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Physik lebender Systeme: Geometrie statt Simulation

20.11.2020

LMU-Physiker haben eine neue Methode entwickelt, mit der die Musterbildung in biologischen Systemen durch mathematische Berechnungen systematisch erfasst werden kann. Entscheidend sind dabei geometrische Konstruktionen.

Kollektiven Bewegung von Vogelschwärmen.

Viele essenzielle Prozesse des Lebens beruhen auf der Bildung sich selbst organisierender biologischer Muster. In Zellen etwa reguliert die räumliche Verteilung von Proteinen Zellteilung, Bewegung und Wachstum. Wie bei der kollektiven Bewegung von Vogelschwärmen entstehen die Muster durch die konzertierte Interaktion vieler individueller Teilchen, ohne dass es einen zentralen „Dirigenten“ gibt. Um mathematische Modelle für die Bildung von Proteinmustern zu untersuchen waren bisher aufwendige Computersimulationen notwendig. LMU-Physiker um Professor Erwin Frey haben nun eine Methode entwickelt, die den Prozess der Musterbildung systematisch mathematisch erfasst und die zugrundeliegenden physikalischen Prinzipien aufdeckt. Über ihre neue Methode berichten die Wissenschaftler im Fachmagazin Physical Review X.

Die Wissenschaftler haben sich in ihrer Arbeit mit sogenannten masseerhaltenden Systemen befasst, bei denen die Interaktionen zwischen den beteiligten Teilchen nur deren Zustand ändern, nicht aber die Gesamtzahl der Teilchen im System. Ein Beispiel sind Systeme, in denen Proteine zwischen verschiedenen Konformationen wechseln, etwa durch das Binden an eine Zellmembran oder durch die Bildung von Komplexen. Die Dynamik der Musterbildung in solch komplexen Systemen wie der Zelle konnte bisher nur anhand numerischer Simulationen erfasst werden. „Jetzt können wir die Musterbildung unabhängig von Simulationen durch einfache Berechnungen und geometrische Konstruktionen verstehen“, sagt Fridtjof Brauns, der Erstautor der Arbeit. „Damit baut die Theorie, die wir in unserer Arbeit vorstellen, eine Brücke zwischen den mathematischen Modellen und dem kollektiven Verhalten.“

Schlüsselerkenntnis der Wissenschaftler ist, dass Änderungen der lokalen Anzahl der Teilchen lokale reaktive Gleichgewichte verschieben. Dadurch entsteht ein Konzentrationsgradient, der die diffusive Bewegung der Teilchen antreibt. Dieses dynamische Wechselspiel erfassen die Wissenschaftler mithilfe geometrischer Objekte. Die kollektiven Eigenschaften des Systems lassen sich dann direkt aus den Relationen zwischen diesen geometrischen Objekten ableiten. Dabei haben die Objekte konkrete physikalische Bedeutungen und repräsentieren zum Beispiel Reaktionsgleichgewichte. „Deshalb erlaubt unsere geometrische Beschreibung, auch das Warum der Musterbildung zu verstehen; also die physikalischen Mechanismen, die das Zusammenspiel vieler Teilchen bestimmen“, sagt Frey. „Die grundlegenden Elemente unserer Theorie können für zahlreiche Systeme verallgemeinert werden und ebnen den Weg zu einem übergreifenden theoretischen Gerüst.“
Physical Review X 2020

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