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Projekt ArtEater: Computerkunst für alle

10.10.2023

Senioren und Menschen mit kognitiven Einschränkungen werden bei der Digitalisierung gerne vergessen. LMU-Kunstpädagogin Anja Mohr will ihre Kreativ-Software für diese Zielgruppen marktreif machen.

Was digitaler Pinsel und Farbe hergeben: Grundschüler testen das Programm ArtEater. | © Anja Mohr

Als Anja Mohr ihre Kreativ-Software von der 85-jährigen Nachbarin testen ließ, gefielen dieser die Sticker nicht, die das Programm anbot. „Sie vermisste Blumen und Vögel, um damit Grußkarten zu gestalten.“ Offenbar eine Generationenfrage – denn entwickelt hatte die LMU-Professorin ArtEater, eine Software zum Malen und Gestalten von Bildern, zunächst für Grundschulkinder. Und die konnten etwas mit den Stickern anfangen und mochten sie in Bilder einbauen. Die durchaus medienaffine Rentnerin dagegen hatte eher den Wunsch nach anderen Gestaltungselementen, wenn sie denn schon am Computer ihre ersten Illustrationen anfertigte.

„Kinder, Senioren, aber auch Menschen mit kognitiven Einschränkungen gehören zu den ‚vergessenen‘, wenig beachteten Zielgruppen der voranschreitenden Digitalisierung“, erklärt Anja Mohr, Professorin für Bildende Kunst und ihre Didaktik sowie Leiterin des Instituts für Kunstpädagogik an der LMU. Das will Mohr, die mit besonderem Interesse untersucht, wie sich analoge und digitale Kunst gegenseitig stimulieren können, mit ihren Projekten ändern. Die von ihr entwickelte Kreativ-Software „ArtEater“ für Kinder wird nun im Rahmen eines Förderprogramms des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) validiert und in bedarfsgerechte Anwendungsformate für eine breitere Zielgruppe weiterentwickelt. Und das heißt eben auch, potenzielle Nutzerinnen wie Mohrs Nachbarin im Blick zu haben.

Zu analogen und digitalen Kinderzeichnungen forschte Anja Mohr schon für ihre Magisterarbeit – und später auch in ihrer Dissertation. „Ein Aspekt war die kindliche Ausdrucksform des Sammelns: Ob das Steine im Wald oder Katzen-Bilder im Internet sind, macht gar keinen so großen Unterschied.“ Als das Bildbearbeitungsprogramm, mit dem sie damals arbeitete, überraschend vom Markt genommen wurde, kreierte sie im Rahmen ihres DFG-Forschungsprojekts eben ein eigenes: ArtEater. Kinder können damit selbst gestalten, aber auch externe Bilder sammeln und überarbeiten – und kreative Möglichkeiten erhalten, die mit Stift und Papier nicht möglich sind. „Es war das erste genuin kunstpädagogische Projekt, das die DFG förderte“, erinnert sich Mohr. Umgesetzt von Mitarbeitenden der Medieninformatik an der LMU und erprobt an Grundschulen, sei das browserbasierte, plattformunabhängige Programm „ein Zwischending aus dem supereinfachen Paint und dem viel zu komplexen Photoshop“.

Wolken in Perspektive

Dass es statt einer Ebene – wie bei Paint – viele nutzerorientierte Ebenen habe, sei „für die künstlerisch-experimentelle Arbeit fulminant – weil sich einzelne Elemente immer wieder anpacken und Schritte rückgängig machen lassen.“ Anja Mohr erinnert sich an ein Grundschulkind, das beim digitalen Malen die Wolken kleiner zog, weil sie ihm optisch zu nahe schienen und es eine größere Tiefe andeuten wollte. „Solche nachträglichen Änderungen gehen mit Wachsmalstiften nicht.“ Was Anja Mohr erstaunte: „Eigentlich geht man davon aus, dass Raum und Perspektive erst im Jugendlichen-Alter gestalterisch umgesetzt werden können.“ Die digitalen Werkzeuge könnten hier also einen „Quantensprung an neuen Lehr- und Lernmöglichkeiten“ eröffnen.

Um diese Vorteile auch älteren Menschen und solchen mit kognitiven Einschränkungen zu eröffnen, beschloss die Kunstpädagogin, ArtEater für diese breitere Zielgruppe zu validieren. Dafür konnte sie eine Förderung im Rahmen des Programms „VIP+ Technologische und gesellschaftliche Innovationspotenziale erschließen“ einwerben, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert wird. Ziel des mit 930.000 Euro geförderten Projekts „ArtEater im Livetest (AiLt)“ ist es, Mohrs bisherige Forschungsergebnisse innerhalb von drei Jahren mit einem fünfköpfigen Team auszuwerten – und die Software für bislang übersehene Zielgruppen auf den Markt zu bringen. Dass ihr Antrag, unterstützt vom Referat Transfer der LMU, Erfolg hatte, sei im Bereich der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften in dieser Höhe erstmalig an der Universität. In dem gerade angelaufenen Projekt besuchen die Forschenden Altenheime, Senioreneinrichtungen wie die „Digitale Hilfe München“, Förderschulen, Behindertenwerkstätten und Kunstateliers für geistig Behinderte, um eine größtmögliche Bandbreite an Fähigkeiten auch innerhalb der Zielgruppen zu berücksichtigen. So sind unter den Probanden mit kognitiver Einschränkung solche mit Verhaltensauffälligkeiten, Lernbehinderungen, sozialen oder etwa genetischen Störungen, unter den alten Menschen solche, die noch sehr fit sind, und andere, die motorische Defizite oder eine beginnende Demenz haben.

Prof. Anja Mohr

Lizensierung oder Ausgründung? „Beides ist aus der Kunstpädagogik und überhaupt den Geisteswissenschaften heraus außergewöhnlich“, sagt Anja Mohr. | © Stephan Schaar

Transferförderung vom Bundesforschungsministerium

Im Rahmen eines speziellen Unterrichtskonzepts arbeiten die Probandinnen und Probanden mit der Kreativ-Software und werden anschließend zu deren „Usability“ befragt: Was hat gefallen? Was nicht? Motiviert die Software zu weiteren Gestaltungen? Macht sie Spaß? „Wir wollen herausfinden, ob die ArtEater effektiv, effizient, interoperabel ist.“ Mit verschiedenen Versionen der Software soll das Programm den unterschiedlichen Zielgruppen angepasst werden. „Für Menschen mit Sehschwäche müssen vielleicht die Buttons größer und kontrastreicher gestaltet, für bestimmte Menschen mit kognitiver Einschränkung die Komplexität reduziert werden – weil zu viele Funktionen überfordernd oder ablenkend wirken können.“

Vom BMBF vorgeschrieben sind externe Mentorinnen und Mentoren, die das VIP+-Projekt aus ihrer Fachperspektive begleiten. Dafür konnte Anja Mohr die Unternehmensberaterin Silke Beaucamp und den Mathematiker und Softwareentwickler Dr. Ingo Dahn gewinnen. Falls die Validierung erfolgreich ist, strebt Kunstpädagogin Mohr eine Lizenzierung oder Ausgründung an. „Beides ist aus der Kunstpädagogik und überhaupt den Geisteswissenschaften heraus außergewöhnlich.“ Den Transfer ihrer Forschung in den Markt erleichtere wohl ihre starke Anwendungsorientierung mit der Software als konkretem Produkt. „Grundsätzlich aber – das ist vielen Geisteswissenschaftlern nicht bewusst – fördert das BMBF nicht nur Produkte, sondern auch Ansätze, Abläufe und Methoden.“

Ein anderer Aspekt, weshalb Anja Mohr den Transfer ihrer Forschung für vielversprechend hält, sei ihre Relevanz für vernachlässigte Zielgruppen. Nicht zuletzt die kleinen Schritte, sei es nun das Aufziehen von Wolken, das Setzen von Stickern oder das Speichern von Bildern, machten die neuen Nutzerinnen und Nutzer vertrauter mit dem Computer. Diese Medienkompetenz könne dazu beitragen, die „digitale Spaltung der Gesellschaft“ abzumildern.

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