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Normen, Werte, Wandel: Historische Perspektiven auf gesellschaftliche Aushandlungsprozesse

19.12.2025

Historikerin Veronika Settele untersucht kulturelle und moralische Wandlungsprozesse der Moderne – am Beispiel von Massentierhaltung und Sexualität.

Vor allem konservative Politiker in der EU möchten nicht länger, dass vegane oder vegetarische Lebensmittel wie Fleischprodukte heißen: Burger, Wurst, Schnitzel und Co. sollen nur noch für wirkliche Fleischwaren erlaubt sein. Die Befürchtung: Die Nachfrage nach vegetarischen und veganen Alternativen schade Landwirtschaft und Fleischindustrie. Dabei galt in den 1950er- und 1960er-Jahren die aufstrebende Fleischindustrie samt Massentierhaltung als ein Segen: Vorbei die Zeiten schwerer und schlecht bezahlter Arbeit auf den Bauernhöfen und vorbei die Zeiten, in denen nur sonntags ein Braten auf den Tisch kam. Jetzt konnte man auch mehrmals die Woche Fleisch essen, ohne die Mark mehrmals umzudrehen.

„Gewordenheit der Realitäten“ im Blick

Die Geschichte von Massentierhaltung und Fleischproduktion ist eine kurze und in der Historiographie bislang kaum gewürdigte.
Professorin Veronika Settele hat diese Lücke mit zwei Büchern, Revolution im Stall: Landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland 1945–1990 und Deutsche Fleischarbeit. Geschichte der Massentierhaltung von den Anfängen bis heute, geschlossen. In ihrer Dissertation, die sie an der FU Berlin verfasst hat, zeigt sich schon ihr Forschungsansatz, der sie auch von ihrem ursprünglichen Studium der Politikwissenschaft zur Geschichte brachte: „Mich interessiert die Gewordenheit der Realitäten, nicht nur ihre Gegenwärtigkeit“, sagt die Historikerin, die auch in Österreich, Frankreich und den USA studiert und geforscht hat.

Ihr wissenschaftlicher Ansatz verbindet Politik-, Wissens- und Sozialgeschichte. Für ihre Dissertation arbeitete sie klassisch mit Akten der Landwirtschaftsministerien, ergänzte Verbandsquellen und wertete agrar- und veterinärwissenschaftliche Fachliteratur aus.

Professorin Veronika Settele mit Brille und Blazer vor einem Treppenaufgang in einem hellen Innenraum.

Prof. Dr. Veronika Settele

© LMU/LC Productions

Deutsch-deutscher Blick in der Agrargeschichte

Bei der Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex untersuchte die Historikerin die Tierhaltung in Bundesrepublik und DDR. Den methodischen Gewinn einer gesamtdeutschen Perspektive fasst sie so: „Ich benenne Gemeinsamkeiten, markiere Unterschiede, allerdings ohne Westdeutschland stillschweigend zur Norm zu machen.“ Gerade in der Agrargeschichte der DDR zeigten sich trotz unterschiedlicher Systeme „überraschende Parallelen“ zur Bundesrepublik, was etwa vertikale Integration, Mechanisierung und Kostenrechnung der Produktion betraf.

Der Wandel der Massentierhaltung gleichsam vom Segen zum Fluch in beiden Teilen Deutschlands ist einer der moralisch-ethischen Umwälzungsprozesse in der neuesten Geschichte, die die Historikerin sehr interessieren. Diese Prozesse und ihre Verhandlung im 19. und 20. Jahrhundert sind denn auch die Klammer ihrer Forschungsthemen, darunter Arbeitsmigration, Massentierhaltung und nun Religion und Sexualität.

Religionsgeschichte der Sexualität

Ihr neues Großprojekt verlagert den Fokus – die Klammer bleibt. „Ich arbeite an einer Geschichte der Sexualität in Deutschland und Frankreich. Im Fokus steht die Frage, warum und wie christliche Akteure, Kleriker wie Laien, Vorstellungen legitimen Sexualverhaltens auch in längst säkularen Staaten prägten.“ Der Begriff „Sexualität“ selbst kam im 19. Jahrhundert über zunächst die Botanik und, seit den 1860er-Jahren, die Psychiatrie auf.

Settele interessiert, wie christliche Positionierung politisch wirkte, zum Beispiel: „Warum verwies das Bundesverfassungsgericht 1957 in seiner Entscheidung zum Fortbestand von §175 auf Werte der christlichen Konfessionen?“

Vom seelsorgerlichen Gespräch bis zur Exkommunikation

Besonders kirchliche Archive bieten einen umfangreichen Quellenfundus. „Die Kirche blieb erste Anlaufstelle für persönliche, sexuelle Fragen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.“ Fragen legitimen Sexualverhaltens waren in Beichte, Seelsorge und Ehevorbereitung omnipräsent.

Im Archiv des Erzbistums München und Freising dokumentieren Akten zu mehrfachen ledigen Müttern etwa ein Sanktionssystem im 19. Jahrhundert, das vom seelsorgerlichen Gespräch, der öffentlichen Beschämung im Gottesdienst bis zur Exkommunikation reichte.

Settele ist zurückhaltend, was eine lineare Liberalisierungserwartung individuellen Sexualverhaltens anbelangt. „Ich sehe keinen automatischen Einflussverlust religiöser Sexuallehren, insbesondere nicht, wenn man die Perspektive geographisch weitet. Evangelikale Bewegungen und rechtskatholische Konvertiten in den USA etwa zeigen, wie Regression organisiert werden kann.“ Auch für die Bundesrepublik konstatiert sie, dass sexuelle Normen das Ergebnis „beständiger Aushandlungsprozesse“ blieben. Das mache den Gegenstand historisch spannend und in der politischen Gegenwart bedeutsam.

Forschungsnähe in der Lehre

Nach eigenem Bekunden war der Wechsel an die LMU für sie „ein Jackpot“. „Die thematische Breite Professur für Neueste Geschichte passt ideal zu meinen Interessen.“ In der Lehre setzt sie auf Forschungsnähe: „Ich gehe mit Masterstudierenden ins Archiv, wo wir zum Beispiel im Kontext des Sexualitätsthemas mit bischöflichen Unsittlichkeitsakten arbeiten.“ Zugleich sind internationale Perspektiven für sie selbstverständlich: Mein aktuelles Seminar „Racial Capitalism in US History“ zeigt Studierenden, „wo die Forschung gerade besonders spannend ist“ – auch wenn ihre eigene Empirie auf Europa fokussiert.

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