News

Lange Zeit der Zähmung

02.05.2023

Die Geschichte der Domestikation: Es war ein weiter Weg von den wilden Vorfahren bis zu den uns vertrauten Nutztieren. Der Paläoanatom Joris Peters untersucht die wechselvolle Beziehung zwischen Mensch und Tier. Ein Porträt aus dem Magazin EINSICHTEN

Lange Zeit in seiner Geschichte war der Mensch allein unterwegs. Kein Hund, keine Katze, kein Hamster und auch kein Fisch im Aquarium begleiteten ihn. Und in seiner Nähe befanden sich auch keine Ställe und Weiden mit Rindern, Schweinen, Schafen oder Hühnern. Warum aber begann eigentlich die inzwischen Jahrtausende lange Beziehung von Mensch und Tier, die manchmal von tiefer Innigkeit geprägt ist, oft aber auch von kühler, rein wirtschaftlich ausgerichteter Nutzenbetrachtung? Hat der Homo sapiens eines Tages einfach beschlossen, den Kreaturen die Wildheit auszutreiben? Letzteres kann die Forschung heute mit einem klaren Nein beantworten. „Man kann mit einiger Berechtigung die Frage stellen, wer hier eigentlich wen gezähmt hat“, sagt Joris Peters, LMU-Professor für Paläoanatomie an der Tierärztlichen Fakultät. „Die Domestikation war außerdem ein langer Prozess, der je nach Tierart recht unterschiedlich ablief.“

Porträt von Prof. Dr. Joris Peters

Domestikation begann aus Opportunitätserwägungen heraus, sagt Joris Peters, nicht mit dem klaren Ziel, etwa aus Auerochsen Hausrinder zu machen.

© Oliver Jung/ LMU

Was die Natur von uns verlangt

Lesen Sie die Antworten in der neuen Ausgabe unseres Forschungsmagazins EINSICHTEN unter www.lmu.de/einsichten. | © LMU

Der Wolf wurde bereits sehr früh zum Gefährten des Menschen: Jäger und Sammler knüpften vor 15.000 oder gar mehr Jahren die ersten Bande, und so begleitet uns der Hund als unser ältestes Haustier schon seit der Altsteinzeit. Doch damit ist er eher eine Ausnahme, denn der Prozess der Domestikation, mit dem etwa Schwein, Schaf, Ziege und Rind zu Haustieren wurden, begann vor gut 10.500 Jahre am oberen Euphrat im heutigen Anatolien, als der Mensch in der Region des Fruchtbaren Halbmonds sesshaft wurde. Hühner hingegen ergänzten den Nutztierbestand erst viel später. Sie stammen vom Bankivahuhn (Gallus gallus) ab, das im frühen zweiten Jahrtausend vor Christus in Südostasien domestiziert wurde. Nach Europa gelangte das Haushuhn dann vor etwa 2.800 Jahren.

Um die Domestikationsgeschichte verschiedener Tierarten rekonstruieren zu können, sind Forscherinnen und Forscher vor allem auf archäologische Funde in Form von Knochen und Zähnen angewiesen. „Ich kann nur analysieren, was aus Ausgrabungen zur Verfügung steht“, sagt Joris Peters. Ergänzen lässt sich das durch molekularbiologische Analysen – falls es denn nach so langer Zeit noch möglich ist, aus den Knochen Proteine oder sogar Erbgut zu isolieren. „Die klimatischen Bedingungen für die Erhaltung von DNA sind in Zentralanatolien gut, in Südostanatolien aufgrund der durchschnittlich höheren Temperaturen, die zur Degradation alter Biomoleküle in den Knochen führen, aber sehr schlecht – und genau dort vermuten wir die frühesten Ursprünge der Domestikation.“ Insgesamt ergibt sich ein noch immer lückenhaftes Bild des Domestikationsprozesses, den sich die Forschung jedoch wohl lange Zeit als allzu geradlinig und zielgerichtet vorgestellt hat.

Forscher sehen Domestikation inzwischen vielmehr als Prozess, bei dem der Mensch über viele Generationen hinweg eine dauerhafte und vor allem wechselseitige Beziehung mit den Tieren einging. An deren Anfang kam wohl erst einmal das Tier zum Menschen und nicht umgekehrt. „Es gibt tatsächlich Tiere, die eine solche Beziehung fast auf natürliche Art und Weise eingehen“, sagt Peters. „Diese Arten werden von menschlichen Siedlungen nahezu angezogen – klammert man den Sonderfall Wolf aus, war das eine wichtige Voraussetzung für die Haustierwerdung.“ Die Domestikation bäuerlicher Wirtschaftstiere wie Rind, Schaf, Ziege oder Schwein setzte also voraus, dass einst mobile Jäger-Sammler-Gruppen zumindest teilweise sesshaft wurden.

Menschliche Siedlungen bieten Futterquellen

„Siedlungen waren von Anfang an attraktiv für eine Reihe von Kulturfolgern“, erklärt Joris Peters. Denn die Menschen legten rund um ihre Wohnstätten Felder und innerhalb der Siedlung Vorratslager etwa mit Getreide und Hülsenfrüchten an, entsorgten auch ihre Abfälle in unmittelbarer Nähe. Wildschweine zog es vor allem zu den Feldern und Abfallhalden und die Nahrungsvorräte lockten Nagetiere an, sodass sich im Gefolge Wildkatzen neue Jagdreviere in menschlicher Nähe erschlossen. „Als der Mensch begann, Wildgetreide zu kultivieren und die ersten Felder anlegte, öffnete er eine Nische für weitere Tiere“, sagt Peters. Wildschafe und Wildrinder kamen, um auf den Anpflanzungen und abgeernteten Feldern zu fressen. In vergleichbarer Weise aber zeitlich deutlich später „entdeckten“ Wildhühner die Reisfelder Südostasiens als neue Nahrungsquelle, nachdem sich dort im Zuge einer Bevölkerungseinwanderung aus dem Yangtze Becken der Anbau der Kulturpflanze neu etabliert hatte. „Sich eine ergiebige und dauerhafte Futterquelle erschließen zu können, scheint für Wildtiere das Risiko wert gewesen zu sein, sich in menschliche Nähe zu begeben.“

Eine neue Beziehung zum Menschen: von der Jagdbeute zum Nutztier

Um seine Ernte zu schützen, machte der Mensch Jagd auf die unerwünschte Konkurrenz – und nutzte sie dabei als willkommene Fleischquelle. Durch bewusste Platzierung von Abfällen ließ sich Jagdbeute auch gezielt anlocken. „So baute sich allmählich eine neuartige Mensch-Tier-Beziehung auf, und womöglich verloren die Tiere ein Stück weit an Scheu, wenn sie in der Nähe eines Dorfes auf Nahrungssuche gingen“, sagt Peters. „Mit der Zeit begannen sie wahrscheinlich auch, sich dort mehr oder weniger permanent aufzuhalten und schließlich sogar fortzupflanzen.“

Während sich die Tiere trotz der Jagd an die Vorzüge des Lebens in menschlicher Nähre gewöhnten, lernte auch der Mensch das enge Zusammenleben schätzen und fing „lebende Vorräte“ ein, was irgendwann in eine permanente Tierhaltung mündete. Waren die Tiere erst einmal unter menschlicher Obhut, war die Verfügbarkeit tierischer Ressourcen vorhersehbarer. Behielt man die tierischen Rohstofflieferanten in der eigenen Siedlung, konnte man ihre Bewegungsradien kontrollieren und folglich auch die bei Wildschafen und -ziegen üblichen langen Wanderungen zwischen Sommer- und Winterweiden unterbinden.

Wie der Übergang von der Bejagung zur Einhegung und damit der erste Schritt zum Nutztier genau vonstattenging, ist jedoch noch unklar. „Vermutlich begann es mit Jungtieren – denn das ist schließlich einfacher als ausgewachsene Exemplare einzufangen“, sagt Peters. Vor allem beim Wildrind erscheint das plausibel. „Wer kann und möchte sich schon tagtäglich um einen ausgewachsenen Auerochsen mit 600 bis 900 Kilo und massiven Hörnern kümmern?“

Knochenarbeit

Paläoanatom Joris Peters ist angewiesen auf archäologische Funde in Form von Knochen und Zähnen. „Ich kann nur analysieren, was aus Ausgrabungen zur Verfügung steht.“

© Oliver Jung / LMU

Genetisch isoliert von den wildlebenden Artgenossen

Mit der Zeit entdeckte der Mensch dann noch weitere Vorzüge seiner Haustiere, etwa den Nährwert der Milch oder die Arbeitskraft. Langsam setzte sich das neue Lebensmodell durch. „Die Leute in den Kerngebieten der Domestikation im oberen Euphrat-Becken haben wahrscheinlich früh Wissen ausgetauscht“, sagt Peters. „Schließlich geschah das über Hunderte Kilometer hinweg auch mit Werkzeugen oder religiösen Vorstellungen.“ Inwiefern Anfangs auch Tiere gehandelt wurden, ist noch unklar, später wurde dies aber zur gängigen Praxis, wie die Verbreitung der Haustierhaltung zeigt.

Ebenfalls schwer festzuhalten ist der Zeitpunkt, von dem an man tatsächlich von domestizierten Tieren sprechen kann. Dafür muss sich eine Population letzten Endes genetisch von den wildlebenden Artgenossen isolieren. Sobald diese Verbindung gekappt ist und die vom Menschen gehaltenen Tiere sich nur noch untereinander fortpflanzen, entsteht eine neue Teilpopulation. Doch in der Frühzeit der Domestikation gab es zunächst keinen klaren Schnitt zwischen Wild- und Nutztierpopulation: Immer wieder kam es zu Einkreuzungen, weil sich Tiere auf den Weiden ungewollt mit wilden Verwandten verpaarten – oder sich der Mensch bewusst Nachschub aus der freien Wildbahn holte.

Denn erst einmal gab es über Tierhaltung noch viel zu lernen: Wie hält man Tiere in Gefangenschaft? Was hält sie gesund? Gelingt es, sie in Gefangenschaft zu vermehren? „Wir kennen heute knapp 20 Nutztierarten, aber wahrscheinlich gab es vergebliche Versuche mit anderen Arten, von denen wir gar nichts wissen“, sagt Peters. Und auch wenn es klappte, war der Weg bis zu einer effektiven Tierhaltung weit.

Dass die Menschen insbesondere in der Frühphase der Domestikation Probleme hatten, können Forschende zum Beispiel anhand der Knochen von Schafen und Ziegen aus der Zeit vor 10.300 bis 9.800 Jahren nachvollziehen: „Wir vermuten, dass die Tiere anfangs auf viel zu engem Raum – wahrscheinlich im Innenhof von Häusern – gehalten und auch nicht optimal ernährt wurden.“

Infolgedessen litten die Tiere unter degenerativen Gelenkschäden; Krankheiten und Parasiten konnten sich ausbreiten, es kam zu Aborten und zu erhöhter Jungtiersterblichkeit – die Herde schrumpfte. Wahrscheinlich war es daher unumgänglich, neue Jungtiere aus der freien Wildbahn einzufangen. Wie einige Jahrhunderte jüngere Funde zeigen, lernte man in Sachen Haltungsbedingungen dazu: Für Arten mit starkem natürlichem Bewegungsdrang wie Schafe oder Ziegen setzte sich allmählich die weiträumige Weidehaltung durch.

Insgesamt dauerte es lange, bis Nutztiere im heutigen Sinne entstanden. „Auf jeden Fall brauchte es viele Tier- und Menschengenerationen bis Nutz- und Wildtierpopulationen voneinander abgeschottet waren – Domestikation ist also ein Prozess, der Hunderte von Jahren gedauert haben dürfte“, so Joris Peters. “Und dieser Prozess begann aus Opportunitätserwägungen heraus, aber nicht mit dem klaren Ziel, aus Wildschweinen Hausschweine zu züchten.“

Schädelknochen eines Vogels

© Oliver Jung / LMU

Grabsteine für Hunde, von traurigen Besitzern mit Gedichten versehen

Ein spezieller Fall ist die Wildkatze, denn sie wurde als effektive Nagetierjägerin geschätzt – lebte aber lange nur neben dem Menschen her. „Warum sollte man auch ein Tier domestizieren, das seine Aufgabe erfüllt – und das ohne, dass man sich darum kümmern muss?“ So entstand die Hauskatze erst spät, die Züchtung als Haustier mit vielen verschiedenen Rassen ist ein Phänomen der Moderne. Dennoch standen Nützlichkeitserwägungen in der Domestikationsgeschichte nicht immer an erster Stelle: Hühner wurden außerhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebiets zum Beispiel zunächst nicht gegessen, sondern wegen des prächtigen Gefieders und des Hahnenschreis als „Vogel des Lichts“ verehrt und nach dem Tod bestattet.

Auch Grabsteine für Hunde aus römischer Zeit – von den tieftraurigen Besitzern mit Gedichten versehen – zeugen von einer besonderen Mensch-Tier-Beziehung, die von mehr als wirtschaftlichen Überlegungen geprägt war und vermutlich eine sehr lange Geschichte hat. „Emotionale Bande sind in der Vor- und Frühgeschichte relativ schwierig aus dem archäologischen Fundkontext und ohne schriftliche Zeugnisse zu erschließen“, sagt Peters. „Es gibt aber Hinweise – etwa Skelette bestatteter, sehr alter Individuen, die längst nicht mehr nutzbar und fruchtbar waren.“ Wenn das eigene Überleben abhängig sei von Tieren, verwische aber oft die Grenze zwischen Nützlichkeitserwägungen und emotionaler Bedeutung, verbunden mit täglicher Fürsorge und medizinischer Betreuung.

Angewiesen sind unsere Nutztiere auf diese Fürsorge nicht unbedingt, wie verwilderte Populationen von Pferden, Schweinen, Hunden oder Hühnern zeigen. „Das kommt darauf an, wie stark der Mensch in einer Zuchtlinie Eigenschaften selektiert hat, die das Überleben in freier Wildbahn erschweren“, sagt Joris Peters. „Aber zu allen Zeiten sind Haustiere entwischt und haben sich oft wieder in der freien Wildbahn etablieren können.“ Häufig entwickeln sich dann wieder Ähnlichkeiten mit den wilden Verwandten – eben das, was beim Überleben in der Freiheit hilft.

Text: Nicole Lamers

Prof. Joris Peters | © Oliver Jung / LMU

Prof. Dr. Joris Peters
ist Inhaber des Lehrstuhls für Paläoanatomie, Domestikationsforschung und Geschichte der Tiermedizin an der LMU und Direktor der Staatssammlung für Paläoanatomie München. Peters, Jahrgang 1958, belgischer Zoologe, wurde im Jahr 2000 zum Professor an der Tierärztlichen Fakultät ernannt, initiierte später dort die interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft ArchaeoBioCenter. Seit dem 1. Januar 2022 ist er zudem Generaldirektor bei den Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayern (SNSB).

Lesen Sie weitere Beiträge aus der aktuellen Ausgabe von „EINSICHTEN. Das Forschungsmagazin“ im Online-Bereich und stöbern im Heftarchiv.
Oder abonnieren Sie EINSICHTEN kostenlos und verpassen keine Ausgabe mehr.

Wonach suchen Sie?