 27 Mitgliedstaaten zu gehen. Aber Resilienz hat Grenzen, wir waren auch mal 28. Die Grenze ist dieses Gefühl, fremdbestimmt zu sein, und das hat seinen Ausgangspunkt darin, dass die Union kein Staat ist, der seinen Fluchtpunkt in der Volkssouveränität hat. Die Union hat viele Fluchtpunkte, Repräsentation funktioniert hier wie ein Prisma.
Ich denke, es ist uns fast allen wichtig, dass Deutschland und die anderen Staaten in die EU integriert sind. Aber eine primäre politische Identität wird daraus nicht.Ulrich Haltern, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsphilosophie an der LMU
zeigt einen Kreis aus zwölf Sternen, die sinnbildlich für die Werte Einheit, Solidarität und Harmonie zwischen den Völkern Europas stehen. | © IMAGO / Bihlmayerfotografie
Müsste die EU mehr tun, damit sich die Bürgerinnen und Bürger mit ihr identifizieren?
Ich denke, es ist uns fast allen wichtig, dass Deutschland und die anderen Staaten in die EU integriert sind. Aber eine primäre politische Identität wird daraus nicht. Ich kenne nur wenige, die behaupten, dass sie in erster Linie Europäer sind. Die Umfragen, die die Kommission regelmäßig in Auftrag gibt, bringen die immergleiche Antwort: Die primäre Identität sehen die Bürgerinnen und Bürger in ihrem jeweiligen Staat.
Die Union versucht, eine europäische Identität hervorzubringen, auch mit Unterstützung der Mitgliedstaaten. Dabei greift sie tief in die Zauberkiste staatlicher Heraldik. Heraus kommen dann eine Hymne und eine Fahne mit 12 Sternen, die symbolisch beladen werden. Da ist was Hölzernes dran, es ist nicht authentisch.
Es gibt Ausnahmen. Als die Ukraine von Russland überfallen wurde, wurden Europaflaggen gehisst und es war klar: Das bedeutet und steht für etwas. Aber auch dieses „Etwas“ war nicht eine primär europäische Identität.
Was hat sich in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine getan? Gibt es Veränderungen?
Ja, viele. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird zunehmend überlagert durch die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, und zwar gerade im Verteidigungsbereich. Es gibt schon mehrere Rechtsakte und viele weitere Vorschläge, den Rüstungsmarkt zu verändern. Das Ziel ist die größere Unabhängigkeit von den USA und die Förderung gemeinsamer Beschaffungsvorhaben. Dafür werden neue Finanzierungsinstrumente zur Verfügung gestellt und ein Netz von Beteiligten über die Unionsmitglieder hinaus eingerichtet: natürlich das Vereinigte Königreich, aber auch die EFTA-Staaten, die Ukraine, die Beitrittskandidaten und Sicherheitspartner wie Japan und Südkorea.
Das heißt, der Weg führt auch hier wieder über die engere wirtschaftliche Zusammenarbeit?
Ja, jedenfalls zu einem guten Teil. Das ist eben die Kernkompetenz der Union. Darüber gibt es einen großen Konsens und deswegen funktioniert es auch gut. Ineffektivitäten beseitigen, einen großen europäischen Markt herstellen – das ist, was die Union seit 1952 macht. Das war immer das Erfolgsrezept und das geht nun auch beim Rüstungsmarkt, der zuvor sicherheitspolitisch, daher national geprägt und fragmentiert war. Es geht natürlich viel weniger bei einer Armee. Militärische Fähigkeit beruht darauf, dass es eine einheitliche politische Führung, einen einheitlichen Befehl gibt. Das ist innerhalb der Union kaum zu machen.
Sehen Sie Strategien, dass sich daran etwas ändert?
So etwas braucht entweder einen großen, praktisch unwiderstehlichen politischen Impuls oder viel Zeit bei der immer stärkeren Vernetzung der militärischen Kapazitäten. Viel Zeit haben wir nicht, wenn man den Verteidigungsexperten glaubt, und richtig unwiderstehlich scheint der momentane politische Impuls auch nicht zu sein. Es wird wohl eine Mischung sein, in der die stärkeren und willigen Mitgliedstaaten die kleineren mitzuziehen und außerdem eine neue Sicherheitsarchitektur mit weiteren Partnern zu errichten versuchen. Mögliche Partner habe ich ja gerade genannt.
Im Vergleich mit dem Völkerrecht ist die EU in einem anderen Universum angesiedelt, was die Verbindlichkeit und Durchsetzungsfähigkeit von Entscheidungen betrifft.Ulrich Haltern, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsphilosophie an der LMU
lehrt Europa- und Völkerrecht. „Den Studierenden, die dieses Fach häufig aus idealistischen Gründen wählen, erklären zu müssen, dass es auch an der Schwäche des internationalen Rechts liegt, dass die Welt so blutig ist, ist furchtbar. Ich versuche, daraus eine Stärke zu machen und sie dafür zu motivieren, mehr für die Stärke des Rechts zu tun.“ | © Martin Henze
Wie ist die EU mit ihren Problemen im Vergleich mit anderen internationalen Organisationen und völkerrechtlichen Verträgen einzuordnen?
Im Vergleich mit dem Völkerrecht ist die EU in einem anderen Universum angesiedelt, was die Verbindlichkeit und Durchsetzungsfähigkeit von Entscheidungen betrifft. Das Völkerrecht ist eine hierarchisch flache Rechtsordnung, bei der die Rechtserzeuger zugleich die Rechtsunterworfenen und -durchsetzer sind. Damit ist klar, dass man die Durchsetzung des Rechts gegen sich selbst recht einfach verhindern kann. Das sehen wir ja auch ständig, und es wird schlimmer. Manchmal frage ich mich, ob es noch internationales „Recht“ gibt, das den Namen verdient.
Die Europäische Union hat das historische Glück, dass der Europäische Gerichtshof in den 1960er-Jahren das europäische System der Rechtsdurchsetzung festgezurrt hat. Die Mitgliedstaaten können die Durchsetzung des Unionsrechts gegen sich selbst weder einfach noch ohne Konsequenzen verhindern. Aber das ist auf bestimmte Themen begrenzt. Bisher gehörte die Verteidigungs-, Außen- und Sicherheitspolitik nicht dazu. Wenn die Europäische Union geopolitisch eine Rolle spielen will, wird es hier zu Änderungen kommen müssen. Aber genau das ist ja das große, fast tragische Dilemma im Herzen der Integration: Effektivität wird gegen Selbstbestimmung verrechnet.
Einerseits wollen wir weiter auf der Weltbühne mitspielen, und dazu braucht es tiefere Integration. Andererseits ist Verteidigung etwas anderes als die Abschaffung von Handelshindernissen. Will Deutschland oder Polen wirklich, dass 26 andere Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament und die ganz unabhängige Kommission ein Mitspracherecht bei der Entscheidung erhalten, ob sie ihre jungen Männer und Frauen an eine Front zum Töten und Sterben schicken? Möglicherweise ist das eine Entscheidung, die „wir“ – also die politische Gemeinschaft, die unsere Loyalität legitim abrufen kann und unsere politische Identität formt – für „uns“ selbst treffen wollen. Das führt praktisch immer in die Ambivalenz und zu enttäuschten Erwartungen.
Immerhin sind diese Erwartungen an die Union ein Zeichen dafür, dass sie im Leben der Bürgerinnen und Bürger immer wichtiger wird. Wenn es darum geht, auf der Weltbühne etwas zu tun, blicken alle nach Brüssel. Das zeigt, wo die Union bereits steht. Wenn Sie einen Silberstreif am Horizont wollen: Das ist er.
Ulrich Haltern ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsphilosophie. Aktuell sind zwei Bücher von ihm erschienen: „Verschlungene Staaten. Die paradoxe Mechanik der europäischen Integration“ im Verlag C.H. Beck und „The Constitution of the European Union“ im Verlag Hart Publishing, einem Imprint von Bloomsbury.
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