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Kosmologie: Auf der Spur großer Rätsel

15.02.2024

Durchmusterung des Röntgenhimmels durch Teleskop eROSITA bestätigt Voraussagen des kosmologischen Standardmodells mit hoher Präzision und gibt Hinweise auf Masse der mysteriösen Neutrinos.

Das Anwachsen von Galaxienhaufen, den größten Strukturen überhaupt, erlaubt es, Rückschlüsse auf den gesamten Materiegehalt des Universums und den Grad seiner Ungleichverteilung zu ziehen. Dies ist der Inhalt einer Reihe von Veröffentlichungen, die das deutsche eROSITA-Konsortium unter Leitung des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik, mit wichtigen Beiträgen der LMU München, nun vorgestellt hat. Die Ergebnisse bestätigen das kosmologische Standardmodell und entschärfen die sogenannte S8-Unstimmigkeit. Gleichzeitig geben sie Aufschluss über die zwei großen Unbekannten der modernen Physik: die Masse der Neutrinos und den Druck der dunklen Energie. Die Studien basieren auf einem der bisher größten Kataloge von Galaxienhaufen, der ebenfalls heute veröffentlicht wird, und auf Messungen des schwachen Gravitationslinseneffekts in mehreren optischen Durchmusterungen. Die neuen Ergebnisse verdeutlichen das immense Entdeckungspotenzial von eROSITA, mithilfe dessen unser kosmologisches Verständnis verfeinert werden wird.

Katalog des eROSITA-Galaxienhaufens des halben Himmels

Die Farben geben die Rotverschiebung (Entfernung) der Haufen an, die von 0 bis 1,3 reicht, was bedeutet, dass das Licht bis zu 9 Milliarden Jahre unterwegs war; die Größe der Kreise zeigt die scheinbare Röntgenhelligkeit der Quelle.

© MPE, J. Sanders für das eROSITA-Konsortium

Vor zwei Wochen veröffentlichte das deutsche eROSITA-Konsortium bereits die Daten seiner ersten vollständigen Himmelsdurchmusterung. Das Hauptziel der Mission ist ein besseres Verständnis der Kosmologie mittels der Beobachtung, wie sich Galaxienhaufen – die größten Strukturen in unserem Universum – im Laufe der kosmischen Zeit zusammenballen. eROSITA beobachtet die Röntgenstrahlung, die von heißem Gas in Galaxienhaufen emittiert wird, und kann damit sowohl die Gesamtmenge der Materie im Universum als auch deren Grad der Verklumpung präzise messen. Die eROSITA-Messungen belegen nicht die früher beobachteten Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen Messungen der Verklumpung, insbesondere mit dem kosmischen Mikrowellenhintergrund (CMB) und dem schwachen Gravitationslinseneffekt.

Um die Röntgenstrahlung, die eROSITA misst, wissenschaftlich interpretieren zu können, muss diese mit der Masse der Galaxienhaufen in Verbindung gebracht werden. Das eROSITA-Konsortium baut hierfür auf existierende Ansätze anderer Forschungsgruppen auf und verwendet Messungen des schwachen Gravitationslinseneffekts, um die Massen verlässlich abzuschätzen. „Der schwache Gravitationslinseneffekt verzerrt entfernte Hintergrundgalaxien nur ein klein wenig, und eine genaue Messung erfordert daher viele Daten”, erklärt Professor Daniel Gruen, Inhaber des Lehrstuhls für Astrophysik, Kosmologie und Künstliche Intelligenz an der LMU München, der Teile der Kalibrierung der Gravitationslinsen-Daten geleitet hat. „Für eROSITA haben wir Informationen der neuesten großskaligen und tiefen Beobachtungen des Dark Energy Survey, des Kilo Degree Survey und des Hyper Suprime-Cam Subaru Strategic Program verwendet – ein wahrhaft globales Projekt.“

Kosmologische Messungen erweisen sich als überaus verlässlich

Die Analyse der Gravitationslinsen-Daten des Dark Energy Survey leitete Sebastian Grandis, Postdoktorand an der LMU und inzwischen Senior Scientist in Innsbruck. „Die Präzision der neuen eROSITA-Ergebnisse ist ein großer Schritt nach vorn“, sagt Dr. Sebastian Bocquet, Wissenschaftler an der LMU, der an der Leitung der Dark Energy Survey-eROSITA-Analyse beteiligt war. Er ist außerdem für eine vor Kurzem vorgestellte Analyse eines unabhängigen Katalogs von Galaxienhaufen verantwortlich, der auf Millimeterwellen-Daten des South Pole Telescope (SPT) basiert. „Die Tatsache, dass zwei unabhängige Analysen von Galaxienhaufen darin übereinstimmen, dass der S8-Parameter nicht kleiner als im CMB gemessen ist, ist äußerst spannend und bestätigt, dass kosmologische Messungen von Galaxienhaufen und deren Gravitationslinseneffekt verlässlich sind“, sagt Bocquet.

„eROSITA hebt damit die Messung der Entwicklung von Galaxienhaufen als Instrument für die Präzisionskosmologie auf eine neue Stufe“, sagt Dr. Esra Bulbul (MPE), die das eROSITA-Team für Galaxienhaufen und Kosmologie leitet. „Die kosmischen Parameter, die wir mittels Galaxienhaufen messen, stimmen mit den modernsten CMB-Daten überein und zeigen, dass das gleiche kosmologische Modell von kurz nach dem Urknall bis heute gilt.“

Nach dem kosmischen Standardmodell, dem sogenannten Lambda Cold Dark Matter(ΛCDM)-Modell, war das junge Universum ein extrem heißes, dichtes Meer aus Photonen und Teilchen. Im Laufe der kosmischen Zeit wuchsen winzige Dichteunterschiede zu den großen Galaxien und Galaxienhaufen, die wir heute sehen. Die Beobachtungen der eROSITA-Galaxienhaufen zeigen, dass alle Arten von Materie (sichtbare und dunkle) 29 Prozent der derzeitigen Gesamtenergiedichte des Universums ausmachen – in hervorragender Übereinstimmung mit Werten aus Messungen der kosmischen Mikrowellen-Hintergrundstrahlung aus der Frühzeit des Universums.

Drei eROSITA-Galaxienhaufen in unterschiedlichen Entfernungen

Die dargestellten Rotverschiebungen von 0,4, 0,9 und 1,3 entsprechen Zeiten von 4, 7 und 9 Milliarden Jahren, die das Licht zu uns unterwegs war.

Neben der Messung der durchschnittlichen Materiedichte hat eROSITA auch den Grad der Verklumpung der Materieverteilung mithilfe eines Parameters namens S8 gemessen. In den letzten Jahren hat sich in der kosmologischen Forschung die sogenannte „S8-Unstimmigkeit“ herausgebildet. Diese besteht darin, dass bei Studien basierend auf dem kosmischen Mikrowellenhintergrund ein höherer S8-Wert gemessen wird als z.B. bei Untersuchungen des schwachen Gravitationslinseneffekts. Es könnte auf eine neue Physik hindeuten, wenn diese Diskrepanz nicht anders erklärt werden kann. eROSITA bestätigt eine solche Unstimmigkeit mit den neuesten und besten Messungen jedoch nicht. „eROSITA sagt uns, dass sich das Universum während der gesamten kosmischen Geschichte verhalten hat wie erwartet“, sagt Dr. Vittorio Ghirardini, Postdoktorand am MPE und verantwortlich für die kosmologische Studie. „Es gibt keine Diskrepanzen zum CMB – vielleicht können sich die Kosmologen jetzt ein wenig entspannen.“

Beschaffenheit des Universums verstehen

Die größten Strukturen im Universum enthalten zudem Informationen über die kleinsten Teilchen: Neutrinos. Diese Leichtgewichte sind fast unmöglich zu entdecken. „Es mag paradox klingen, aber wir haben durch die Häufigkeit der größten Objekte im Universum klare Hinweise auf die niedrige Masse der leichtesten bekannten Teilchen gefunden“, sagt Ghirardini. Obwohl Neutrinos klein sind, sind sie „heiß“, bewegen sich also fast mit Lichtgeschwindigkeit. Daher neigen sie dazu, die Verteilung der Materie zu glätten – was durch die Analyse der Entwicklung der größten kosmischen Strukturen untersucht werden kann. „Wir stehen sogar kurz vor einem Durchbruch bei der Messung der Gesamtmasse der Neutrinos, wenn wir sie mit Neutrinoexperimenten auf der Erde zusammenbringen“, sagt Ghirardini. Die Häufigkeit der Galaxienhaufen in den eROSITA-Daten allein ergibt eine Obergrenze für die Gesamtmasse von 0,22 eV; in Kombination mit den CMB-Daten verringert sich diese sogar auf 0,11 eV (bei einer Wahrscheinlichkeit von 95%). Dies ist die bisher genaueste kombinierte Messung aus allen kosmologischen Beobachtungen.

eROSITA kann uns aber noch mehr über die Beschaffenheit des Universums verraten. Die Gravitationstheorien sagen voraus, dass große kosmische Strukturen im Laufe der Entwicklung des Universums mit einer bestimmten Geschwindigkeit wachsen sollten. Mit den eROSITA-Daten kann diese Wachstumsrate gemessen werden. Die derzeitige Analyse hat bereits eine Reihe von Erweiterungen der Allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins ausgeschlossen.

Die eROSITA-Daten stellen einen wichtigen der vielen Datensätze dar, die der wissenschaftlichen Gemeinde im Laufe der nächsten Jahre zur Verfügung stehen werden. In Europa liegt ein besonderes Augenmerk auf dem Euclid-Satelliten, der vor wenigen Monaten erste Daten lieferte. Professor Joe Mohr, Inhaber des Lehrstuhls für Strukturbildung und Kosmologie an der LMU und eROSITA Senior Scientist von 2009 bis 2020, erklärt das große Ganze: „Die eROSITA-Ergebnisse bestätigen das Potenzial, das moderne Messungen des Gravitationslinseneffekts wie etwa im Dark Energy Survey in Kombination mit Röntgendaten von Galaxienhaufen bergen. Ich finde diese neuen Ergebnisse besonders interessant, weil sie doch etwas anders sind als die der meisten aktuellen kosmologischen Studien. Wir werden den eROSITA-Galaxienhaufen-Katalog in naher Zukunft in Kombination mit Gravitationslinsen-Daten von Euclid und dem Vera C. Rubin-Observatorium analysieren können. Eine solche unabhängige Arbeit mit besseren Gravitationslinsen-Daten wird zeigen, ob die Unterschiede in den gemessenen kosmologischen Parametern signifikant sind oder nicht.“

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