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Mikroalge Stylodinium – ein geheimnisvoller Unbekannter aus dem Moor

02.12.2021

LMU-Biologe Marc Gottschling untersucht die Panzergeißler seit Langem. Einer ihrer bemerkenswertesten Vertreter wird jetzt zur Alge des Jahres 2022 gewählt.

Lebendbild eines Stylodinium aus den Seeoner Torfstichen. © Corinna Romeikat

Auch wenn man die ungeheure Vielfalt der Arten in Rechnung stellt, dürfte dieser gestielte Panzergeißler – eine Organismengruppe, an der der LMU-Biologe Marc Gottschling seit Längerem forscht – eine Besonderheit sein: Die einzellige Alge Stylodinium lebt meist als Aufsitzeralge (Epiphyt) und siedelt dann auf vielzelligen Algen. Dafür hat sie einen eigentümlichen Mechanismus ausgebildet, um an den Trägerorganismus anzukoppeln. Sie sondert eine Art Klebstoff ab, mit dem sie auf der Oberfläche des Trägers anhaftet. Durch eine anschließende Rückwärtsbewegung bildet sich ein kleiner, starrer Stiel aus – Stylodinium wird so zur „Aufsitzeralge“. Trotz dieser ungewöhnlichen Lebensweise ist wissenschaftlich bislang äußerst wenig über diese Organismen bekannt. Dabei kann man sie auch vor der Haustür finden, in Moorseen Oberbayerns oder anderen Regionen Deutschlands. Um den Forschungsbedarf auch an solch ungewöhnlichen Algen hervorzuheben, haben Algenforscherinnen und Algenforscher in der Deutschen Botanischen Gesellschaft Stylodinium zur Alge des Jahres 2022 gewählt.

Die Vielfalt der Panzergeißler

Stylodinium gehört zu den sogenannten Panzergeißlern oder Dinophyta. Gottschlings Team erforscht diese Einzeller und ihre besonderen Charakteristika seit Jahren in enger Kooperation mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) Bremerhaven. Aus dieser Zusammenarbeit ist auch der Vorschlag hervorgegangen, Stylodinium als Alge des Jahres 2022 zu nominieren. „Viele Panzergeißler zeichnen sich dadurch aus, dass die Zellwand aus einem spezifischen Muster von Zelluloseplatten aufgebaut ist“, sagt Algenforscher Urban Tillmann vom AWI Bremerhaven. Das Plattenmuster von Stylodinium, das zur genauen Charakterisierung dienen könnte, ist bislang allerdings nicht verlässlich gezeigt worden.

Bei der im Wasser frei umherschweifenden Form ist die Zelle der Panzergeißler in eine Oberschale und eine Unterschale gegliedert. Die beiden Hälften sind in der Mitte durch eine gürtelartige Furche getrennt, in der eine der beiden Geißeln (auch Flagellen genannt) verläuft. Diese Quergeißel ist ein Steuerungsorgan, das der Orientierung im Raum dient. Eine zweite Geißel ermöglicht der Zelle den Schub und das Fortkommen im Wasser.

Neben der im Plankton anzutreffenden, freilebenden Form bilden viele Arten von Panzergeißlern auch unbewegliche Zellen ohne Geißeln aus. Diese können sich in ihrer Gestalt deutlich von den beweglichen Zellen unterscheiden. Häufig dienen die unbeweglichen Zellen der Überdauerung ungünstiger Umweltverhältnisse, wie es die Wintermonate in Mittel- und Nordeuropa sind. Auch Stylodinium zeigt diese Zweigestaltigkeit: Die unbewegliche Phase ohne Geißeln scheint zwar zu dominieren, daneben wurden aber selten auch bewegliche Zellen mit Geißeln beobachtet. Die genaue Funktion der unbeweglichen Zellen von Stylodinium ist noch unbekannt. Der Überdauerung dienen sie aber wohl nicht, da sie auch im Sommer gebildet werden.

Bedrohung der Moore als Lebensraum von Stylodinium

Das Kieshofer Moor, die Typuslokalität der Alge des Jahres. | © Hans Joosten

Die Besonderheit von Mooren als Lebensraum spiegelt sich in der Ungewöhnlichkeit der dortigen Lebensgemeinschaften wider. In der überwiegenden Mehrzahl sind Panzergeißler bewegliche Organismen. Allerdings gibt es eine Gruppe von Panzergeißlern, die Phytodiniales, bei denen die unbewegliche Phase der Entwicklung dominiert und die bevorzugt in Mooren anzutreffen sind. Auch Stylodinium gehört zu den Phytodiniales, und seine Lebensweise als Aufsitzeralge mittels eines Stiels sucht im Mikrokosmos ihresgleichen. Diese ungewöhnliche Ökologie ist vergleichbar mit vielzelligen Aufsitzerpflanzen wie Orchideen und Bromelien, die im tropischen Regenwald Bäume als Trägerorganismus verwenden. Dass Stylodinium zeitweise parasitisch lebt, es sich also von einer Trägeralge auch ernährt, ist denkbar, aber derzeit noch unerforscht.

Das norddeutsche Tiefland, daran erinnern die Forscher aus München und Bremerhaven, war eine der moorreichsten Gegenden der Erde, und ihr Erhalt als effektiver CO2-Speicher spielt eine entscheidende Rolle bei den Maßnahmen zum Klima- und Artenschutz. Vor allem die Entwässerungen der vergangenen Jahrhunderte und Jahrzehnte haben zu einem starken Rückgang dieser Lebensräume geführt, die ursprünglich eine einzigartige Biodiversität beheimateten. So könne die eigenartige Aufsitzeralge Stylodinium durchaus „als Ikone des Mikrokosmos für das Artensterben durch Lebensraumzerstörung dienen“, sagt LMU-Forscher Gottschling.

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